Aggression im öffentlichen Raum: Wutbürger am Fenster
Rausgelassene Aggressionen können auch für Außenstehende beunruhigend sein. Unsere Kolumnistin sucht bislang erfolglos nach Wegen, damit umzugehen.
A m Samstag war draußen Geschrei. Aus dem Fenster sah ich auf einen großen und kräftigen Mann, der vier Leute anschrie. Die vier Leute, wie ich dem Geschrei nach einer Weile entnehmen konnte, gehörten zu den Zeugen Jehovas. Ich hätte es auch gleich erkennen können, anhand ihrer Kleidung. Ich weiß nicht, ob die Zeugen Jehovas ihre eigenen Läden haben, denn so sehen sie aus, als ob sie alle im gleichen Laden einkaufen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Alles an ihnen ist gebügelt, nie habe ich einen Zeugen Jehova an meiner Tür gesehen, der irgendwie verlottert oder auch nur lässig gekleidet war, weder sah ich einen in Sneaker noch mit Basecap. Es muss dieser zeitlose, modefreie Kleidungsstil für ihre Religion sehr wichtig sein. Ich habe nicht viel übrig für die Zeugen Jehovas, aber ich würde sie deshalb nicht anschreien, wenn sie an meiner Tür klingeln, sie schreien mich ja auch nicht an.
Der Mann, der diese vier Zeugen Jehovas anschrie, trug ein T-Shirt und führte ein Fahrrad mit sich, aber irgendwann wurde er so wütend, dass er das Fahrrad auf die Straße warf und sich ihnen brüllend näherte. Seinem Geschrei konnte ich entnehmen, dass es ihm nicht gefiel, dass sie an den Türen klingelten.
Er brüllte immer lauter
Möglicherweise rechtfertigten sie sich, aber ich konnte sie einfach nicht hören, sie sprachen sehr leise und zeigten keinerlei Regung, weder in ihren Gesichtern, noch mit ihren Gesten, wie sehr der Mann auch brüllte, und er brüllte immer lauter.
Dann bekam ich einen Anruf und dann ging ich duschen. Als ich an das Fenster zurückkehrte, brüllte der Mann immer noch, aber nicht mehr vor meinem Fenster, sondern in der Nachbarstraße, wo ich ihn nicht mehr sehen konnte. Die Zeugen Jehovas sah ich just alle vier auf dem Bürgersteig davon eilen. Der Mann brüllte in der Nachbarstraße, wo ich ihn nicht sehen konnte, anscheinend nun jemand anderes an. Eine Frau kam in meinen Sichtbereich, sie telefonierte mit der Polizei, ich war erleichtert.
Ich weiß in solchen Situationen, wenn zum Beispiel jemand, den ich nicht sehen kann, jemanden anbrüllt, den ich auch nicht sehen kann, nicht, was ich tun soll, ich kann die Lage einfach nicht einschätzen und bin froh, wenn jemand anderes es kann und handelt.
Wut macht krank
Der Mann tauchte wieder auf, der Hass kam wie eine Fontäne aus seinem Mund, so ein Hass!, ich konnte mir gut vorstellen, dass er Lust hatte, jemanden umzubringen. Aber dann ging er weg und die Polizei kam und sprach mit zwei Frauen und drei Kindern, die von irgendwoher angelaufen gekommen waren.
Am Abend las ich auf Instagram, dass es gesünder sei, Ärger so schnell wie möglich zu vergessen, denn er könnte einen krank machen, Krebs könnte man davon kriegen. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, ob ich also in solchen Fällen meine negativen Gefühle von mir wegschieben soll? Aber ist es denn nicht richtig, über solche Sachen wütend zu werden? Über Ungerechtigkeiten, Gemeinheit, Gewalt? Ich komme mit dieser Frage einfach nicht zu Rande.
In Bremen hat jetzt bei der Bürgerschaftswahl eine Partei zehn Prozent der Stimmen bekommen, die sich Bürger in Wut nennt. Ich frage mich, ob der Mann mit dem Fahrrad ein solcher Bürger in Wut ist oder sein könnte und ob, wenn nun diese Wutbürger mehr werden – und es kommt mir wirklich so vor –, ich als Antwort darauf und im Interesse meiner Gesundheit lernen soll, meine eigene Wut zu vergessen. Und ob mir das hilft und ob uns das allen hilft. Und eigentlich frage ich mich, wie ich mit meiner Hilflosigkeit umgehen soll.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau