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Anbrechender WahlkampfEine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!

Unserer Kolumnistin fällt es schwer, in den Wahlkampf-Wahrnehmungsmodus zu kommen. Hier versucht sie es trotzdem.

Die Reichstagskuppel mit Besuchern und Besucherinnen im Abendlicht Foto: imageBROKER/imago

V ielleicht haben PolitikerInnen und JournalistInnen eine Art innere Legislaturperiodenuhr. Sie wird nach jeder Wahl frisch aufgezogen und schnurrt dann vier Jahre lang herunter – oder vielmehr drei Jahre und ungefähr acht Monate. Nach dieser Zeit stellt sich das Betriebssystem um, schaltet auf Wahlkampf und findet alles, was dann passiert, vollkommen normal.

Meine innere Legislaturperiodenuhr jedenfalls ist durch das Vorziehen der Bundestagswahl komplett aus dem Takt. Ich komme schlicht nicht im richtigen Wahlkampf-Wahrnehmungsmodus an. Es will mir nicht gelingen, ausreichend ernst zu nehmen, was Olaf Scholz, Friedrich Merz, Christian Lindner, Robert Habeck und die hinter ihnen versammelten WahlkämpferInnen reden (die anderen Spitzenkandidierenden unterschlage ich hier einmal, auch wenn sie Kanzlerkandidatin heißen).

Oder spielt deren innere Uhr ebenfalls verrückt, und sie finden einfach den richtigen Ton nicht? Wobei ich nicht einmal kritisieren möchte, dass Olaf Scholz am Montag im Bundestag Christian Lindner die „sittliche Reife“ zum Regieren abgesprochen hat. Darüber regten sich erstaunlich viele KommentatorInnen auf, dabei hatte der Mann recht. Den Begriff der sittlichen Reife, beziehungsweise deren Mangel, sollte man ohnehin viel häufiger verwenden, zum Beispiel in Bezug auf Markus Söder.

Womöglich sind es auch gar nicht die Aggression in der Debatte zur Vertrauensfrage und deren Nachwehen im Lauf der Woche, die mich so irritieren. Vielleicht bekommen SPD und CDU das ja noch hin, zum Beispiel, ihre unterschiedlichen Rentenpläne so zu beschreiben, dass man sich nicht ständig gegenseitig der Lüge bezichtigen muss.

Hier als kleiner Service ein vorsichtiger Formulierungsvorschlag: Die CDU will, dass die Renten weniger stark ansteigen, als die SPD es aber gern festlegen möchte. Nachdem die CDU jetzt im Wahlprogramm zu den Renten allerdings etwas ganz anderes behauptet, als sie noch vor einem Jahr im Grundsatzprogramm verkündet hat, weiß man sowieso nicht so recht.

wochentaz

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Der Zweifel an Umsetzung von Versprechen wächst

Wahrscheinlich aber ist es insgesamt weniger der Sound des Versprechens – „dies und das: nur mit uns!“, als vielmehr das Versprechen selbst, dem es an Überzeugungskraft mangelt. Zwar war die Fallhöhe zwischen Parteiforderung und absehbarer Umsetzungsmöglichkeit in einer künftigen Regierung immer schon hoch. Damit hat die mündige Wählerin irgendwann im Laufe ihres Lebens eine Art augenrollenden Frieden gemacht: Okay, die Partei, die ich gewählt habe, hatte halt nicht 100, sondern nur XY Prozent, dann kommt eben auch immer nur eine Maus heraus, wo ein Elefant verkündet wurde.

Doch gab es ja bis vor relativ kurzer Zeit immerhin politische Lager, mit denen sich gewisse Wahrscheinlichkeiten ergaben, dass Dinge klappten – sagen wir: ein Atomausstieg mit Rot-Grün. Schon die Großen Koalitionen haben da natürlich viele Erwartungen durchkreuzt, machten dies aber durch die Aura beruhigender Langeweile wieder wett.

Mit der Zerteilung des Parteiensystems und den neuen Notwendigkeiten, in wild anmutende Koalitionen einzusteigen, schwinden allerdings auch diese Formen von Berechnungsmöglichkeit. Der Zweifel an der Umsetzung wächst über den Wunsch hinaus, einer Kandidatin ihre Absicht erst einmal glauben zu können. Die Frage „Aber mit wem soll das denn bitte klappen?“ steht immer schon im Raum, bevor eine Forderung überhaupt ganz ausgesprochen ist.

Wahrscheinlich werden wir den Verlust an demokratischem Zutrauen durch eine Extraportion an demokratischem Optimismus kompensieren müssen.

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.
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9 Kommentare

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  • Ob die aktuelle Situation jetzt den großen Optimismus hergibt, würd ich mal außen vor lassen. Natürlich sind die Aussichten auf Merz und Co., auf eine knapp 20% AfD etc. nicht gerade rosig.



    Aber prinzipiell isses angebracht mal wieder weniger in der Jammerstockstarre zu verharren und alles durch die apokalyptische Miesepeterbrille zu betrachten. Aktuell hat man das Gefühl, dass die sich das halbe Land lieber darin ergeht, Untergangszenarien herbeizuschwadronieren, als nach vorn zu schauen und Probleme lösen zu wollen. Und wenns nur im Kleinen ist, Engagement kann sich lohnen. Letzte Woche war in meiner Stadt erst eine Bürgerinitiative gegen Kürzungen im Kinder- und Jugendbereich erfolgreich. Und ein linksalternatives Kulturprojekt hat kürzlich einen langfristigen Pachtvertrag bekommen, mit Stimmen aller demokratischen Fraktionen, sehr zum Ärger von AfD und Co. Das interessiert mich mehr, als ob jetzt Scholz oder Merz Kanzler ist.

