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Altersarmut von jüdischen MenschenDie Würde der Alten ist antastbar

Jüdische Kontingentsflüchtlinge sollten jüdisches Leben zurück nach Deutschland bringen. Doch Juden und Jüdinnen droht heute Altersarmut.

Die Würde des Menschen ist antastbar: Schlange vor einer Lebensmittelausgabe Foto: Frank Hoermann/imago

D ie Gegenwart ist trist. Nehmen wir an, da ist ein Mensch, der hat einiges in seinem Arbeitsleben geleistet: ein Jahrzehnt, zwei, drei, vielleicht vier. Er hat darauf gebaut, dass sich diese Leistung einmal auszahlt, doch am Ende seines Lebens kommt es anders als erwartet; da findet sich dieser Mensch in einer beengten Wohnung wieder, am Stadtrand zwischen Betonbauten, verarmt und fast vergessen.

Armut ist auch unsichtbar. Manchmal übersieht man ihr Ausmaß in der eigenen Familie oder man hat sich zu sehr an sie gewöhnt. Ich erschrak eines Tages, als ich erfuhr: Oma geht schon seit vielen Jahren zur Tafel.

Im Jahr 2021 waren in Deutschland knapp 17 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Das sind über 14 Millionen Menschen. Im Alter verschärft sich dieses Elend. Wer nicht genug in die Rentenkasse eingezahlt hat, ist später auf Grundsicherung angewiesen.

Wer Jude in diesem Land ist und alt, den trifft es besonders hart. Das mag vielleicht irritieren, da sich bis heute das antisemitische Stereotyp der reichen Juden hält. Aber ich kann Ihnen versichern: Reiche alte Juden gibt’s in Deutschland kaum.

93 Prozent sind auf Grundsicherung angewiesen

In den neunziger Jahren kam eine außergewöhnliche Migrationsbewegung in Gang, die bis heute von manch einem Politiker gern als das Aufblühen des jüdischen Lebens in Deutschland betrachtet wird, als ein Geschenk. Über 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre Familienangehörigen zogen aus der zerfallenen Sowjetunion in das Land der Täter.

Mehr als 93 Prozent dieser jüdischen Zugewanderten sind heute auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Der deutsche Staat hatte es verpasst, diese Menschen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Nur wer Glück hatte, konnte hier noch einige wenige Rentenpunkte erwerben.

Meist fanden sich diese Menschen in Tätigkeiten wieder, die weit unter ihren Qualifikationen lagen. Gut ausgebildete Lehrer, Ingenieurinnen, Ärzte wurden zu Hilfsarbeiter:innen. Deshalb und weil man ihre Arbeitsleistungen aus ihren Heimatländern nicht anerkennt, leben heute bis zu 70.000 jüdische Se­nio­r:in­nen unterhalb der relativen Armutsgrenze.

Wie viel ist dem Staat ein würdevolles Leben wert?

Lange war dieses Problem bekannt, genauso lang wurde es verschleppt, von einer Bundesregierung zur nächsten. Es wurden Zahlungen zugesagt, die dann nie kamen. Bis sich zuletzt, nach drei Jahrzehnten, Bund und Länder doch einigten: auf Einmalzahlungen aus einem Härtefallfonds.

Seit dem 17. Januar dürfen die Betroffenen nun schon Anträge ausfüllen, um pauschal 2.500 Euro zu bekommen. 5.000 Euro können es werden, wenn das Land, in dem die Antragsteller leben, sich an dem Fonds beteiligt. Bis spätestens Ende September müssen die Anträge eingereicht werden. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen: 2.500 Euro. So viel ist dem deutschen Staat ein würdevolles Leben wert.

Jahre der Würdelosigkeit sollen mit dieser Einmalzahlung wettgemacht werden. Der Schandfleck soll endlich verschwinden, das Versagen des deutschen Staates damit gleich mit. Als wäre nie etwas gewesen.

Die Würde alter Jüdinnen und Juden ist antastbar

Viele Betroffene, so auch mein Großvater, bekamen nie die Chance auf ein besseres Leben. Wie auch er starben viele, noch bevor sich die Politik geeinigt hat. Sie konnten nie einen Antrag ausfüllen.

Verantwortung ist ein großes Wort. Wer sich Menschen einlädt, sie nicht selten für das eigene Ansehen missbraucht, ihr Dasein als Beweis der deutschen Vergangenheitsbewältigung anführt, der trägt besondere Verantwortung.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich nehme das wörtlich. Über drei Jahrzehnte ist der deutsche Staat diesem Auftrag, diesem Versprechen nicht gerecht geworden. Die Würde alter Jüdinnen und Juden, so scheint mir, ist in Deutschland antastbar.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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6 Kommentare

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  • Die Würde vieler alter Menschen ist antastbar.



    Selbst wer eingezahlt hat, muss zur Tafel oder die Früchte



    seiner Arbeit im Abfalleimer suchen.

    Nur die Stastsdiener der oberen Klasse sind mit Pensionen sehr gut versorgt. Auch die Witwen und Witwer können sehr gut weiterleben.

    Die Roten und die Grünen haben nur das Rentenniveau der Nichtpensionäre gesenkt.

  • Schlimm. Aber ich fürchte, das hat nichts damit zu tun, dass es Jüdinnen und Juden sind. Generell werden Einwanderer /Asylanten bei uns schlecht aufgenommen. Ich kenne ausgebildete iranische Ärzte, die hier putzen müssen. Oder ausgebildete syrische Lehrerinnen, die hier nicht als Lehrerin arbeiten dürfen, weil die bürokratischen Anforderungen an sie größer sind, als die für "deutsche" LehrerInnen.



    Und die finden sich dann später auch eher in der Altersarmut wieder.

