Alleinerziehende Mütter: Das Leben im Nacken
Seit Christina Sander Mutter geworden ist, ist sie von Armut gefährdet, und die Preise steigen. Wie sich eine Alleinerziehende durch die Krise boxt.
U m 11 Uhr morgens hat Christina Sander schon das Abendessen vorbereitet. Kleingeschnittene Zucchini- und Kartoffelstücke liegen in zwei Häufchen auf dem Küchentisch, für ihre Zweijährige, die gerade noch in der Kita ist. Jede freie Minute muss effizient genutzt werden. Das hat die 35-Jährige gelernt, seitdem sie alleinerziehende Mutter ist.
Es ist September. Während die ersten Blätter fallen, steigen die Energiekosten. Die Inflationsrate liegt bei zehn Prozent, ein neuer Höchststand. Weil alles teurer wird, hat Bundeskanzler Olaf Scholz ein Versprechen gemacht: „You’ll never walk alone“ – niemand wird allein gelassen. „Keine einzige Bürgerin, kein einziger Bürger.“ Zur Entlastung wird allen Erwerbstätigen im September eine Energiepauschale von 300 Euro ausgezahlt.
Als Studentin erhält Christina Sander die Pauschale nicht. „Wer nichts hat, kriegt auch nichts“, sagt sie in ihrer Berliner Küche. Am Kühlschrank hängt ein Foto von Zoe, ein Mädchen mit blonden Locken, die sich um ihr Gesicht kringeln. Sonst gibt es in der Küche kaum persönliche Gegenstände. Sander trägt Jogginghose und Hausschuhe. Ihre langen braunen Haare hat sie locker im Nacken zusammengeknotet. Sie sorgt sich wegen der kommenden Monate, fürchtet, dass das Geld knapp wird. Die Altbauwohnung, in der sie wohnt, ist schlecht isoliert. Beim Aufdrehen der Heizung entstehe ein Knistergeräusch, erzählt sie: „Das hört sich an, als würde man Geld verbrennen.“
Sie setzt sich, zieht ein Bein zu sich heran. Wie bei den meisten wurde auch ihr Gaspreis erhöht. „Ich habe 180 Euro bezahlt und wollte den Abschlag um einen Zwanni erhöhen“, sagt sie. „Aber in dem Feld stand: Sie müssen mindestens 330 Euro bezahlen.“ Sander wirkt entsetzt. Das sind 150 Euro mehr im Monat. Noch ahnt sie nicht, dass das nur die erste Erhöhung ist.
Sander studiert Psychologie im Master. Sie und ihre Tochter leben von Bafög, Wohngeld, Kindergeld und dem Bürgergeld, das sie für Zoe bekommt. Damit kommt sie insgesamt auf knapp 2.000 Euro im Monat. 1.000 Euro Kaltmiete kostet ihre Wohnung. Dazu kommen Strom und Gas, ihre Handyrechnung, Internet, Lebensmittel, Windeln, die Studiengebühr, ihre Krankenversicherung. Das Geld ist knapp. Eine günstigere Wohnung versucht Christina Sander in Berlin als Alleinerziehende ohne Job gar nicht erst zu finden. Stattdessen suchte sie sich eine Mitbewohnerin und teilt sich ein Zimmer mit ihrer Tochter. Anders ginge es nicht.
Die offizielle Armutsgrenze lag 2021 für eine Alleinerziehende mit einem Kind bei 1.621 Euro im Monat. Damit sind Christina Sander und ihre Tochter rund 300 Euro davon entfernt, von Armut gefährdet zu sein – noch. Denn die Inflation und die Energiekrise treffen Leistungsempfänger:innen oder Familien mit geringen Einkommen besonders hart. Wenn das Geld schon vor der Krise nur knapp bis zum Monatsende gereicht hat und es keinen finanziellen Puffer gibt, steht vor dem Kontostand schnell ein Minus.
