Aktion für Obdachlose in Berlin: Ein gedeckter Tisch
In Kreuzberg ist ein weihnachtlicher Treffpunkt für obdachlose Menschen entstanden. Die Initiative hofft, dass der Bezirk sie weiter gewähren lässt.
Inzwischen stehen weitere Tische, zwei Sofas, kleine Sessel, Stühle und ein Weihnachtsbaum mit Lichterkette auf der Plattform. An einer Kleiderstange hängen Klamotten zum Mitnehmen, daneben stehen Schuhe. Blickfänger ist ein blaugrünes Iglu-Zelt, in dem Anneliese eine Krippe eingerichtet hat: inmitten von Stroh liegt eine lebensgroße Babypuppe neben einer LED-Kerze, ein struppiger Spielzeugesel und ein Weihnachtswichtel mit roter Mütze leisten Gesellschaft.
Den mehrere Meter großen grün-weißen Schirm, der die Sofaecke vor Regen schützt, habe jemand auf dem Fahrrad aus Köpenick hergeschoben, erzählt Anneliese. Unter dem Schirm hängt ein Adventskranz, auch der Tisch ist weihnachtlich geschmückt, Desinfektionsmittel steht bereit. Die Ecke ist mit Planen etwas abgetrennt, ein Paravent dient als Tür, alte Fahrradschläuche halten alles zusammen. „Das hier ist ein Puzzle aus dem, was als Müll auf der Straße herumliegt“, sagt Anneliese. Nur die Lichterketten und die Puppe habe sie beigesteuert. Ein Bekannter malte ein Schild: „Tischlein deck dich für Obdachlose“, steht darauf. Passant*innen bringen Kleiderspenden, Schlafsäcke, Essen oder Geld vorbei.
Anneliese hat einen Blick dafür, was Menschen, die fast nichts besitzen, brauchen könnten – und ein Gespür für Dinge, die ihnen guttun. Wenn sie abends die Runde mit ihrem Hund geht und jemanden sieht, der sich in einem schlecht wärmenden Schlafsack zur Ruhe bettet, bietet sie an, einen der besseren, warmen Schlafsäcke vorbeizubringen, die sie über Spender*innen erhält.
Quark und Kartoffeln
Wenn ihr jemand ohne Winterschuhe auffällt und sie später ein Paar in der passenden Größe in den Kleiderspenden findet, legt sie die Schuhe beiseite, bis derjenige wiederkommt. Ihr fällt auf, wenn jemand keine Strümpfe trägt. Woher dieser Blick kommt? „Als Fünfjährige bin ich das erste Mal von zu Hause weg und habe ein paar Tage Platte gemacht“, sagt sie. Auch als Jugendliche habe sie auf der Straße gelebt.
Das Geld reicht auch bei ihr oft vorn und hinten nicht, trotzdem findet sie Wege, um Tee auszuschenken oder für 30 Personen Pellkartoffeln mit Quark zu kochen. „Wir hatten nicht genügend Teller, da haben wir sie einfach durchgerissen, und alle haben Quark und Kartoffeln auf einem halben Pappteller gekriegt“, sagt sie. „Das hat geschmeckt, die haben reingehauen wie die Kesselflicker.“
Freunde sagen ihr: „Du kannst aus Scheiße Bonbons machen.“ Doch was ihr nun seit mehreren Wochen am Maybachufer gelungen ist, scheint sie selbst zu erstaunen. „Ich hatte hier schon Tränen – Freudentränen“, sagt sie. „Die Leute freuen sich, dass sie etwas Weihnachtliches sehen.“ Nichtdeutsche Obdachlose kämen oft erst im Dunkeln. „Sie haben mehr Hemmungen, sie werden noch öfter nur beiseitegeschoben“, sagt Anneliese.
Sie selbst nennt den Ort ein Kunstprojekt. Mit dem Ordnungsamt sind sie im Kontakt: „Die wissen nicht so genau, wie sie uns einordnen sollen“, sagt Anneliese, sie hofft, dass sie bleiben dürfen. „Wenn hier ein Pavillon hinkäme, als fester Ort, an dem Obdachlose sich selbst organisieren, das wäre mein Wunsch“, sagt sie. „Das hier ist ja erst mal nur ein Provisorium, es ist uns gut gelungen, aber im Sommer kann man hier nicht weiter mit Weihnachtsdeko stehen.“
Selbstverwaltete Strukturen stärken
Im Bezirk hat man den Ort auf dem Radar – förmlich genehmigen könne man ihn nicht. Aber wegen der „Intention des Gabentisches“ und der „momentanen schweren Situation für Menschen, die kein Zuhause haben“, werde das Ordnungsamt nicht gegen das Tischlein vorgehen – solange die Coronabestimmungen weiter eingehalten würden, teilt eine Sprecherin mit. Für die Polizei könne man aber nicht sprechen.
Für die Sozialverwaltung ist es weiterhin ein Ziel, selbstverwaltete Strukturen unter wohnungs- und obdachlosen Menschen zu stärken. Senatorin Elke Breitenbach (Linke) hatte selbst sogenannte Safe Places ins Gespräch gebracht: mit Infrastruktur ausgestattete Flächen, auf denen obdachlose Menschen selbstbestimmt in Zelten oder Tiny Houses leben, von Sozialarbeiter*innen begleitet, und wo sie nicht vertrieben werden.
Allerdings tritt dieser Punkt vor der akuten Versorgung von obdachlosen Menschen aus Breitenbachs Sicht derzeit in den Hintergrund. „Die Idee der Safe Places ist nach wie vor wichtig, aber während der Pandemie nicht unsere höchste Priorität“, sagte sie.
Für Weihnachten hat Anneliese schon Kartoffelsalat und Würstchen organisiert. Bis dahin möchte sie noch jeden Tag selbst am Maybachufer stehen, Sachspenden sortieren, aufräumen, zum Hinsetzen und Zugreifen einladen, zwischendurch auch mal für Ordnung sorgen, falls es Stress gibt. „Dann können die Leute das selbst weitermachen, wir haben ja vorgemacht, wie es geht“, sagt sie. „Ich kümmere mich und rede mit ihnen, aber irgendwann ist man auch ein bisschen leer.“
Anneliese hat schon die nächsten Pläne. „Ich möchte im Sommer im Wald an einem See ein Projekt machen, wo obdachlose Menschen ein paar Tage hinkommen können und Urlaub machen“, sagt sie. „Ich muss nur noch eine sonnige Lichtung finden, ein bisschen versteckt, dann baue ich aus Fahrradschläuchen und Stöckern einen Weg dorthin.“
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