Alltag eines Landpfarrers: Der Wanderprediger
Sinkende Mitgliederzahlen, Landflucht, Säkularisierung: In Brandenburg baut die evangelische Kirche immer mehr Stellen ab. Was sind die Folgen?
Blumenthal ist ein Dorf in der brandenburgischen Ostprignitz. Es gehört zur Kirchengemeinde Jäglitz-Nadelbach. Christian Ruch ist ihr Pfarrer: ein Prignitzer, Baujahr 61, wie er sagt.
Ruch ist viel unterwegs. Um die 300 Kilometer legt er pro Woche zurück: Hausbesuche, Andacht im Altenheim, Gemeindekreise, Konfirmandenunterricht, Gottesdienste. Dazu ständig Beerdigungen, seltener Trauungen und Taufen. Jedes Dorf in der Prignitz hat eine eigene Kirche. Viele stammen aus dem 16. Jahrhundert, müssen saniert werden. Ruch trifft daher oft auch Architekten oder Denkmalpfleger.
Vor drei Jahren noch betreute er fünf Dörfer. Dann zog ein Kollege in die Stadt. Seine Stelle wurde nicht neu besetzt, Ruch musste die Dörfer übernehmen. Aus fünf wurden mit einem Mal elf. Die Folge: Es bleibt weniger Zeit für die Arbeit am Menschen, wie er sagt. Er sei froh, wenn er es noch zu allen runden Geburtstagen schaffe. Es ist, als würde einem mit jeder Pfarrstelle ein lahmes Pferd übergeben, das er die letzten Meter zum Gnadenhof reiten muss. Ruch bleiben noch zehn Jahre bis zum Ruhestand. Er glaubt nicht, dass seine Stelle nachbesetzt wird.
Durchschnittsalter: 47,9 Jahre
Der Abbau von Pfarrstellen geht Hand in Hand mit dem demografischen Wandel in der Region und der Säkularisierung. Bis 2060 könnten beide große Kirchen etwa die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren.
Heute, an einem Dienstagnachmittag, findet im Blumenthaler Luthersaal der Männerkreis statt. Aber es will sich kein richtiger Kreis ergeben. Herr Pölchen ist krank, Herr Kenzler hat einen Arzttermin. So geht es weiter. Eigentlich wären sie zu acht. Bleiben Herr Schmock und Herr Grabow. Beide in ihren Siebzigern. Lothar Schmock, ehemaliger Prolet und Maurer, wie er sagt, ist nach langer Krankheit seit eineinhalb Jahren zum ersten Mal wieder da.
Diethelm Grabow, einst sogenannter Zootechniker, hat seine Schlaganfallreihe schon etwas länger hinter sich. Im Gemeinderaum hat er den Kaffeetisch gedeckt und die Gesangsbücher verteilt. Ruch sagt, er meine das nicht böse, aber er fühle sich in seinen Dörfern manchmal wie in einem „freilebenden Seniorenheim“.
Das Durchschnittsalter hier liegt Ende 2017 bei 47,9 Jahren. 1991 lag es noch bei 36,9. „Tot, tot, tot, alles tot“, sagt Lothar Schmock.
„Ja, die hören zu“
Ein bisschen kommt eine Früher-war-alles-besser-Stimmung auf. Die Männer erzählen von den Festen, die sie feierten, von der Gemeinschaft. Ruch sagt, diese Nostalgie sei vor allem Ausdruck des Schmerzes über die weggezogenen Kinder und Enkelkinder. Die Leute fühlten sich einsam.
Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.
In Dortmund stehen Themen wie Migration, Feminismus, Klima und Umwelt im Mittelpunkt. Typische taz-Themen also.
Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Die taz Panter Stiftung hat dafür 9 junge JournalistInnen ins Ruhrgebiet geschickt.
Dann dreht sich das Gespräch beim Männerkreis, es geht um Politik. Bei der Europawahl hat hier die Partei der Abgehängten die CDU abgehängt: Die AfD erreichte im Wahlbezirk Heiligengrabe 21,9 Prozent, die CDU 21,5. Für ihn sei es wichtig, die Leute nicht in eine Schublade zu stecken, sondern ihnen zuzuhören, sagt Ruch. „Ob Parteien, Staat oder Kirche – die Verantwortlichen sind für die Basis da. Sie müssen sich auch mit den einfachen Leuten unterhalten.“
Die AfD schlage genau in diese Kerbe. Plötzlich meldet sich Lothar Schmock zu Wort, der zuvor still geworden war: „Ja, die hören zu!“ Ein wenig später wird er sagen, dass er auf den Bürgermeister der Gemeinde Heiligengrabe nichts kommen lasse, der sei wirklich ein sehr Guter – und von der Linkspartei. Ruch erklärt diesen Widerspruch damit, dass viele Sympathisanten der AfD gar keine überzeugten Rechten seien. Sie wählten die Partei aus Protest. Dass die Leute AfD wählen, findet Ruch nicht gut. Der Staat solle die Partei verbieten.
