Afghanische Geflüchtete in Deutschland: Die Zerrissenen
Vor sechs Monaten beendete die Bundeswehr die Evakuierung in Afghanistan. Die Geschichte von Dreien, die es nach Deutschland geschafft haben.
D er Tag, an dem die Taliban Kabul einnehmen, ist ein guter Tag für Mohammad Ghafuri. Er fährt mit dem Taxi zur Post und holt die neuen Pässe für seine Töchter, seine Frau und sich ab. Wenn alles gut geht, wird er mit seiner Familie in wenigen Wochen in Deutschland landen. In dem Land, für dessen Soldat:innen er vier Jahre gekocht und gekellnert hat. Aber es geht nicht alles gut. Fünf Monate wird es dauern, bis die Familie endlich fliegen kann. Wochenlang verstecken sich die Ghafuris mit anderen Familien in sogenannten Safe Houses der Bundeswehr in Kabul. Nach Hause trauen sie sich nicht. Die Angst, dass dort die Taliban vor der Tür stehen, ist zu groß. Von 2011 bis 2014 arbeitete Ghafuri für die Bundeswehr. Für die Taliban ist er deshalb ein Verräter, genauso wie Hunderte ehemalige Ortskräfte der Deutschen, die noch immer in Afghanistan sind.
Im vergangenen halben Jahr konnten insgesamt 11.000 Afghan:innen nach Deutschland fliehen. Von ihnen sind etwa 2.000 ehemalige Ortskräfte und knapp 700 besonders schutzbedürftige Personen – zum Beispiel Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und Wissenschaftler:innen –, die nun mit ihren Familien in Deutschland leben.
Sie mussten auch deshalb ihre Heimat verlassen, weil der Westen bei dem Versuch scheiterte, Afghanistan auf dem Weg zur Demokratie zu unterstützen. Für diesen Text haben wir drei von ihnen getroffen:
Mohammad Ghafuri, der sechs Jahre darauf wartete, nach Deutschland zu kommen. Der heute versucht, seine Freiheit zu schätzen, während die Taliban bei seinen Eltern nach ihm suchen.
Rishad Qarizada, der in Afghanistan ein prächtiges Leben führte und in Deutschland angefeindet wird. Der so schnell wie möglich wieder zurück in sein Heimatland will.
Und Zainab Baqiri, die nicht aufhören kann, für die Zurückgebliebenen zu kämpfen. Die weiter an ein demokratisches Afghanistan glaubt.
Alle drei arbeiteten im Camp Marmal, dem größten Militärcamp der Bundeswehr im Norden Afghanistans, mit den deutschen Truppen zusammen. Alle drei sind in den vergangenen sechs Monaten nach Deutschland gekommen und leben hier nun an unterschiedlichen Orten. Was denken sie über Deutschland? Und wie blicken sie in die Zukunft?
Auf gepackten Koffern: Mohammad Ghafuri
Es schneit, als Mohammad Ghafuri, 31, Anfang Dezember mit seiner Familie am Münchner Flughafen landet. Endlich kann er das Leben beginnen, von dem er träumte, seit er für die deutschen Soldat:innen arbeitete. „Ich war einfach nur glücklich, hier zu sein“, erinnert sich Ghafuri. Noch am selben Abend werden die Ghafuris in ein Ankerzentrum für Geflüchtete nach Bamberg gebracht. Afghanische Ortskräfte und Angehörige mit einer Aufnahmezusage erhalten zu der Zeit einen Aufenthaltstitel für drei Jahre, „aus dringenden humanitären Gründen“, wie es im Gesetz heißt.
Noch im Dezember stellte Außenministerin Annalena Baerbock einen „Aktionsplan Afghanistan“ vor, um die mehr als 21.000 Afghan:innen mit einer Aufnahmezusage der Bundesregierung bei ihrer Flucht zu unterstützen. Trotzdem sind viele bei einer Ausreise immer noch auf nichtstaatliche Organisationen angewiesen. Die Luftbrücke Kabul und das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte halfen seit Ende August mehr als 1.700 Menschen bei ihrer Flucht.