    • @Jalella:

      Soweit ich weiß fand der Genozid an Juden statt.

      Daher vielleicht was anderes?

  • Manche sagten genau dies schon in den 90-er Jahren, wörtlich: "Wir werden instrumentalisiert." Und, füge man hinzu, separiert: Die Deutschkurse, vielleicht auch das gut gemeint, aber schlecht gemacht, wurden aus anderen Töpfen bezahlt und in anderen organisatorischen Rahmen durchgeführt als die sämtlicher anderen Zuwanderer. Vielleicht wollte man da auf die andere Alterszusammensetzung dieser Zuwanderergruppe eingehen (aber querdurchsbeet jung bis alt waren schließlich auch andere: die "Spätaussiedler" aus Polen und (Post)Sowjetunion). So recht ernstgemeint war der Versuch wohl nie, hier ein tatsächliches Ankommen im Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Und die Jüngeren suchten sich ihre eigenen Wege, über Ausbildungsplätze, Stipendien zur Studienvorbereitung, ...

  • Integration ist ein Gemeinschaftsakt, da dürfen sich alle beteiligen. Dazu ist Geld nötig, aber auch Zeit, Gelassenheit (und gelassen werden, freigestellte Arbeitszeit, und wenn es zwei Stunden in der Woche sind), Herz, Gefühl und zuletzt auch Verstand.



    Die meisten Deutschen waren die letzten Jahrzehnte mit dem Nachzittern der deutschen Teilung und ihres Endes beschäftigt. Zugleich kamen/gingen andere, denen das Thema eigentlich am A* vorbeiging, aus dem Westen in den Ostteil, etliche von ihnen bestätigten als Raubritter lehrbuchmäßig das Bild der bösen Kapitalisten, sorgten für die Zunahme der Entfernung von demokratischen, von Anerkennung und Respekt geprägten Verhältnissen. (Die Quittung dafür kommt gerade bei den Wahlen.)



    Und diese Stimmung knallte exakt so auch auf die Kontingentflüchtlinge.

    Über allem stand eine "positive" Schaufensterpolitik die so lange wiederholt wurde, bis vielleicht ihre Erfinder selbst daran geglaubt haben. Fallenlassen auf der einen, Ausbeuten auf der anderen Seite ging nur zum Preis der Ignoranz. Die Mehrheit machte und macht Dienst nach Vorschrift und entdeckte zunehmend das Privatleben.

    Dass der Markt wie von Zauberhand ganz allein Gerechtigkeit schafft ist eine Marketinglüge, Propaganda, einmal mehr, das schwante immer mehr Menschen und ist heute eigentlich offensichtlich.

    Was wir stattdessen gebraucht hätten: Anerkennung der Lebensleistung der "Neubundesrepublikaner", Zeit für gegenseitiges Kennenlernen, Geschichtenerzählen, inneres Wachstum - und Zusammenwachsen. Dann hätte sich die Frage der "Integration" als soziales Konstrukt nicht mehr gestellt, dann hätten alle Chancen bekommen können.

    Die Zeiten liefen anders. 2500 oder 5000 Euro sind eine Ohrfeige.



    Und eine Partei legt gerade die nächste Schippe oben drauf, indem sie Kinder nicht aus der bittersten Armut rauszuholen bereit ist.

    Es ändert sich mal wieder: nichts. Damals wie heute, so viele verschenkte Impulse, Ideen, Träume, Pläne und Talente. Zum Heulen.

  • Danke - ausführlicher dieselbe: “Jüdische Kontingentflüchtlinge:Was wächst auf Beton?



    Die Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge galt als Erfolgsgeschichte. Heute ist die Minderheit in Vergessenheit geraten. Eine Familiengeschichte.



    Erica Zingher



    taz.de/Juedische-K...chtlinge/!5727852/



    &



    JOURNAL ARTICLE



    Wider die Ungleichbehandlung der Rückkehrer



    Volker Beck



    www.jstor.org/stable/26905181

    unterm——



    Die Akteure zu Kohl‘s Alleingang!



    Horst Waffenschmidt =>



    www.kas.de/de/web/...t-waffenschmidt-v1



    & Kontingentflüchtlinge -



    “…Ab 1991 hatten Juden aus der Sowjetunion und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus deren Nachfolgestaaten die Möglichkeit, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland einzureisen. Damit wurde die im Frühling 1990 in der DDR auf Initiative des Zentralen Runden Tisches geschaffene Einreisemöglichkeit für sowjetische Jüdinnen und Juden in bundesdeutsches Recht überführt.…



    Nach Angaben des Bundesverwaltungsamtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind zwischen 1991 und 2004 insgesamt 219.604 jüdische Zuwanderer nach Deutschland gekommen. Im Jahr 2004 wanderten 11.208 jüdische Zuwanderer zu, womit sich der abnehmende Trend weiter fortsetzte. Zum Vergleich: Im oben genannten Zeitraum sind rund 1,9 Millionen Spätaussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik eingewandert.…



    Jüdische Kontingentflüchtlinge waren bzw. sind mehrheitlich Akademiker. Im Vergleich zu Spätaussiedlern hatten sie keinen Rechtsanspruch auf eine Anerkennung von Qualifikationen und Nachteile bezüglich der Eingliederungshilfen, und ihre Berufsjahre im Ausland wurden nicht in der Rentenberechnung berücksichtigt …“



    de.wikipedia.org/w...entfl%C3%BCchtling



    &



    (ps Zum Neuen der Tochter meiner Cousine:



    “Du bist aber kein Jude - oder?“ “Nein. Hab ausreichend für den Rabbi gelernt!“



    “Wir selektieren nicht!“ Ignaz Bubis el classico • ;))