Ersparnisse hat Sander nicht, und die steigenden Kosten trägt sie allein. Es gibt keinen Partner, kein zweites Einkommen. Schon vor der Krise war keine Gruppe stärker von Armut bedroht als Alleinerziehende. Mehr als 40 Prozent leben an der Grenze zur Armut. Gleichzeitig trifft dieses Problem vor allem Frauen: denn rund 85 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter.
Sichtbar ist diese Ungleichheit in unserer Gesellschaft nicht. Deshalb hat Christina Sander entschieden, sich von September 2022 bis März 2023 von der taz begleiten zu lassen. Nur ihr Name wurde verändert, damit sie im Internet nicht als „die Alleinerziehende“ verewigt wird. Sie beantwortet in den kommenden Monaten immer wieder die gleichen Fragen: Wie geht es ihr mit der Inflation? Reicht das Geld? Kommen die Entlastungsmaßnahmen bei ihr an?
Beim Treffen im September wirkt sie verunsichert. Dass es bald kalt wird und in den Nachrichten dauernd von explodierenden Kosten und massiven Preissteigerungen gesprochen wird, mache es nicht besser.
Ich weiß nicht wo ich noch sparen soll. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich gehe nicht ins Kino und treffe mich nicht mit Freundinnen auf einen Kaffee. Die meisten Anziehsachen für Zoe kriege ich von Freundinnen geliehen oder geschenkt. Zum Abendessen gibt es oft Kartoffeln und Tiefkühlgemüse.
Mein Geld bekomme ich aus mehreren Töpfen, und die sind fragil. Was ist, wenn der Wohngeldantrag beim nächsten Mal nicht durchgeht? Ich lebe mit dem ständigen Gefühl, dass jederzeit etwas wegbrechen kann.
Selbst wenn Sander die 300 Euro Energiepauschale bekommen hätte, wäre sie als Alleinerziehende im Vergleich zu Paarfamilien schlechter weggekommen. Die Rechnung ist einfach: In einem Haushalt mit zwei Elternteilen gibt es oft auch zwei Einkommen und damit auch eine doppelte Energiepauschale.
„Alleinerziehende können strukturell nur ein Einkommen haben und sind dadurch benachteiligt“, sagt Miriam Hoheisel, Geschäftsführerin vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter. „Denn die Wohnung beispielsweise ist gar nicht kleiner. Auch Alleinerziehende brauchen ein Badezimmer, einen Flur, ein Kinderzimmer, eine Küche.“ Hoheisel spricht von fehlenden Synergieeffekten für Alleinerziehende. In Familien mit zwei Elternteilen ist es also wie in der Wirtschaft, wenn die Zusammenarbeit zweier Unternehmen einen positiven Effekt hat.
Wohnzimmer, Küche, Bad – von dieser finanziellen Last kann Christina Sander ein kleines bisschen abgeben, an ihre Mitbewohnerin. Aber eines kann sie nicht teilen: die emotionale Verantwortung für ihre Tochter.
In welchen Kindergarten geht sie? Geht es ihr da gut? Wie lasse ich sie betreuen? Das entscheide alles ich. Was auf der einen Seite gut ist – mir kann niemand reinquatschen und mich ins Zweifeln bringen. Auf der anderen Seite ist keine andere Person da, die einspringen würde mit dem Enthusiasmus und mit der Liebe. Ich darf also nicht versagen. Ich muss funktionieren.
Auch nachts im Notfall.