Es koste etwa 1.400 US-Dollar, einen Menschen aus Afghanistan nach Deutschland zu bringen, schreibt das Patenschaftsnetzwerk auf taz-Anfrage. Seit Anfang des Jahres sei das Spendenkonto leer. Das Kernteam der Organisation besteht aus Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan stationiert waren und selbst mit Ortskräften wie Ghafuri zu tun hatten.
In den Tagen nach dem Fall von Kabul versuchten die Ghafuris zehn Tage lang, zum Flughafen zu kommen. Seine Familie und er standen auf den Evakuierungslisten, sagt Ghafuri. Doch sie schafften es nicht zum Gate. Zu viele Menschen wollten in einen der rettenden Flieger. Als das deutsche Militär seinen Rettungseinsatz in Kabul am 26. August für beendet erklärte, gaben die Ghafuris die Hoffnung auf.
Vier Monate später organisierte das Patenschaftsnetzwerk Visa für Katar für die Ghafuris. In Doha, der Hauptstadt Katars, warteten sie zwölf Tage auf ihre Weiterreise nach Deutschland. Die Familie wohnte in einem brandneuen Hotel, das für die anstehende Fußballweltmeisterschaft gebaut wurde, erzählt Ghafuri.
Einen Monat nach ihrer Ankunft in Deutschland zogen die Ghafuris vom Ankerzentrum in eine andere Flüchtlingsunterkunft in Bamberg. Das Gebäude liegt in einem Industriegebiet, gleich hinter einer Tankstelle. Ghafuri steht Anfang Februar in der Einzimmer-Erdgeschosswohnung der Familie, seine Töchter, zwei Jahre und ein Jahr alt, klammern sich an seine Waden. Es ist Ghafuri wichtig zu sagen, dass er nicht wütend auf die Bundeswehr ist: „Überhaupt nicht.“ An einem der Stockbetten hängt eine Stofftasche in Schwarz-Rot-Gold. „Ich war stolz, für die Deutschen zu arbeiten“, sagt Ghafuri. Heute ist er sich nicht mehr so sicher, ob stolz noch das richtige Wort ist. Trotzdem, er fand den westlichen Militäreinsatz in Afghanistan richtig. „Ich habe daran geglaubt, dass unser Land danach ein besseres ist.“ Mehr will er dazu nicht sagen. Er betont, wie dankbar er sei, hier zu sein.
Auf seinem Handy zeigt Ghafuri Bilder vom Team der „Oase“ – ein Restaurant und Freizeittreffpunkt im Camp Marmal in Afghanistan. Hier verbrachten Soldat:innen ihre freien Stunden, bestellten Essen à la carte. Gyros, Chicken Wings und Spaghetti: Ghafuri kennt die Klassiker eingedeutschter Kulinarik. Ab 21 Uhr wurde dort auch Wein und Bier ausgeschenkt. Besonders gern tranken die Deutschen Beck’s. Und sie gaben gutes Trinkgeld, mehr als die US-Soldat:innen, erzählt Ghafuri.
Er lächelt viel, wenn er von der Zeit in der „Oase“ spricht. Nicht nur das Monatsgehalt von 420 US-Dollar war gut, auch die Arbeit im Serviceteam habe ihm Spaß gemacht. Auf einem Foto ist sein altes Team zu sehen. Er steht in der zweiten Reihe und trägt seine Arbeitskleidung, ein dunkles Poloshirt mit einer kleinen roten Palme darauf. Das verschmitzte Grinsen ist bis heute gleich geblieben.
Aus dem Team der „Oase“ sind mittlerweile alle 45 Mitarbeiter geflohen. Zwei Kollegen Ghafuris sind mit ihren Familien in Iran, zwei in Pakistan, der Rest in Deutschland. Manche von ihnen schon seit Jahren. Auch Ghafuri beantragte 2015, ein Jahr nachdem sein Vertrag in der „Oase“ auslief, ein deutsches Visum. Der Antrag wurde abgelehnt. Als die Taliban 2018 erstarkten und sich die Anschläge häuften, versuchte er es wieder. Er hatte Angst, dass ihn jemand bei den Taliban anschwärzen könnte, weil er für die Deutschen gearbeitet hatte. Wieder wurde der Antrag abgewiesen.