  • Man könnte mal über die sittliche Reife sprechen im Oktober der EU zu schreiben man hat die Mindestlohnrichtlinie umgesetzt. Wohlgemerkt ohne die vorgeschlagenen 60 Prozent reinzuschreiben. Momentan sind wir unter 50 Prozent des Medianlohns. Und jetzt 15 Euro Mindestlohn zu fordern. Ich würde gerne ein Wort nutzen, welches wohl auf der blacklist ist. Umschrieben, etwas sagen zu einer Gruppe und sie dann von hinten von der Brücke zu stoßen. Sittlich reif war sicher auch mit subventionen die zu pampern die viel haben und Intel direkt sagen die 10 Milliarden bekommt ihr. Auch finde ich es nicht sittlich zahlen in den raum zu werfen, von denen man dann nichts gesagt haben will und einem Kinder so wichtig sind, dass man über Monate kein Konzept zustande bringt und trotzdem den ersten Listenplatz möchte.



    Ich kann verstehen das man sich hier bewusst an CDU /FDP und afd abarbeitet, aber viele Leser und Politiker dürften von SPD und Grüne sein. Man sollte sie in Verantwort nehmen und ihnen zeigen das man die Regierungszeit nicht vergessen hat. Was sie jetzt erzählen ist nicht das für was sie standen. Das Steuerfreie 1 Milliardengeschenk an Döpfner war erst durch die SPD möglich.

  • Wo soll denn der 'demokratische Optimismus' herkommen? Das Wahlen undemokratisch sind, wussten schon Rousseau und Montesquieu. Nur wenige Jahrzehnte später sprachen sich die Anführer des revolutionären Frankreich gegen die Demokratie und für Wahlen nach römischem und englischem Vorbild aus. Ihr erklärtes Ziel war es, die einfachen und zumeist ungebildeten Leute von den Postionen der republikanischen Macht fernzuhalten. Zwischen 'Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte' (1789), Ausrufung der 1. Französischen Republik 1792 und der Selbstkrönung Napoleons (1804) hat es nur knapp 15 Jahre gedauert, bis die elitäre Wahloligarchie die erste von vielen folgenden Autokratien hervorbrachte.

    Das 1. Grundprinzip der Demokratie ist die egalitäre Mitbestimmung, das 2. die solidarische Verantwortung für die Gemeinschaft und somit nahezu diametral zu den Idealen der liberalen Demokratie: individuelle Freiheit und Wettbewerb.

  • „Wahrscheinlich werden wir den Verlust an demokratischem Zutrauen durch eine Extraportion an demokratischem Optimismus kompensieren müssen.“

    Super! Da passt es ja prima, dass unsere Schulen auch nicht mehr sind, was sie mal waren. Wenn meine Enkelkinder keine Wahrscheinlichkeitsrechnung mehr lernen müssen, fällt es vielleicht wenigstens im Matheunterricht nicht auf, wenn sie alles mögliche glauben wollen, nur weil der Mensch zum Überleben Hoffnung braucht.

  • Wenn von Optimismus die Rede ist, ist vielleicht die Frage nach einer optimistischen Walprognose berechtigt. Wieviel Prozent erwarten Sie denn für die Grünen, die SPD, die AfSW?

  • "Doch gab es ja bis vor relativ kurzer Zeit immerhin politische Lager, mit denen sich gewisse Wahrscheinlichkeiten ergaben, dass Dinge klappten – sagen wir: ein Atomausstieg mit Rot-Grün."



    Das war ja schon ganz gut vorbereitet von der Physikerin im Kanzleramt.



    Aber was der Arzt im Ministeramt für Gesundheit hier mittrug, darauf hatten nicht alle gewettet.



    Eine Branche im "optimistischen Aufwind" nach oben:



    "Freispruch trotz Schmuggels im großen Stil



    Bei einem Prozess wegen Marihuana-Schmuggels im großen Stil in Baden-Württemberg hat die Neuregelung dazu geführt, dass der Angeklagte freigesprochen wurde. Denn der Mann war durch die Auswertung von Chats des Krypto-Messengerdienst Encrochat ins Visier der Ermittler gelangt. Nach Auffassung des Landgerichts Mannheim konnten diese Erkenntnisse im vorliegenden Fall aber nicht genutzt werden - weil Cannabis aufgrund des neuen Gesetzes nicht mehr als Betäubungsmittel gilt."



    Quelle:



    www.stuttgarter-ze...-95e0896a571e.html

  • Wer liest sich schon Wahlprogramme durch, ich vermute 99% der Wähler tun dies nicht. Da entscheidet das Bauchgefühl. Finanzierungslücken fallen auch niemanden auf, es sei denn, sie kommen von den Grünen.

    • @nutzer:

      "how long have you been free



      in this world of hate and greed

      is it black or is it white



      let's find another compromise

      and our future's standing still



      we're dancing in the



      spot



      light

      where's the leader who leads me

      i'm still waiting



      leaving home...

      and god is on your side,



      dividing sparrows from the nightingales

      watching all the time



      dividing water from the burning fire

      inside."



      -- Heppner et al. (1991)

      Dividing bluejays from the mockingbirds.

      "Und du rufst in die Welt



      dass sie dir nicht mehr gefällt,



      du willst 'ne schönere erleben.



      Doch es wird keine andere geben.

      Wann kommt die Flut



      über mich?



      Wann kommt die Flut,



      Die mich berührt?



      Wann kommt die Flut,



      Die mich mit fortnimmt



      In ein anderes großes Leben ...

      ... irgendwo."



      -- Witt & Heppner (1998)

      Politik ist kein Religionssurrogatextrakt, und es gibt keinen Grund so zu tun als ob.