piwik no script img

An der Corona-Hotline„Quarantäne dürfen wir nicht sagen“

Im normalen Leben ist Michèle Deodat Heilpraktikerin und Osteopathin. Jetzt redet sie am Corona-Telefon mit Menschen, die Sorgen haben.

Telefonseelsorge ist in Zeiten von Corona wichtiger denn je Foto: Patrick Pleul/dpa

Michèle Déodat, 60, ist Heilpraktikerin, Physiotherapeutin, Osteopathin und Künstlerin in Berlin. Eigentlich arbeitet sie in Steglitz-Zehlendorf in einer Schule mit Kindern mit Förderbedarf. Weil die jetzt aber zu ist, hört sie sich an der Corona-Hotline, die das Bezirksamt eingerichtet hat, an, welche Probleme die Menschen gerade umtreiben. Ein wenig davon gibt sie hier wieder:

„Vieles von dem, was ich jetzt jeden Tag am Telefon höre, worauf ich reagieren muss, wozu ich raten soll, nehme ich mit nach Hause. Das hätte ich, als ich vor ein paar Wochen anfing, für die sogenannte Corona-Hotline im Gesundheitsamt des Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf zu arbeiten, nicht gedacht.

Als Osteopathin und Heilpraktikerin bin ich vieles gewohnt, ich lerne die Sorgen, Nöte und Sehnsüchte der Menschen über ihre Körper kennen, wenn ich sie behandle. Aber die Existenzsorgen und die Schicksalsschläge, die viele Menschen aufgrund der Corona-Pandemie erleiden, stellen eine besondere Härte dar.

Da sind zum Beispiel die Feuerwehrmänner, die Einsätze fahren ohne jegliche Schutzausrüstung, also ohne Mundschutzmasken und ähnliches. Später erfuhren sie, dass die Personen, die sie gerettet haben, positiv auf Covid19 getestet worden sind. Oder die Mitarbeiterinnen einer Catering-Firma, die die Corona-Station eines Krankenhauses mit Essen versorgen und das benutzte Geschirr der Kranken wieder einsammeln. Die Caterinnen arbeiten ohne Handschuhe und Schutzmasken, die Klinik stellt ihnen so etwas nicht und sagt: Dafür ist die Klinik nicht zuständig, das muss die Catering-Firma selbst organisieren.

Da ist der junge schwerkranke Mann, der Blut spuckt, aber nicht zum Arzt gehen kann, weil sämtliche Praxen in seiner Umgebung geschlossen sind. Andere junge Menschen, die anrufen, sind gar nicht krankenversichert und trauen sich nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen. Sie sitzen mit Krankheitssymptomen verzweifelt zu Hause. Und die Frau, die mit der Pflege ihres dementen Mannes körperlich und seelisch überfordert ist. Früher hat ihr eine polnische Pflegerin geholfen, die darf jetzt nicht mehr kommen. Oder der Fall eines Kinderheims: Dort arbeiten zur Zeit zwei ErzieherInnen, das ist viel zu wenig für die mehr als ein Dutzend Kinder. Was, wenn sich dort jemand infiziert?

Und dann noch all die einsamen Frauen und Männer, die hier völlig verzweifelt anrufen, um mal mit jemandem sprechen zu können, weil sie niemanden, aber auch wirklich niemanden haben, mit dem sie das tun könnten. Sonst gehen sie wenigstens raus auf die Straße, aber das dürfen sie jetzt nicht. Oder die verzweifelte geschiedene Mutter, die in Auseinandersetzungen mit dem Vater ihrer Kinder verwickelt ist, der in München lebt und darauf besteht, dass seine Kinder die Hälfte der Ferien bei ihm verbringen.

Jede Woche rufen bei der Hotline etwa 700 Menschen an. Rund 400 verweisen wir weiter an Beratungsstellen, Frauenhäuser, Kinderschutzdienste, andere Hotlines. Manchen mit ganz normalen Erkältungskrankheiten sagen wir einfach auch nur: „Gehen Sie ins Bett, ruhen sich aus und trinken Sie einen Tee.“

Wir, das sind 25 Ergo- und PhysiotherapeutInnen und 6 LogopädInnen, die sonst im Bezirk in Inklusionsschulen und Förderzentren arbeiten. Wir sitzen täglich, auch an Feiertagen, im Frühdienst von 8 bis 13 Uhr am Telefon, die anderen im Spätdienst von 13 bis 18 Uhr. Aber wir sitzen weit voneinander entfernt, wir sind also weitgehend geschützt.

Bevor wir hier die Beratungen durchführen durften, haben wir eine kleine Schulung absolviert. Dort haben wir das nötigste erfahren: Wen verweist man wohin? Wie antwortet man auf welche Frage? In der täglichen Praxis ist das häufig frustrierend. Wenn beispielsweise eine Altenpflegeeinrichtung anruft und sagt: Wir haben zu wenig Personal. Dann können wir nur eine Adresse, eine Website, eine Telefonnummer einer Personalmanagementfirma weiter geben. Das heißt aber nicht, dass diese Firma dem Pflegeheim tatsächlich helfen kann. Das Wort Quarantäne dürfen wir nicht aussprechen, eine Quarantäne dürfen nur MedizinerInnen anordnen. Wir müssen uns behelfen mit Vokabeln wie Kontaktreduktion oder freiwillige Isolation und Rückzug, so was.

All diese Geschichten halte ich aus, und ja, mir geht es vergleichsweise gut. Aber es strengt wahnsinnig an. Wir haben zwar keine Supervision, aber ein tägliches Briefing nach jeder Schicht. Wichtig ist auch der tolle kollegiale Umgang miteinander. Ich mache den Job, weil er wichtig ist, aber geschaffen bin ich dafür nicht. Ich bin es gewohnt, mich zu bewegen, mit den Menschen direkten und körperlichen Kontakt zu haben. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Die Hoffnung auf ein Ende des „Ausnahmezustands“ dürfte sich nicht all zu bald erfüllen. Diejenigen, die grade die ganz großen Hebel bedienen, haben die negativen Begleiterscheinungen ihrer Anordnungen schließlich gar nicht „auf dem Schirm“. Sie können es sich einfach nicht leisten, all die tatsächlichen Dramen wahrzunehmen, die ihr Versuch, möglichst viele Infektionen zu verhindern, auslöst. Sie könnten niemals so entschlossen handeln, würden sie sich mit den Kollateralschäden konfrontieren (lassen) - und also auch niemals genügend Leute von der Richtigkeit ihres Tuns (und Unterlassens) überzeugen.

    Es ist wie Co. Mit dem Doping im Sport: Wer zweifelt, der hat schon verloren im Rattenrennen um die größte Macht. Wer unbedingt mehr Gutes tun will, als jeder andere Mensch seiner Ansicht nach tun könnte, darf sich um das, was er böses anrichtet dabei, einfach nicht scheren. Auch und gerade nicht in der „westlichen Demokratie“.