Im vergangenen Sommer kontaktierte ihn dann die Bundeswehr: Seine Familie und er dürften nach Deutschland kommen. Kurz zuvor hatte die Bundesregierung die Aufnahmevoraussetzungen für ehemalige Ortskräfte so geändert, dass auch Afghan:innen nach Deutschland kommen durften, die vor 2019 bei der Bundeswehr oder anderen deutschen Institutionen wie dem Goethe-Institut oder der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) angestellt waren.
Für die Ausreise brauchten die Ghafuris neue Pässe. Mit dem alten afghanischen Pass konnten sie nicht nach Deutschland. Ein Problem, vor dem auch heute viele ehemalige Ortskräfte stehen, die noch in Afghanistan feststecken. Denn sie kommen nicht an die dringend benötigten Ausweispapiere, seit die Taliban in den Behörden das Sagen haben.
Mohammad Ghafuri
Am Küchentisch in Bamberg greift Ghafuri nach den grünen Rosinen und schwarzen Maulbeeren auf dem Teller vor ihm. Je ein Kilo hat die Familie in zwei Plastiktüten aus Afghanistan mitgenommen. Nur wenn Gäste da sind, gibt es die getrockneten Früchte zusammen mit Nüssen zum Tee. Seitdem er in Deutschland ist, ruft ihn seine Mutter jeden Tag an und erzählt, wie die Lebensmittel wieder knapp werden. Über die Taliban wird bei diesen Anrufen nicht viel gesprochen, sagt Ghafuri. „Jeder in Afghanistan weiß, was passiert, wenn die Taliban an der Macht sind.“
Nur wenige seiner Familienmitglieder wissen, dass er jetzt in Deutschland ist. Auch seinen Freunden hat er nicht Bescheid gegeben, ihnen kein einziges Whatsapp-Foto geschickt. Es wäre gefährlich für seine Angehörigen in Afghanistan, wenn sich herumspricht, dass er hier sei. Seit seiner Flucht hat sein Vater zwei Schreiben von den Taliban bekommen. Darin forderten sie ihn auf, den Aufenthaltsort seines Sohns zu verraten. Wenn Ghafuri davon spricht, verschwindet sein Lächeln.
Ghafuri will, dass seine Eltern nach Deutschland kommen. Seit er das Land verlassen hat, wächst seine Sorge um sie. „Weil ich in Freiheit bin, sind sie noch mehr in Gefahr.“ Sein Vater ist Lastwagenfahrer und transportierte manchmal Müll aus Camp Marmal ab. Einen Vertrag als Ortskraft hatte er nicht. Deswegen haben seine Eltern keine Aufnahmezusage von der Bundesregierung bekommen.
Im neuen Zuhause der Ghafuris in Bamberg stehen seit ihrem Einzug Mitte Januar drei große Reisetaschen und ein Koffer ungeöffnet in der Ecke. „Das hier ist nicht für immer“, sagt Ghafuri. Er möchte eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker machen. Mit seinem Vater hat er schon immer viel an Autos herumgeschraubt. Zurück in seine Heimat nach Masar-i-Scharif will Mohammad Ghafuri nicht. „Nein. Unser Leben in Afghanistan ist vorbei.“
Rishad Qarizada: Lieber gemeinsam in Gefahr
Rishad Qarizada wirkt weder besonders verrückt noch besonders naiv. Aber nach einer Woche in Deutschland trifft der 25-Jährige einen Entschluss, der für manche wahnwitzig klingen mag. Er will zurück nach Afghanistan. Zurück in das Land, aus dem er aus Angst um sein Leben geflohen ist.
„Ich weiß, dass niemand in Afghanistan für meine Sicherheit garantieren kann“, sagt Qarizada. Sechs Jahre war er Berater und Übersetzer der Bundeswehr. Eine Woche vor der Machtübernahme der Taliban floh er mit seiner Familie. Warum will er die neue Sicherheit wieder aufgeben?
Qarizada sitzt im Februar auf einem Schreibtischstuhl im Keller eines Mehrfamilienhauses in Sulzbach am Main. Ein Ort mit 7.000 Einwohner:innen in der Nähe von Aschaffenburg. Dunkle Ränder säumen seine Augen, die müde in die Frontkamera des Handys blicken. Der deutsche Winter macht ihm zu schaffen, erzählt er im Videocall. Mit seiner Frau, seinem fünfjährigen Sohn und seiner zweijährigen Tochter lebt er in einer kleinen Einzimmerwohnung.
An Qarizadas Wortwahl fällt auf, dass er lange mit internationalen Soldat:innen gearbeitet hat. In sein fließendes Englisch mischen sich immer wieder Wörter aus dem Militärjargon – „Power Breakers“, „Political Advisor“. Stolz schickt er Fotos von Urkunden der Bundeswehr, die ihn für seine Arbeit auszeichnen. In Afghanistan beriet Qarizada deutsche Offiziere darin, die afghanischen Verhandlungspartner nicht aus Versehen mit einer falschen Frage zu kränken, mit Tipps wie: „Auf keinen Fall die Ehefrau des Gegenübers erwähnen.“
Den Job bei der Bundeswehr nahm er in erster Linie wegen des Gehalts an. Eigentlich wollte er nach seinem Englischstudium als Dozent an der Uni arbeiten. Aber die Deutschen merkten schnell, dass Qarizada nicht nur ein guter Übersetzer, sondern auch ein wertvoller Ratgeber ist, erzählt er stolz. Mit 24 Jahren wurde er Berater des TAAC North, des von Deutschland geleiteten Nato-Kommandos. Qarizada vermittelte Kontakte zu lokalen Politikern. Auf Bildern steht er im Nadelstreifenanzug neben Ansgar Meyer, dem Kommandeur des letzten deutschen Afghanistan-Kontingents.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Qarizada spricht auch etwas Deutsch, gerade macht er einen B1-Sprachkurs. In den ersten Wochen nach seiner Ankunft übte er neue Vokabeln, indem er fremde Menschen auf der Straße begrüßte. Zurück kam meistens, wenn überhaupt, ein komischer Blick, erzählt er. Einmal wartete Qarizada am Bahngleis auf den Zug und telefonierte mit seiner Mutter, als eine fremde Frau ihn beim Vorbeigehen anblökte, er solle gefälligst Deutsch sprechen. „Scheiß Ausländer“, war einer der ersten Sätze, die er verstand, sagt er.
Den Ort, an dem seine Kinder aufwachsen sollten, hatte sich Qarizada anders vorgestellt. Das soll nicht falsch klingen, betont er. Natürlich wisse er, wie glücklich er sich angesichts der gefährlichen Lage in seiner Heimat schätzen könne. Und trotzdem: Seine Zukunft sieht Qarizada nicht im unterfränkischen Sulzbach, sondern in Afghanistan.
Während der ersten Wochen in Deutschland war Qarizada zuversichtlich, dass seine Eltern und Geschwister nachkommen könnten. Das ist mittlerweile anders. Er warte immer noch auf Antworten auf seine E-Mails an das Innenministerium, Verteidigungsministerium und das Auswärtige Amt. Mittlerweile denkt er, „dass es besser ist, pessimistisch zu sein“.
Qarizada fürchtet, dass die Taliban sich für seine Arbeit an seiner Familie in Afghanistan rächen werden. Monatelang haben sie sich bei Freund:innen und Bekannten versteckt. Kürzlich sind sie jedoch wieder in ihr Haus zurückgekehrt. Die Sehnsucht nach ihrem Leben vor der Machtübernahme der Taliban sei groß.
Qarizadas Vater, ein Unternehmer, der unter anderem Öl verkaufte, will so schnell wie möglich wieder seine Geschäfte aufnehmen. Für ihn sei das monatelange Verstecken bei Bekannten schlimmer als die Sorge vor einem Hausbesuch der Taliban. Qarizada träumt davon, nach seiner Rückkehr in das Unternehmen seines Vaters einzusteigen. Er habe ihm so viel zu verdanken, da könne er nicht einfach in Deutschland rumsitzen. Erst recht nicht er, der älteste Sohn. „Mit dieser Scham kann ich nicht leben.“
Qarizada hofft, dass sich die Islamisten weiterhin gemäßigter geben als nach der letzten Machtübernahme im Jahr 1996. Die Wirtschaft sei am Boden, es gebe dort momentan keinen Markt, sagt Qarizada. Für ihn eine Chance, denn die Taliban-Regierung ist auf Männer wie ihn und seinen Vater angewiesen: Unternehmer, die noch über Kapital verfügen und dem Land nicht endgültig den Rücken gekehrt haben. Mit seinem Vater hatte er zeitweise überlegt, Teppiche aus Afghanistan über die Türkei nach Deutschland zu importieren. Aber ein Geschäft in Deutschland aufzubauen sei „viel, viel komplizierter“, als er dachte. Qarizada weiß auch, wie unberechenbar die Lage in Afghanistan ist. Dass es reicht, wenn ein Nachbar oder Geschäftspartner ihn und seine Familie bei den Taliban denunziert. „Die Angst bringt dich jeden Tag aufs Neue um.“
Er erzählt von einem deutschen Major, den er damals in Afghanistan zu sich nach Hause zum Essen einlud. Der Major sei mit einem Konvoi aus Militärfahrzeugen vorgefahren. Fotos zeigen Qarizada im Sitzkreis neben seinen Brüdern, seinem Vater und einem blonden Mann in Camouflage. Selbstbewusst grinst der junge Übersetzer in die Kamera. Zwar hatte er bis dahin nicht verheimlicht, dass er für die Bundeswehr arbeitet. Doch spätestens nach diesem Abend wusste die ganze Nachbarschaft, dass die Qarizadas gute Kontakte zu ausländischen Soldaten pflegten. Dass ihn dieser Abend einmal in Gefahr bringen könnte, habe er damals nicht geahnt, sagt er heute.
Eine Woche bevor die Taliban Kabul überrannten, bekam Qarizada eine Nachricht. Der Absender: der Major, der ihn damals zu Hause in Masar-i-Scharif besucht hatte. Er habe darauf bestanden, dass Qarizada das Land sofort verlässt. „Das war ein Befehl.“ Gemeinsam mit seiner Frau und den zwei Kindern nahm Qarizada schließlich einen der letzten Charterflüge raus aus Afghanistan.
Er versteht nicht, warum die Bundeswehr seiner erweiterten Familie nicht hilft, Afghanistan zu verlassen. Seine Stimme wird laut, er gestikuliert vor der Kamera. Qarizada habe im Camp Marmal viele deutsche Freunde gehabt. Fast alle dieser Freundschaften endeten mit dem Abzug der Bundeswehr. Nur einen Soldaten habe er noch einmal in Deutschland getroffen. Andere hätten ihm geschrieben, sie dürften hier keinen Kontakt zu ihm haben, da er als Berater in Afghanistan mit sensiblen Informationen arbeitete, sagt Qarizada.
Wenn der Rest seiner Familie nicht nachkommen kann, will er wieder zurück. Er sucht bereits nach Jobangeboten von internationalen Organisationen in Afghanistan. Die GIZ bestätigt auf taz-Nachfrage, bereits neue Ortskräfte in Afghanistan unter Vertrag genommen zu haben. Qarizada hat in den afghanischen Nachrichten gelesen, dass auch die Europäische Union eine „minimale Präsenz“ in Afghanistan aufbaut. Eine Delegation soll die humanitäre Hilfe in Kabul koordinieren, insgesamt 268 Millionen Euro stellt Brüssel bereit.
Nach einer Schätzung des UN-Welternährungsprogramms hungern derzeit 23 Millionen Afghan:innen – das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Und wie immer sind es vor allem Kinder, die besonders von der Krise betroffen sind. Die neue EU-Präsenz ist für Qarizada eine unerwartete Gelegenheit. Er hofft, bald wieder das tun zu können, was er bereits für die Bundeswehr in Afghanistan tat: vermitteln, beraten, übersetzen.
Die politische Verantwortung für die dramatische Lage in seinem Heimatland sieht Qarizada bei den USA, nicht bei Deutschland. Ausländische Militäreinsätze in Afghanistan lehnt er nicht grundsätzlich ab. Seiner Meinung nach wäre vieles besser gelaufen, „wenn Deutschland nicht so abhängig von den USA gewesen wäre“.
Die größte Hoffnung bleiben für ihn jedoch die jungen und gebildeten Afghan:innen, die bereit sind, wieder zurückzukehren. So wie er.
