Aktivistin über Wahl in Belarus: „Lukaschenko wird schießen lassen“
Der weibliche Einfluss in der belarussischen Gesellschaft wächst, sagt Olga Karatsch. Sie rechnet mit blutigen Protesten nach der Wahl am Sonntag.
taz: Frau Karatsch, Tausende kommen zu den Veranstaltungen von Swetlana Tichanowskaja, der wichtigsten Rivalin von Staatschef Alexander Lukaschenko für die Präsidentschaftswahl. Warum?
Olga Karatsch: Das hat vor allem mit Corona zu tun. Lukaschenkos Ignoranz gegenüber dieser Pandemie hat zu einem Kollaps des Gesundheitssystems und vielen Toten geführt. Besonders diejenigen, die in den staatlichen Strukturen wie Gerichten oder Polizei arbeiten, waren davon betroffen. Das war so etwas wie eine Art Trigger, ein roter Knopf, der alle diese Prozesse ausgelöst hat.
Wie wichtig ist der Umstand, dass Tichanowskaja eine Frau ist?
Das spielt natürlich eine Rolle. Für Lukaschenko ist es viel schwerer, gegen eine Frau eine Schmutzkampagne zu fahren oder sie ins Gefängnis stecken zu lassen. Dass sich jetzt auch Veronika Tsapkala (Ehefrau des geflohenen Präsidentschaftskandidaten Walerij Tsapkalo, Anm. d. Red.) Tichanowskaja angeschlossen hat, macht die Sache nicht einfacher. Die Machthaber sind es nicht gewohnt, gegen Frauen auf diese Art zu kämpfen. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass bislang eine Mehrheit der Frauen Lukaschenko unterstützt hat.
41 Jahre, hat an der Europäische Geisteswissenschaftlichen Universität (EHU) in Vilnius studiert und einen Master in Politikwissenschaft. Seit 2005 leitet sie in Vitebsk die Organisation „Unser Haus“, ein internationales Zentrum für Initiativen der Zivilgesellschaft.
Lukaschenko hat mehrfach gesagt, Belarus sei noch nicht reif für eine Präsidentin. Offensichtlich hat er ein Problem mit Frauen...
Ein gewaltiges. Vor einer Gruppe von Fabrikarbeitern hat Lukaschenko neulich auch gesagt, dass die Verfassung nicht für Frauen gemacht sei und sie niemals in das höchste Staatsamt kommen würden. Das hat eine Sturm der Entrüstung ausgelöst, besonders von gut ausgebildeten Frauen, die in führenden Positionen in der Wirtschaft tätig sind. Es gab mehr als 200 Protestbriefe an die Zentrale Wahlkommission, in denen gefordert wurde, Lukaschenko nicht zur Wahl zuzulassen und ihn wegen Sexismus zu bestrafen. So etwas gab es noch nie. Und überhaupt: Wir haben jetzt eine einzigartige Situation. In den Wahlkommissionen waren Frauen bisher so eine Art Handlanger. Jetzt sind sie auf der Entscheiderebene angekommen.
Bei der Präsidentenwahl vor fünf Jahren haben Sie ja selbst mit dem Gedanken gespielt, bei der Präsidentenwahl anzutreten. Warum ist daraus nichts geworden?
Einen Tag vor der Präsidentschaftswahl in Belarus ist Maria Moros, die Wahlkampfleiterin der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, erneut festgenommen worden. Moros werde voraussichtlich bis Montag festgehalten, sagte eine Sprecherin Tichanowskajas am Samstag. Der Grund für die Festnahme sei unklar. Moros war bereits Anfang der Woche in Gewahrsam genommen worden, nachdem sie die litauische Botschaft in Minsk besucht hatte. Wenig später wurde sie wieder freigelassen.
Tichanowskaja ist die wichtigste Rivalin des seit 26 Jahren autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko, der sich bei der Wahl am Sonntag um eine sechste Amtszeit bewirbt. Die 37-Jährige trat an, nachdem ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, von der Wahl ausgeschlossen und inhaftiert wurde.
Die vorzeitige Stimmabgabe begann bereits am Dienstag, der eigentliche Wahltag ist Sonntag. Die Behörden gingen vor der Präsidentschaftswahl massiv gegen die Opposition vor. (afp)
Lukaschenkos gesamte Politik fußt auf dem Bild eines starken Vaters. Gleichzeitig war aber klar, dass es in der Gesellschaft auch das Bedürfnis nach einer starken Mutterfigur gibt. Darin sah ich eine Chance. Denn jeder andere männliche Kandidat hätte mit dem Vater konkurrieren müssen. Doch den gab es ja schon, der hat sich ganz Belarus unter den Nagel gerissen. Doch dann kamen 2014 die Ereignisse in der Ukraine. Russland annektierte die Krim und im Donbass begann der Krieg. Da wurde es sinnlos anzutreten, denn es war klar, dass die Belarussen Stabilität wählen und Lukaschenko gewinnen würde.
Im Vergleich zu heute kann man also sagen, dass die Bedeutung des weiblichen Faktors in der belarussischen Politik wächst?
Auf jeden Fall. Anders als früher haben wir jetzt eine breite Diskussion über die Rolle von Männern und Frauen in der Gesellschaft. Früher strebten die Frauen nicht nach politischen Führungspositionen. Jetzt verlangt die Gesellschaft jedoch nach anderen Rollenmodellen und nach einem neuen Führertypus. Lukaschenko verkörpert den autoritären Typ, der Gewalt anwendet. Doch ein Großteil der Belarussen fordert andere Werte ein, wie Humanismus. Deshalb geht es jetzt nicht um die Gleichheit der Geschlechter. Vielmehr ist das eine Frage von Werten.
Sie haben vor wenigen Tagen ein Video mit dem Titel „der Notkoffer“ auf Youtube gepostet. Da geben Sie Tipps, was die Menschen so alles mitnehmen sollen, wenn sie am Abend des 9. August auf die Straße gehen.
Das ist leider unsere Erfahrung. Lukaschenko plant wieder einmal, mit brutalen Methoden gegen friedliche Demonstranten vorzugehen. Das haben alle begriffen.
Wie waren die Reaktionen?
An einem Tag wurde das Video von 200.000 Leuten geklickt. Viele haben sich bedankt und mir geschrieben, dass sie ihren Koffer schon gepackt hätten. Einige haben aber auch gesagt, dass wir solche Ratschläge lieber nicht geben sollten, weil die Leute dann vielleicht Angst hätten, demonstrieren zu gehen. Ich meine jedoch, dass die Situation sehr ernst ist und die Menschen darauf vorbereitet sein müssen. Es geht da ja nicht um einen Spaziergang.
Das heißt, Sie rechnen nach der Wahl auf jeden Fall mit Massenprotesten?
Zu 100 Prozent. Die Chefin der Zentralen Wahlkommission Lydia Jermoschina hat bereits angekündigt, dass Lukaschenko über 70 Prozent der Stimmen erhalten wird.
Wie wird das Regime darauf reagieren?
Es wird Blut fließen, denn Lukaschenko wird auf die Demonstranten schießen lassen. Daran zweifele ich keine Minute. Es wird das erste Mal sein, dass Lukaschenko nicht nur die Miliz schicken wird, sondern auch noch das Militär. Einige Szenarien sind auch schon nach außen gedrungen. Ein Plan ist, dass ein Angehöriger der Miliz getötet werden wird, was dann den Vorwand liefert, um auf die Demonstranten loszugehen.
Könnte das dann auch das Ende von Lukaschenkos Herrschaft sein?
Ja, aber noch nicht am 9. August. Denn die Proteste werden weitergehen. Ich rechne damit, dass es im Herbst vielleicht so weit sein könnte.
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