Die AfD scheint sich wiederum von der Kirche ausgegrenzt zu fühlen. Kurz vor dem Kirchentag veröffentlichte sie ein 49-seitiges Papier, in dem sie der Kirche vorwirft, in einer „unheiligen Allianz“ mit den Mächtigen zu paktieren. Die Mächtigen, das seien sowohl Fürsten, Kaiser und Führer aus der Vergangenheit als auch „der linksgrüne Zeitgeist“ von heute. Ruch sagt: „Klar, die AfD beißt jetzt um sich.“ Weil sie kein Podium auf dem Kirchentag bekommen hatten. Er findet das keine kluge Entscheidung. Inhaltlich aber seien die Vorwürfe der AfD an die Kirche unsachlich, undifferenziert, haltlos.
Das Verhältnis zur Kirche ist schlecht
Wutike, Grabow, Brüsenhagen, Kolrep – Ruch führt durch fast jede seiner elf Kirchen. Am Mittwochnachmittag ist Rosenwinkel an der Reihe. Die kleine Fachwerkkirche befindet sich im Bau, wie viele. Der Innenraum ist leer, der Boden sandig, aus dem Putz ragt altes Stroh. Ruch sagt, er sehe die Sanierung der alten Dorfkirchen mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Einerseits sei es schön, dass die Kirchen als Kulturgut erhalten blieben. Andererseits – „Wie und von wem werden sie überhaupt noch genutzt?“ Zu den Gottesdiensten, die er in jeder der elf Dorfkirchen einmal im Monat abhalte, käme oft nur eine Handvoll Leute. Selten, und doch ab und zu, sogar niemand.
„Viele Leute sehen mich nur noch als Dienstleister“, sagt Ruch. Er solle Kinder taufen, Ehen schließen und Angehörige beerdigen, aber für die Inhalte interessiere sich kaum einer mehr. „Ich diene da eher als Fotokulisse“, sagt er.
Nach der Besichtigung der Kirche in Rosenwinkel fährt Ruch nach Dahlhausen. Dort wohnt er mit seiner Frau in einem großen Pfarrhaus. Auf seinem Schreibtisch liegt ein brauner Umschlag. Dienstpost. Er reißt ihn auf, schaut für eine Sekunde auf den Inhalt und zerreißt ihn in Stücke. Das sei eh nur Werbung, erklärt er. Die Landeskirche überhäufe ihn mit Hinweisen zu Veranstaltungen in Berlin oder irgendwelchen fernab liegenden Gemeinden. Ruchs Verhältnis zur eigenen Kirche ist schlecht. Er wirft ihr vor, „die Basis“ zu vernachlässigen. Es wird nicht nachgefragt, nicht nach Ursachen der Probleme auf dem Land gesucht.
Viele sind überlaset
Bischof Markus Dröge, der zehn Jahre die Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz geleitet hat, sagt, er könne den Unmut der Pfarrer verstehen. Sie seien es aus der Vergangenheit gewohnt, die Erwartungen in ihren Gemeinden erfüllen zu können. Doch die Bedingungen mussten dem Wandel der Zeit angepasst werden.
Viele Mitarbeitende und Ehrenamtliche seien überlastet. Eine Lösung: „Regional denken und Konzepte entwickeln“. Und weiter: „Man muss den Mut haben, das Gottesdienstangebot zu reduzieren und andere Angebote zu schaffen.“ Ruch sagt, er könne das Wort „Konzept“ schon nicht mehr hören.
Es ist spät geworden. Ruch muss noch die Predigt für die Konfirmation am Sonntag vorbereiten. Es sei ihm wichtig, seinen Schützlingen Till, Paul und Jakob den Wunsch mit auf den Weg zu geben, dass „außer Fußball und Feuerwehr auch die Beziehung zu Gott und der Kirche“ erhalten bliebe.
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