Zoe war Mitte des Jahres so krank. Sie hatte Magen-Darm, hat die ganze Nacht gekotzt und Durchfall gehabt. Ich war voller Angst. Ich habe versucht, ob sie doch was trinkt, aber sie hat alles wieder ausgespuckt. Dann habe ich beim Kindernotdienst angerufen, die haben gesagt: Fahren Sie ins Krankenhaus. Ich habe überlegt: Was brauchen wir alles? Vielleicht sollte ich eine Tasche packen. Ich hatte mein schreiendes Kind auf dem Arm. Vielleicht sollte ich mir selbst wenigstens kurz die Haare kämmen und eine Hose anziehen. Für die Kleine noch eine Windel einpacken. Ich habe mir ein Taxi bestellt, aber der Eingang der Notaufnahme ist nicht da, wo das Taxi hält. Ich war total fertig, das war richtig beschissen alleine. Aber es ist besser als mit jemandem, der einen anschreit. Der sagt, dass man das nicht hinkriegt. Und so ist es zwar organisatorisch schwieriger und auch weniger Geld, aber wir haben unsere Ruhe. Er würde uns zermürben.
Diese Sätze wiederholt sie wieder und wieder. Wenn der Unialltag sie stresst. Wenn sie davon erzählt, dass sie immer die ist, die nachts für Zoe aufwacht. Wenn sie ihre Tochter in den fünften Stock tragen muss. Lieber ohne Partner als gefangen in einer gewaltvollen Beziehung. Es wirkt wie ein Mantra.
Ich war sehr verliebt. Und er nicht. Er war grausam zu uns, schon in der Schwangerschaft. Er hat mich nur noch angeschrien, was für eine egoistische, unempathische Person ich bin, dass ich mich nicht um ihn kümmere. Ich dachte immer, es wird bestimmt besser, wenn das Kind da ist. Aber das wurde es nicht. In der Schwangerschaft ist man schon weicher, und nach der Geburt weint man nur noch. Ich habe gesagt, du musst bitte aufhören. Lass mich doch bitte einfach in Ruhe. Du musst mich nicht anschreien. Ich mache nichts. Ich sitze hier, ich stille. Aber ich glaube, es hat ihm Spaß gemacht, mich zum Heulen zu bringen.
Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter
Ich musste zu meiner Mutter fliehen. Als ich ihm gesagt habe, dass ich gehe, meinte er nur, ich werde schon sehen, was ich davon habe. Dann sei ich ganz allein, das schaffe ich niemals.
Ich wusste, ich muss ihn langfristig aus unserem Leben rausschaffen. Mit Nicht-mehr-Melden bin ich sehr leicht weggekommen. Er hat sich einfach nicht interessiert. Da haben es andere Frauen schwerer.
Seitdem hat sie nichts mehr vom Vater ihrer Tochter gehört. Sie glaubt, dass er die Stadt verlassen hat. Er wollte nach Spanien oder Portugal. Dahin, wo es warm ist, habe er mal gesagt.
Theoretisch müsste Zoes Vater mindestens 437 Euro Unterhalt im Monat an seine Tochter zahlen. Die Realität sieht aber anders aus. In Deutschland erhält nur ein Viertel der Kinder den Unterhalt, der ihnen zusteht.
Als Christina Sander schwanger war, war sie offiziell noch mit einem anderen Mann verheiratet. Weil in Deutschland bei der Geburt immer automatisch der Ehemann als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen wird, wurde ihr heutiger Ex-Mann auf dem Papier zum offiziellen Vater von Zoe. Der eigentliche Vater muss deshalb keinen Unterhalt zahlen, und tut das auch nicht.
Lieber allein, als in einer gewaltvollen Beziehung
Um den Unterhalt einzuklagen, müsste Sander ihn nachträglich in die Geburtsurkunde eintragen lassen. Bis das nicht passiert ist, zahlt das Amt keinen Unterhaltsvorschuss. Aber ihn als Vater anerkennen will Sander eigentlich nicht. Denn ohne eingetragene Vaterschaft hat er auch keine Rechte. Und das beruhigt sie. Sie möchte vermeiden, dass er plötzlich vor ihrer Haustür steht und an ihrem Leben teilhaben will.
Die zweijährige Zoe bekommt von den Abwägungen ihrer Mutter noch nichts mit. Ein paar Wochen später, an einem Sonntag, kommt sie grinsend in die Küche getapst. „Mama, Buch lesen“, fordert sie. Im nächsten Moment will Zoe Hoppe, hoppe, Reiter spielen. Sie klettert auf das Bein ihrer Mutter, wippt hoch und runter und ruft: „Noch mal, noch mal!“
„Mein Schatz, ich habe noch gar nichts gegessen. Ich muss erst mal was essen, okay?“ Im Ofen backt ein noch tiefgefrorener Apfelstrudel.
„Mehr Hopps, bitteeee!“
„Na gut, noch einmal“, gibt Sander nach. Zoe kraxelt den Oberschenkel hoch. Sie jauchzt, als gäbe es nichts Besseres auf dieser Welt als imaginäres Pferdereiten.
Dann klingelt es. Vor der Tür steht ein mit Alufolie abgedeckter Teller. Darunter liegen Kartoffeln, grüne Bohnen und ein Stück Fleisch. „Der Nachbar macht mir manchmal Essen“, sagt Christina Sander. Zoe greift nach einem Kartoffelstück und schiebt es sich in den kleinen Mund.
Er war auch mal romantisch interessiert. Da musste ich hart sagen, dass er keine Chance hat. Mein Herz sagt da nein. Ich glaube, knutschen fände ich schon mal wieder gut. Aber gleichzeitig will ich nicht irgendeinen Typ in mein Zuhause lassen.
Einen Partner zu finden, der einen unterstützt, das könnte doch die Lösung sein – denken viele. Aber wie soll man wieder vertrauen, wenn man sich mit einem Baby allein durchschlagen musste? Und dann ist da wieder die fehlende Zeit.
Ich habe kaum Zeit zum Kennenlernen. Ich könnte freitags von 10 bis 12 Uhr anbieten. Meine Mitbewohnerin hat sich neulich auf einer Datingseite ein Profil erstellt. Bei der Frage nach den Hobbys dachte ich: Ich mag Sport, Schwimmen und dunkle Clubs, wo der Schweiß von der Decke tropft. Aber in Wahrheit ist mein Tag um 15 Uhr vorbei. Dann hole ich Zoe vom Kindergarten ab, und ich bin froh, wenn ich mal allein ins Bad kann. Ich glaube, ich muss mich erst mal wieder selbst attraktiver finden. Noch fühle ich mich nicht so weit.
Im November erreichen Sander mehrere schlechte Nachrichten. Die Betriebskosten werden abgerechnet, sie muss 400 Euro nachzahlen. Die Miete wird um 35 Euro erhöht und auch die Gasag hält wieder die Hand auf: 450 Euro wird das Gas ab Januar kosten. Woher sie das Geld nehmen soll, weiß sie noch nicht. „Vielleicht kann ich einen Antrag stellen“, überlegt sie. Am Ende der Mail steht ein Hinweis: „Hilfreiche Tipps zur Senkung Ihres Energieverbrauchs finden Sie darüber hinaus jederzeit unter www.gasag.de/Energiesparen.“
Sie schnaubt beim Lesen. Wo soll sie noch Energie sparen? Die Heizung dreht sie jetzt schon selten auf. Aber Zoe kann auch nicht im kalten Wohnzimmer spielen, dann wird sie krank. Welchen Dominoeffekt ein Schnupfen auslöst, zählt Christina Sander auf:
Wenn Zoe krank ist, dann kann sie nicht in den Kindergarten. Wenn sie nicht in den Kindergarten kann, muss ich zu Hause bleiben. Wenn ich zu Hause bleibe, kann ich nicht in die Uni. Wenn ich nicht in die Uni kann, schaffe ich nicht meine Anwesenheitspflicht. Wenn ich meine Anwesenheitspflicht nicht schaffe, dann dauert mein Studium länger.
Ihre Familie lebt nicht in Berlin und kann sie daher im Alltag nicht unterstützen. Freunde möchte sie nur in Notfällen fragen. Viele hätten selbst kleine Kinder und genug zu tun.
Bevor sie schwanger wurde, hat sie in einer Schule für Kinder mit psychischen Erkrankungen gearbeitet. In dem Job konnte sie ihr Wissen als Erzieherin und ihren Bachelor in Psychologie einbringen. Aber sie hatte Zweifel, ob sie das alles schafft: den Job, das Kind, alleinerziehend sein.
Ich habe mit den Elf-, Zwölfjährigen gearbeitet – so richtig schön vorpubertär. Das hat viel Energie gekostet, war aber auch witzig. Ich hätte auf den Master verzichten können und wieder arbeiten können. Aber ich habe gedacht, ich schaffe das nicht. Meine Nerven gehen dann für die Arbeit drauf, und ich habe keine gute Laune mehr für Zoe. Es geht nicht nur darum, die Aufgaben zu schaffen. Ich muss auch genug gute Laune haben, um mit ihr geduldig zu sein.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Nach dem Masterabschluss möchte Sander eine Ausbildung zur Psychotherapeutin machen. Sie möchte ihren Interessen folgen, sich weiterentwickeln, dazulernen und sich im Muttersein nicht selbst verlieren. Außerdem würde sie so später auch mehr verdienen und hätte weniger finanzielle Sorgen, erhofft sie sich. Mit dieser Mischung aus Fürsorge und Weiterbildung versucht sie, Zoes und ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Viele Alleinerziehende müssten solche Abwägungen treffen, sagt Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter: „Die meisten Alleinerziehenden stecken in der Zwickmühle zwischen Zeit und Geld.“ Um genügend Geld zu haben, müssten Alleinerziehende in Vollzeit arbeiten. Dann hätten sie aber kaum Zeit für sich, den Haushalt und ihre Kinder. „Und weil Alleinerziehende überwiegend Frauen sind, arbeiten sie auch in Berufen, die typischerweise Frauen machen, wie im medizinischen Bereich, im Dienstleistungssektor.
Die Arbeitszeiten liegen oft außerhalb der Öffnungszeiten von Schule und Kindergarten: früh, spät, am Wochenende.“ Für viele Alleinerziehende sei das ein existenzielles Problem, sagt Hoheisel. Denn wenn wie bei Christina Sander nicht noch jemand da ist, um das Kind abzuholen, um es einen Nachmittag oder Samstag zu betreuen, frisst das Betreuungsproblem das Konto leer. Im vergangenen Semester hatte sie am Donnerstagabend noch ein Seminar. „Das war hart“, erinnert sie sich. „Die Babysitterin musste Zoe um 15 Uhr vom Kindergarten abholen. Um 20 Uhr war ich dann wieder da. Das sind fünf Stunden und sie hat 13 Euro die Stunde gekriegt.“
65 Euro pro Woche, um an einem Seminar teilnehmen zu können. Andere Alleinerziehende müssen Babysitter:innen bezahlen, um ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Hoheisels Verband fordert deshalb eine flächendeckende, gute, kostenfreie Kinderbetreuung, die auch Arbeitszeiten außerhalb von 9 bis 17 Uhr berücksichtigt.
Fragt man Hoheisel, wo sich die strukturelle Benachteiligung von Alleinerziehenden noch zeigt, klingt es, als würde sie ein Memo aus den 80er Jahren abspielen. Ein Problem sei die Teilzeitfalle. Noch immer gehen vor allem Frauen für ihre Kinder in Teilzeit. Nach einer Trennung steckten sie dann in diesem Arbeitsmodell fest und können nicht genug verdienen. Denn: „Es gibt das Recht, familienbedingt in Teilzeit zu gehen. Aber das Recht, in den Vollzeitjob zurückzukehren gibt es nicht für alle“, erklärt Hoheisel.
Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter ist deshalb für eine Ausweitung der befristeten Teilzeit auf alle Betriebe. Mit dieser Regel können Eltern bis zu fünf Jahre in Teilzeit arbeiten, haben danach aber die Garantie, wieder auf Vollzeit zu erhöhen – und ausreichend Geld zu verdienen. Noch sind Kleinbetriebe mit bis zu 45 Beschäftigten von dieser Regel ausgenommen. Dabei sind es vor allem Frauen, die in diesen kleinen Unternehmen arbeiten.
Dass gerade Frauen in der Teilzeitfalle stecken, sei Folge einer fehlgeleiteten Politik, sagt Hoheisel. Während der Ehe würden durch das Ehegattensplitting, durch kostenlose Mitversicherung der Partner:in, durch steuerfreie Minijobs Anreize geschaffen werden, dass ein Elternteil beruflich zurücksteckt und sich Zeit für die Kinder nimmt. Meistens ist das die Frau. Schaut man sich an, wie viel Männer und Frauen verdienen, ist das nicht überraschend: Frauen verdienen laut dem Statistischen Bundesamt 18 Prozent weniger pro Stunde als Männer. Und für die meisten Paarbeziehungen gilt: Wer mehr verdient, geht arbeiten.
Nach einer Trennung werde von den Müttern allerdings erwartet, dass sie ihren Lebensunterhalt dauerhaft selbst erwirtschaften können. Ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt, der die Existenz des sich kümmernden Elternteils sichert, besteht seit der Unterhaltsreform von 2008 nur noch bis zum dritten Lebensjahr des Kindes. „Die nicht gemachten Karriereschritte lassen sich aber nicht aufholen“, sagt Hoheisel. Reformen dürften sich deshalb nicht an einer Wunschvorstellung von Gleichstellung orientieren, sondern an den Familienrealitäten, die in Deutschland gelebt werden. „Nämlich, dass in etwa 80 Prozent der Familien der Vater der Haupternährer ist.“
Auch Christina Sander geriet erst durch die Geburt ihrer Tochter und die Trennung von Zoes Vater in eine prekäre Lage. Bewusst wird ihr das immer, wenn sie beim Discounter in den Angebotskörben wühlt. Früher hat sie auf dem Wochenmarkt am Kollwitzplatz eingekauft, in Prenzlauer Berg, wo Eltern Designerkinderwagen durch die Straßen schieben. Statt regionales Gemüse und einen Strauß Tulpen auf dem Markt einzukaufen, geht sie jetzt einmal in der Woche zu Lidl.
Es ist Dezember, kurz vor Weihnachten, die Winterluft brennt im Gesicht. Um 8:30 Uhr ist noch kaum jemand da. Sie zieht einen Einkaufswagen aus dem Unterstand und holt einen Einkaufszettel raus: Salat, Ofenkäse, Möhren, Gurken, Rotkraut, Klöße. „Heute brauche ich nicht so viel“, sagt sie. „Die letzten Wochen habe ich über meinen Verhältnissen eingekauft.“ Viel Weihnachtsgebäck, ein kleines Geschenk für die Mitbewohnerin, Freunde seien zum Essen vorbeigekommen.
Sonst gehe sie lieber montags einkaufen, da gibt es mehr Angebote. Kinderkleidung zum Beispiel oder Fleisch und Fisch aus der Vorwoche, die dringend raus müssen. „Das ist nicht das optimale Fleischessverhalten, aber das günstigste“, sagt Sander. Es klingt, als wolle sie sich rechtfertigen.
Sie bleibt vor den Gurken stehen. 1,79 Euro kostet die Biogurke, die Standardgurke 1,69 Euro. „Wenn es nur 10 Cent Unterschied sind, kaufe ich die Biogurke.“ Bei den Möhren entscheidet sie sich gegen die Ökovariante, der Preisunterschied ist höher. Sie legt einen Smoothie mit neonorangenem Rabattsticker in den Einkaufwagen, Bananen, ein paar Litschis. Dann steuert sie zielstrebig in den Gang mit den Angeboten der Woche. In den Körben liegen dunkelblaue Regenlatzhosen für Kinder. „Das habe ich schon“, denkt sie laut und stöbert weiter. Bauklötze, Glühbirnen, rosa Teelichthalter. „Hübsch, oder?“ Sie wendet den Karton in der Hand und stellt ihn zurück. „Für mich kaufe ich keine Kleidung im Discounter, weil ich das mit meinem Ego nicht hinkriege“, sagt sie. Aber für Zoe. Dass sie mal zur Schnäppchenjägerin wird, hätte sie nicht gedacht. Heute begleiten sie beim Gang durch die Regalreihen die immer gleichen Gedanken: Das koche ich morgen, das koche ich übermorgen, das nehme ich jetzt schon mal mit, das ist sonst zu teuer.
Theoretisch hätte Christina Sander jetzt monatlich 31 Euro mehr für Essen, Kleider oder Windeln zur Verfügung. Zum Jahreswechsel wurde das Kindergeld von 219 Euro auf 250 Euro angehoben. Familienministerin Lisa Paus freute sich darüber, dass „Familien jetzt noch mal stärker entlastet werden“. Denn die Krise verlange gerade einkommensschwachen Familien viel ab. Doch Sander und ihre Tochter haben von der Erhöhung nichts, denn die 31 Euro werden auf Zoes Bürgergeld angerechnet und dieses um eben jenen Betrag gekürzt.
„Ein klassisches Beispiel dafür, dass familienpolitische Leistungen nicht alle Familienformen gleichermaßen erreichen“, sagt Miriam Hoheisel dazu. „Alleinerziehende fallen häufig durchs Raster.“ Paarfamilien oder Familien mit guten Einkommen würden von familienpolitischen Leistungen besser erreicht.
Die Familie von Christina Sanders Schwester zum Beispiel. Sie lebt mit ihrem Mann zusammen und hat gerade ihr zweites Kind bekommen. An Weihnachten ist Sander der Unterschied zwischen ihnen aufgefallen: „Sie sind mit dem Auto angereist und hatten viele schöne Geschenke dabei.“ Ihre Schwester habe selbstgebackene Kekse mitgebracht. „Dafür hätte ich keine Muße“, sagt sie. „Aber zu zweit ist eben alles leichter und geteilter.“ Während ihre Schwester Plätzchen ausgestochen hat, musste Christina Sander im Dezember neues Wohngeld und Zoes Bürgergeld beantragen. Und jetzt ist es ihre Schwester, die 31 Euro mehr pro Kind erhält.
Mitte Januar wirkt Christina Sander erschöpft, als sie die Tür öffnet. Auf die Frage, wie es ihr geht, gibt sie die ehrliche, aber für sie untypische Antwort: „Schlecht.“ Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen, holt tief Luft und bindet sich die Haare zu einem neuen Knoten zusammen. Dann guckt sie hoch und versucht sich zu sammeln.
Sorry, ich bin Sonnenlicht depriviert. Ich habe Vitamin-D-Mangel. Ich habe Prüfungen im Nacken und Haushalt im Nacken, und mein Kind ist krank, und meine Nase tut weh. Natürlich habe ich einen prinzipiellen Optimismus. Neues Jahr, neues Glück. Ich habe eine Wohnung, Zoe geht in den Kindergarten, und ich mache mein Studium gern, aber … Wahrscheinlich ist es eine Januarerschöpfung.
Das Semester ist fast vorbei und damit Klausurenphase in der Uni. Sander versucht, Methoden der Verhaltenstherapie und psychische Diagnosen zu verstehen, während die zweite Waschmaschine läuft, während sie überlegt, was es zum Abendessen gibt und ob sie noch einen Zahnarzttermin für ihre Tochter vereinbaren muss.
Ich merke, dass ich nicht genug Kapazität habe zum Lernen. Ich kann immer nur eine Stunde am Stück lernen. Dabei muss man sich eigentlich vier, fünf Stunden reinknien. Wenn ich am Montag eine Klausur habe, weiß ich, dass andere Studierende sich das Wochenende Zeit zum Lernen nehmen. Und ich habe Zoe. Sie hat mich schon die halbe Nacht nicht schlafen lassen, weil sie hustet oder mich im Schlaf tritt. Wir stehen um sieben auf, ich mache Frühstück für sie. Sie verteilt die Hälfte in der Küche, ich mache das wieder weg, dann spielen wir, danach mache ich wieder Essen. Ich habe keine Chance am Wochenende zu lernen. Das frustriert mich oft, weil ich nicht die Leistungen bringen kann, die ich gern würde.
Ob sie es manchmal bereut, Mutter geworden zu sein?
Ehrlich gesagt nicht. Vorher habe ich einen starken Kinderwunsch gehabt. Und ich bin, auch wenn es mein Leben komplett umgeworfen und einmal durch den Fleischwolf gedreht hat, sehr glücklich, dass ich sie habe. Sie ist ein großer Anker, auch wenn sie mich nicht schlafen lässt, auch wenn sie meine Wände vollmalt. Ich habe sie einfach so lieb, und bin sehr stolz auf sie.
Der Winter ist fast geschafft. Die Heizung kann bald abgedreht werden, das Sonnenlicht kehrt zurück. Und Sander bekommt im Januar doch noch die 300 Euro Energiepauschale überwiesen. Eine „Elterngeld Plus“-Regelung. Sie versteht es selbst nicht ganz. Auch die Gasag hat geschrieben: Ab Februar muss sie nur noch 225 statt der 450 Euro zahlen. „Ich hatte riesiges Glück“, freut sie sich. Vor allem für die Unterstützung vom Amt sei sie dankbar.
Trotzdem bleibt die Lage angespannt, der Krieg dauert an. Gibt es Pläne, wie Alleinerziehende langfristig entlastet werden können? „Zwei Vorhaben sind in der Pipeline, die das Potenzial haben, eine wirkliche Verbesserung für Alleinerziehende zu sein“, sagt Miriam Hoheisel, „die Steuergutschrift und die Kindergrundsicherung.“ Die Steuergutschrift würde dann für Alleinerziehende von der Steuerlast abgezogen werden. „Das würde gerade Alleinerziehende mit kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Sonst ist es so: je höher das Einkommen, desto höher der Steuervorteil. Das wäre in diesem Fall anders“, sagt Hoheisel.
Die Kindergrundsicherung könne „den entscheidenden Unterschied im Kampf gegen Kinderarmut machen“. Bisher bekommen alle Familien gleich viel Kindergeld, egal ob sie Millionen oder ein Minus auf dem Konto haben. Mit der Kindergrundsicherung könnte sich das ändern. Ein Zusatzbetrag soll umso höher ausfallen, je niedriger das Einkommen der Eltern ist. Beide Vorhaben sind im Ampel-Koalitionsvertrag festgehalten. Aber Hoheisel sagt auch: „Auf die Details kommt es an, auf das wie und wie viel.“
Um 15 Uhr holt Christina Sander ihre Tochter von der Kita ab. Sie beeilt sich, Zoe soll nicht das Gefühl haben, immer die Letzte zu sein. Im Rucksack hat sie Brotdosen mit Weintrauben und Waffeln dabei, als Spielplatzsnack.
Seit der Pandemie werden die Kinder an der Tür übergeben. „Hallo, mein Hasi“, sie zieht ihre Tochter zu sich ran und gibt ihr einen Kuss. „Wir brauchen neue Windeln“, sagt die Erzieherin zur Verabschiedung und: „Sie schnupft schon wieder ziemlich doll.“
Hinweis der Redaktion: Die Autorin hat über die Protagonistin auch schon in einem Podcast für den rbb berichtet.
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