Zainab Baqiri: Aufgeben ist keine Option
Zainab Baqiri will nicht mehr schweigen. Sie steht vor dem Pult und spricht laut und klar, damit alle im Hörsaal B1 der Universität Hohenheim sie verstehen können. Es ist Ende Januar, vor der 30-jährigen Frau sitzen etwa 25 Studierende. Sie sind nach der Vorlesung dageblieben, um zu hören, was Baqiri zu sagen hat. Einige halten ausgedruckte DIN-A3-Blätter hoch, auf denen einzelne Wörter und Sätze neonfarben angestrichen sind. Auf einem steht: „Bildung ist Menschenrecht“.
Mit ähnlichen Plakaten demonstrierten Frauen in Afghanistan in den vergangenen Monaten für ihre Rechte. „Millionen afghanischer Frauen und Mädchen können wegen der Taliban nicht mehr zur Schule gehen“, ruft Baqiri auf Englisch in den Raum. „Ich bin eine von ihnen, aber hatte das Glück, es rechtzeitig hinaus zu schaffen“.
Die Universität Hohenheim liegt am südlichen Rand von Stuttgart zwischen Obstbäumen und Feldern. Baqiri wohnt hier in einem Studierendenwohnheim. In ihrem 13-Quadratmeter-Zimmer ist der Boden mit Teppichen bedeckt, auf dem kleinen Tisch steht ein verwelkter Strauß Tulpen. Baqiri setzt sich im Schneidersitz auf das schmale Bett.
Nicht die Taliban, sondern das Studium war der Grund, warum sie Mitte Oktober nach Stuttgart kam. Sie studiert einen Master in Umweltschutz und nachhaltiger Lebensmittelproduktion. Aber es fällt Baqiri schwer, sich auf ihr Studium zu konzentrieren, während in Afghanistan die Gewalt gegen Frauen zunimmt. Zum Teil dürften sie ohne ihren Bruder oder Vater nicht mehr das Haus verlassen, erzählt sie. „#Free Tamana #Free Parwana #Free Alia Azizi“ steht auf einem selbst gebastelten Protestschild. Es sind Namen von bekannten afghanischen Frauenaktivistinnen, die mutmaßlich von den Taliban inhaftiert wurden. Als im Januar die ersten Uni-Prüfungen näher kommen, bittet Baqiri ihre Freund:innen, keine Fotos und Videos mehr aus Afghanistan zu schicken. Die Bilder von Taliban, die auf protestierende Frauen einprügeln, lassen in ihrem Kopf keinen Platz zum Lernen.
Baqiri gehört der ethnischen Gruppe der Hazara an, eine schiitische Minderheit, die vor allem im Norden und im Zentrum Afghanistans lebt und besonders heftig von den Taliban verfolgt wird. Viele der etwa 4 bis 8 Millionen Hazara sind schon vor Jahrzehnten in den benachbarten Iran geflohen. Auch Baqiri wuchs dort auf und studierte in Teheran. Im Laufe der Nato-Friedensmission kehrten einige Hazara aus dem Exil nach Afghanistan zurück.
So auch die Baqiris, eine gut vernetzte Politikerfamilie, in der ein akademischer Grad ein „Must-have“ ist, wie Zainab Baqiri sagt. Ihr Bruder arbeitete in verschiedenen Positionen für die Regierung, ihre Mutter kandidierte als Parlamentsabgeordnete. Alle ihre Tanten mütterlicherseits haben einen Universitätsabschluss. Die meisten Frauen in ihrer Familie seien gebildeter als die Männer. „Die Leute in Afghanistan nennen uns eine feministische Familie.“ Baqiri selbst arbeitete viele Jahre für eine australische NGO, die Entwicklungsarbeit im Norden Afghanistans leistete. Zuletzt war sie als Übersetzerin in der Pressestelle des Vizepräsidenten angestellt. Davor übersetzte sie zwei Jahre für ihre Tante, eine Gouverneurin im Norden Afghanistans, bei Treffen mit der Bundeswehr in Masar-i-Scharif.
In Afghanistan habe man ein sehr perfektionistisches Bild von den Deutschen, sagt Baqiri. Sie seien präzise, arbeiteten sehr genau. