piwik no script img

Andrey Gurkovs neues Buch über RusslandNichts wird mehr so sein wie früher

„Für Russland ist Europa der Feind“ heißt das neue Buch des Journalisten Andrey Gurkov. Es ist ein dringend benötigter Realitätscheck für naive Russlandversteher.

Selbst in der Freizeit geht’s um Krieg bei den Zu­schaue­r:in­nen einer Panzerparade in Moskau, darunter Sol­da­t:in­nen aus der Ukraine beim Heimaturlaub Foto: Nanna Heitmann/NYT/Redux/laif

Die Geografie könne man vergessen, meint der in Köln lebende russische Journalist Andrey Gurkov: „Russland gehört nicht mehr zu Europa – und will es auch nicht.“ Mit dieser klaren Absage an vorschnelle Hoffnungen auf eine Demokratisierung Russlands in absehbarer Zukunft, die viele hierzulande noch immer hegen, beginnt Gurkovs kürzlich erschienenes, überaus aufschlussreiches Buch „Für Russland ist Europa der Feind“. Es beschreibt Russlands Abkehr von der europäischen Idee und das Erstarken totgeglaubter Großmachtfantasien – sowohl im Kreml als auch in weiten Teilen der russischen Gesellschaft.

Gurkov macht unmissverständlich klar: Es ist nicht nur Putins Krieg, der gegen die Ukrai­ne geführt wird. Die russische Gesellschaft trägt ihn weitgehend mit. Hinter dieser Haltung verbirgt sich eine hasserfüllte, von Widersprüchen durchsetzte Ideologie. Europa ist ein als beliebtes Shoppingparadies wahrgenommenes Reiseziel und zugleich „Gayropa“, wie es in Russland abschätzig heißt. Russland wiederum ist das größte Land der Welt, aber vielerorts nur dünn besiedelt, die Infrastruktur ist schlecht ausgebaut und marode. Und dennoch strebt man nach immer mehr Territorien.

Der Autor gibt zu: Viel lieber hätte er ein ganz anderes Buch geschrieben. Denn lange Zeit verstand er sich als Brückenbauer zwischen seiner Heimat Russland und seiner zweiten Heimat Deutschland. 1959 in Moskau geboren, in Ostberlin, Bonn und Moskau als Sohn eines sowjetischen Korrespondenten aufgewachsen, studierte er Journalistik und arbeitete später für verschiedene deutsche und russische Medien.

Als das Sowjetimperium bröckelte, als Gorbatschow vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach, sei auch bei ihm die Hoffnung auf ein freies Russland noch groß gewesen, schreibt Gurkov. Doch Putin machte wenige Jahrzehnte später diese Vision zunichte. Die Familientradition des Brückenbaus könne und wolle der Autor nicht mehr fortführen. Schon 2014, als Russland Teile der Ukraine besetzte, seien ihm erhebliche Zweifel gekommen.

Ein demokratisches Russland?

Mit dem Überfall auf das ganze Land am 24. Februar 2022 wurde für ihn daraus Gewissheit. Ein demokratisches Russland? „Es hat nicht funktioniert, wir haben verloren.“ Das müsse man sich endlich eingestehen, schreibt Gurkov. Statt sich um einen zum Scheitern verurteilten Dialog mit dem Kreml zu bemühen, gelte es, Europa – zu dem ausdrücklich auch die Ukraine gehört – zu stärken und vor russischen Angriffen zu schützen.

Gurkov ist Russe und Europäer, er kennt beide Welten. Sein Buch ist ein kluger, tiefgründiger Beitrag zur Frage, wie Russland auf Europa blickt – und vice versa. Seine zeitgeschichtlichen Einschätzungen ergänzt er durch instruktive historische Exkurse. Denn die Frage, ob Russland zu Europa gehört oder einen „eigenen, slawischen Weg“ einschlagen sollte, zieht sich wie ein roter Faden durch die russische Geistesgeschichte. Zar Peter der Große wollte das Land mit seinen Reformen Anfang des 18. Jahrhunderts europäisieren, er stieß „ein Fenster nach Europa auf“, wie der Nationaldichter Puschkin es formulierte.

Der Philosoph Pjotr Tschaadajew beklagte die Rückständigkeit Russlands trotz dieser Bemühungen und initiierte den im Grunde bis heute andauernden Disput zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“. In seinem Ersten Philosophischen Brief, in russischer Fassung im Jahr 1836 erschienen, ließ er seinem Frust freien Lauf – in Russland gab es zu dieser Zeit nach wie vor Leibeigenschaft und strikte Zensur. Entsprechend ließ Zar Nikolaus I. den Philosophen für verrückt erklären und mit Hausarrest bestrafen.

„Orthodoxie, Autokratie und Nationalität“ lautete damals die Doktrin des Zaren – sie würde knapp 200 Jahre später wieder zu Putin passen, der Russland per Dekret als „Staat mit eigenständiger Zivilisation, als umfassende eurasisch-pazifische Großmacht“ festschreiben ließ und gerne von der „russischen Welt“ schwadroniert. Kurzum: In Russland herrscht aktuell eine aktualisierte Variante der „Slawophilie“ vor.

Anna Netrebko mit Neurussland-Flagge

Daran anknüpfend thematisiert Gurkov auch die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche und der russischen Kultur im Krieg. „Welche Mitschuld tragen Puschkin und Dostojewski?“, heißt eines der Kapitel. In einem anderen widmet er sich der Frage, ob Anna Netrebko zu Auftritten in deutschen Opernhäusern eingeladen werden sollte.

Während er es für den falschen Weg hält, russische Klassiker einfach nachträglich zu canceln und stattdessen eine kritische Lektüre als geeigneten Umgang empfiehlt, ist sein Urteil bezüglich Netrebko ein hartes. Er verweist auf ihre öffentlichkeitswirksamen chauvinistischen Auftritte in der Vergangenheit und ihre halbherzigen Entschuldigungen dafür nach Beginn der Großinvasion: Sie posierte Ende 2014 mit einer Neurussland-Flagge, dem Symbol der russischen Besatzung der östlichen Ukraine, und spendete einen beträchtlichen Betrag an das Opernhaus in der von Russland besetzten Stadt Donezk. Offensichtlich handelt es sich hier um mehr als bloße Kontaktschuld.

Das Buch

Andrey Gurkov: „Für Russland ist Europa der Feind. Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 320 Seiten, 24 Euro

Gurkovs Schlussfolgerungen sind ernüchternd. Der Putinismus werde nicht mit Putin enden. Kaum jemand in Russland habe ein Interesse daran, Fehler einzugestehen – mit Ausnahme einer Minderheit oppositionell eingestellter Menschen. Die Zuversicht vieler Deutscher in Bezug auf eine demokratische Wende in Russland hält Gurkov für naiv. Sie speise sich aus der eigenen Erfahrung mit der Friedlichen Revolution von 1989. Es habe sich aber um einen historischen Glücksfall gehandelt. Friedliche Proteste in Diktaturen seien in jüngster Zeit immer wieder gescheitert – in Hongkong, Belarus, im Iran.

Außerdem sei Russland nicht Belarus. Die russische Zivilgesellschaft sei schwächer, die Menschen vor allem an Konsum statt an Werten interessiert. Die Mentalität sei geprägt vom imperialen Narrativ, man sei das größte und deshalb beste Land der Welt, mit den entsprechenden Befugnissen.

Die deutsche Sehnsucht nach einer heilen Welt

Die Lektüre des Buches bietet einen dringend benötigten Reality Check: „Ich spüre in Deutschland eine Sehnsucht nach einer heilen Welt in den Beziehungen zu Russland, ein Verlangen, es möge doch bitte wieder so werden wie früher. Aber machen wir uns keine Illusionen: Nichts wird mehr so sein wie früher.“

Natürlich ist Krieg schlecht, die diplomatische Lösung immer erstrebenswerter als die militärische. Aber wenn ein aggressiver Staat, dem Menschenleben nichts wert sind, sein Nachbarland überfällt und den Zerfall der EU herbeisehnt, muss man sich wehrhaft zeigen. Ohne glaubwürdige Abschreckung macht man eine Ausweitung des jetzigen Krieges auf weitere Länder wahrscheinlicher.

Diese Position, die einschlägige Ex­per­t:in­nen vertreten, nimmt auch Gurkov ein und warnt eindringlich vor den besserwisserischen, naiven Russ­land­ver­ste­he­r:in­nen hierzulande, deren größtes Problem sei, dass sie oft gar kein Russisch verstehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare