Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft: Einst isoliert, nunmehr anerkannt
Die Taliban stehen kurz vor ihrer Rückkehr. Wer sind ihre Anführer? Und was ist von ihnen zu erwarten, wenn sie die Macht übernehmen?
Berlin taz | Nach dem Ende einer dreitägigen Feuerpause anlässlich des islamischen Eid-al-Fitr-Festes gehen in Afghanistan die Kämpfe zwischen Taliban und Armee seit Sonntag weiter. Laut dem Chef des Rates der südlichen Provinz Helmand attackierten Talibankämpfer Sicherheitsposten in der Umgebung von Laschkar Gah und weiteren Bezirken. Ein Talibansprecher sagte, die Angriffe seien von der afghanischen Armee ausgegangen.
Die Taliban stehen kurz vor einer triumphalen Rückkehr zur Macht. Sie können sogar wählen, ob sie ihre militärische Stärke ausspielen und auf die Hauptstadt Kabul marschieren oder den Verhandlungsweg gehen wollen. Der laufende Abzug der US-Truppen und die Uneinigkeit im Lager von Präsident Aschraf Ghani stärken ihre Ausgangsposition noch.
Eine künftige Regierung ohne Taliban wird es kaum geben – bestenfalls noch in einer Art Koalition. Wird das zu einem Rückfall in die Zeiten vor der US-geführten Intervention 2001 führen, als die islamistische Aufstandsbewegung vor allem mit Verboten und Unterdrückung herrschte?
Seitdem haben sich die Taliban, ihre Führung und deren Politik erkennbar entwickelt. Von einer international isolierten Bewegung mauserten sie sich zum diplomatisch anerkannten Verhandlungspartner.
Nur graduelle Veränderungen bei den Mullahs
Seit sie im Februar 2020 das Truppenabzugsabkommen mit den USA unterzeichneten, geben sich Diplomat:innen der UNO und vieler Regierungen im Taliban-Quasi-Außenministerium in Katar die Klinke in die Hand.
Doch personell und politisch sind Veränderungen bei den Taliban eher graduell. So wie Gründer Mullah Muhammad Omar, der 2013 einer Krankheit erlag, wurden viele Führer der ersten Generation im Kampf getötet oder sind gestorben. Trotzdem gibt es im Führungsrat mehr Kontinuität als Wandel.
Nach wie vor dominieren ältere Islam-Geistliche, Paschtunen aus der Großregion Kandahar, woher auch Mullah Omar stammte. Doch rückten auf mittlerer und lokaler Führungsebene mehr Nichtpaschtunen – vor allem Usbeken und Tadschiken – auf. Das gilt auch für die Talibanverhandlungsdelegation in Katar. Damit will die Führung die Taliban auch in Minderheitengebieten besser verankern, wo sie stärker präsent sind als vor 2001.
Zuweilen greift eine Art dynastisches Prinzip, wie auch in anderen politischen Bewegungen Afghanistans: Omars ältester Sohn, der angeblich erst 31-jährige Mullah Muhammad Yakub, ist inzwischen der für militärische Angelegenheiten zuständige Talibanvizechef.
Hohe Fluktuation unter den Taliban-Kämpfern
Bei den Talibanfußsoldaten gab es wegen hoher Kriegsverluste eine viel größere Fluktuation. Viele von ihnen sind sehr jung, kennen nichts als Krieg und sind in eine inzwischen gefestigte und nun auch kurz vor dem Sieg stehende Struktur eingebunden. Das ideologisiert sie stärker als ihre Vorgänger. Doch die auch religiös legitimierte Autorität der Älteren ist ungebrochen. Die Jüngeren haben wenig zu sagen. Hier liegt ein Hoffnungsschimmer: Die Alten können etwaige Verhandlungsabsprachen intern leichter durchsetzen.
Politisch halten die Taliban an ihrem Hauptziel, der Errichtung einer, wie sie es nennen, „inklusiven islamischen Ordnung“ fest. Gleichzeitig wurden sie in den vielen Gebieten des Landes, wo sie bereits herrschen, flexibler. Dort hat sich die Guerillabewegung zu einer Parallelregierung gemausert. Dort muss sie Alltagsprobleme der Bevölkerung regeln und kann dauerhaft nicht gegen sie regieren, sondern wird von ihr beeinflusst.
Die Taliban halten Schulen und Krankenhäuser am Laufen, sammeln Spenden für kleinere Infrastrukturprojekte und registrieren Hilfsorganisationen. Viele Afghanen ziehen Talibangerichte denen der Regierung vor, die notorisch korrupt sind. Mädchenschulen hingegen gehen meist nur bis zur 6. Klasse, und politische Freiheit sucht man im Talibangebiet vergeblich. Doch ob selbst diese Wandlungen dauerhaft sind, sich unter einem Frieden beschleunigen oder wieder rückgängig gemacht werden, kann nur die politische Praxis zeigen.
Hebatullah Achundsada
Der Titel des Chefs der Taliban-bewegung ist Amir ul-Momenin, Oberhaupt der Gläubigen. Er steht über dem Führungsrat, der Quasiregierung der Taliban, der ihn berät. Er kann dessen Rat annehmen oder nicht und ist damit Alleinentscheider. Auch absetzbar ist der Amir nicht – seine beiden Vorgänger, Mullah Omar und Mullah Akhtar Muhammad Mansur, amtierten bis zu ihrem Tod.
Nach Mansurs Tod 2016 bestimmte der Führungsrat Hebatullah (in Afghanistan ist die Anrede mit dem ersten Namen höflich) einmütig zum neuen Amir. Mansur hatte durch seinen Stammeskonflikte provozierenden Führungsstil die Taliban fast gespalten, aber der konservative, bis dahin wenig bekannte, angeblich 1961 in Pandschwai bei Kandahar geborene Geistliche führte sie wieder zusammen.
Als junger Mann kämpfte Hebatullah gegen die Sowjets und gründete eine Koranschule. Dort entdeckte ihn Mullah Omar, machte den im geistlichen Rang höher Stehenden zum Militärrichter und einem seiner engsten religiösen Berater. Nach der Niederlage der Taliban 2001 ging er nach Pakistan als Chef einer einflussreichen Koranschule, an der auch die Söhne der Talibanführer studierten, darunter Mullah Yakub.
2012 überraschten die Taliban mit einer neuen Bildungspolitik, in der nur von „Kindern“ die Rede ist, also Chancengleichheit für Jungen und Mädchen eröffnet. Das Papier, deren Autor Hebatullah sein soll, betont die Notwendigkeit von „islamischen Fächern und modernen Bildungskonzepten“ sowie Fremdsprachen- und Computerkenntnissen. Darin heißt es aber auch, „unangemessene Themen“ wie Frauenbefreiung hätten „keine Chance“, unter den Taliban gelehrt zu werden.
Zuletzt war mehrmals Hebatullahs Tod gemeldet worden, sei es bei Anschlägen oder durch Covid-19. Das dürfte aber eher ins Reich psychologischer Kriegführung gehören.
Mullah Abdul Ghani „Baradar“
Der 1968 in Kandahars Nachbarprovinz Urusgan geborene Abdul Ghani gehört zu den Gründern der Taliban. Ein Geistlicher wie Hebatullah stand er wie dieser Mullah Omar nahe, von dem stammt auch sein Rufname „Baradar“ („Bruder“).
Heute ist Baradar als Talibanvizechef für politische Fragen, ihr Quasi-Außenminister. In dieser Funktion unterschrieb er 2020 auch das Truppenabzugsabkommen mit der US-Regierung.
Nach der Niederlage 2001 hatte ihm Mullah Omar die operationale Leitung der Talibanführung übergeben. Dies nutzte er, um Verhandlungskontakt zum damaligen Präsidenten Hamid Karsai aufzunehmen, mit dem er die Zugehörigkeit zum Paschtunen-Stamm der Popalsai teilt. Da er das ohne das Plazet der Talibanschutzmacht Pakistan tat, verhaftete ihn der dortige Geheimdienst.
Karsai verlangte Zugang und erhielt ihn schließlich 2013, nur um festzustellen, dass Baradar offenbar unter Drogen gesetzt und nicht ansprechbar war. Erst auf Druck Washingtons setzte Pakistan ihn 2018 wieder auf freien Fuß, als die USA ihre Abzugsverhandlungen mit den Taliban begannen. Die Misshandlungen dürften Baradar wenig zugänglich für Pakistans Interessen machen.
Seradschuddin Hakkani
Hakkani ist ein weiterer der drei Talibanvizechefs und leitet das nach seiner Familie benannte Hakkani-Netzwerk. Das entstand unter seinem Vater, dem inzwischen verstorbenen antisowjetischen Mudschaheddinführer Dschalaluddin Hakkani, und wird in den USA als gesonderte Terrororganisation gelistet.
Es agiert vor allem in Südostafghanistan, wird von der afghanischen Regierung aber beschuldigt, hinter vielen Terroranschlägen in Kabul zu stehen. Hakkani junior soll um 1973 geboren sein, tritt kaum öffentlich in Erscheinung und gilt als Radikaler. Es gibt nur unscharfe Fotos von ihm.
Als die Taliban Mitte der 1990er Jahre auf ihrem Siegeszug von Kandahar kommend Paktia, die Heimatprovinz der Hakkanis erreichten, wollte der Senior sie bekämpfen, soll dann von Stammesführern aber überredet worden sein, keine Niederlage zu riskieren und sich ihnen lieber anzuschließen. A
us der Zeit der sowjetischen Besatzung stammen enge Beziehungen zu Pakistans Geheimdienst. Das macht die Hakkanis finanziell und logistisch von den Mainstream-Taliban unabhängig, sorgt aber auch für Rivalitäten. Beide Seiten brauchen aber einander: Hakkani den Schutz der größeren Organisation, wofür er den Kandaharer Taliban Zugang zu einem Landesteil garantiert, in dem sie traditionell schwach vertreten sind.
Scher Muhammad Abbas Stanaksai
Stanaksai, der lange Talibanchefunterhändler mit den USA war, gehört weder zu den Kandaharern noch den Hakkani-Taliban. Auch sonst sticht der 1963 in der Provinz Logar geborene Paschtune heraus; er ist kein Geistlicher, soll zur Zeit der afghanischen Monarchie eine Militärakademie in Indien besucht haben und desertierte während der sowjetischen Besatzung zu den Mudschaheddin.
Mitte der 1990er Jahre war er der einzige Englischsprecher in der Talibanführung, war Vizeaußenminister und tauchte damit als erster in den Auslandsmedien auf. Auch jetzt ist er dort häufig präsent.
Stanaksai scheint leicht zu irritieren zu sein, wobei ihm häufig Aussagen unterlaufen, die dem diplomatischeren Baradar kaum gefallen dürften, etwa dass die Förderung von Frauenrechten zu „Unmoral, Sittenlosigkeit und der Verbreitung nichtislamischer Kultur“ geführt habe.
Seit Ende 2020 ist Stanaksai nur noch Vizechefunterhändler. Doch viele Afghan:innen fürchten, Stanaksai könnte die wahre Stimme der Taliban sein. Der einzige Englischsprecher ist er längst nicht mehr: Seine Katar-Mitunterhändler Chairullah Chaircha und Mullah Fasl haben es in Guantanamo gelernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag