piwik no script img

Amnestie in der TürkeiNicht für Erdoğan-Gegner

Wegen der hohen Ansteckungsgefahr im Gefängnis will die Türkei bis zu 100.000 Häftlinge entlassen – ausgenommen sind politische Gefangene.

Blick aus einer Gefängniszelle in der türkischen Stadt Konya. Die Zelle teilen sich 13 Häftlinge Foto: Abdullah Coskun/AA/picture alliance

Istanbul taz | „Tausende Menschen sitzen hinter Gittern, nur weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung ausüben“, heißt es in einem Aufruf diverser türkischer und internationaler Organisationen, „jetzt sind sie auch noch einem beispiellosen Gesundheitsrisiko ausgesetzt.“ Sie sollten sofort freigelassen werden.

Tatsächlich hat die türkische Regierung am Dienstagabend einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der die Freilassung von knapp 100.000 von insgesamt 300.000 Gefangenen in den türkischen Gefängnissen vorsieht – als Konsequenz aus den immensen Gefahren, die die Covid-19-Seuche insbesondere unter den beengten und unhygienischen Verhältnissen in den Gefängnissen darstellt. Doch Menschen, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben und deshalb im Gefängnis sitzen, zählen nicht dazu.

Denn Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und selbst Personen, die lediglich einen regierungskritischen Tweet weitergeleitet haben, gelten in der Türkei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan als Terroristen oder sind wegen „Terrorpropaganda“ oder „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt. Viele sitzen deshalb teils seit Jahren in Untersuchungshaft.

„Das kommt einem Todesurteil für politische Gefangene gleich“, empört sich der Jurist und Rechtsanwalt Veysel Ok, der unter anderem dadurch bekannt geworden ist, dass er den deutschen Journalisten Deniz Yücel vertritt. „Man stelle sich einmal vor“, sagt Ok, „Diebe und Betrüger werden entlassen, doch jemand, der nur einen Tweet geteilt hat, soll im Gefängnis bleiben. Diese Leute werden dann mit einer Epidemie alleingelassen.“

Istanbul neuer Corona-Hotspot?

In der Türkei ist die Gesamtzahl der offiziell erfassten Todesopfer durch Covid-19 auf 214 gestiegen. Die offizielle Zahl der Infizierten lag am Dienstagabend bei 13.531 – 2.704 mehr als noch am Vortag. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Vor allem in Istanbul steigt die Infiziertenrate rasant, sodass Beobachter warnen, dass sich die Millionenmetropole zu einem Corona-Hotspot ähnlich wie Norditalien oder New York entwickeln könnte.

Der umstrittene Gesetzentwurf, den die regierende AKP nun gemeinsam mit der rechtsradikalen MHP ins Parlament eingebracht hat, sieht vor, dass Angehörige von Risikogruppen – also alle ab 65 Jahren oder kranke Gefangene – ihre Reststrafe im Hausarrest verbringen. Dazu kommen etliche Kleinkriminelle, die im offenen Vollzug sind, sowie Gefangene, deren Haftstrafe ohnehin bald endet. Ausgenommen sind Mörder, Sexualstraftäter, Gefangene, die Gewalt gegen Frauen verübt haben, und Drogenhändler sowie alle Gefangenen, die wegen Terrordelikten verurteilt sind oder wegen Vorwürfen des Terrors oder der Terrorpropaganda in U-Haft sitzen.

In dem Aufruf zur Freilassung der politischen Gefangenen, der unter anderem von Amnesty International, der Vereinigung europäischer Journalisten und verschiedenen Pen-Organisationen getragen wird, heißt es: „In der Türkei wird die Anti-Terror-Gesetzgebung häufig missbraucht und gegen Journalisten, oppositionelle Aktivisten, Anwälte, Menschenrechtsverteidiger und andere, die abweichende Meinungen äußern, angewandt.“

Das sei in vielen Prozessen nachgewiesen worden. Angesichts der Corona-Epidemie sei die Türkei verpflichtet, diesen Menschen ohne Diskriminierung Schutz vor einer Ansteckung zu gewähren. „Sie müssen deshalb sofort aus dem Gefängnis entlassen werden.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Ob Kleinkriminelle oder schlimmere Verbrecher entlassen werden ist Erdogan egal, sofern es nicht die sind, die vermeintlich ihn seiner Macht berauben könnten. Sollen doch einzelne Menschen der Bevölkerung ausgeraubt, betrogen und gar noch schlimmeres widerfahren, hauptsache niemand von seinen "Terroristen", so nennt er ja die Menschen die gegen ihn schreiben oder es auch nur weiterleiten und gutfinden, bleiben im Knast.



    Welch eine verquerte Wahrnehmung dieser Mann doch hat und wie groß seine Angst sein muss, vom Sessel gestossen zu werden.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Dass Kleinkriminelle, wie im Text beschrieben, zu denen gehören, die von Erdogans 'Großzügigkeit' in vorliegender causa profitieren, kann nicht wirklich verwundern. Die Übergänge zwischen dem 'Wohltäter' und den Empfängern sind ja fließend - wie Schmiergelder.

    Erdogan hätte mehrfach über seinen eigenen Schatten springen müssen, um jene zu amnestieren, die wegen des Schreibens eines AKP-kritischen Textes als 'Terroristen' in türkischen Knästen sitzen. Das kann von einem Menschen seiner Machart nicht erwartet werden.

    Worüber ich immer wieder staune: dass es heute so viele 'Terroristen' gibt. Was haben die denn früher so gemacht, als sie noch nicht so in Erscheinung getreten sind?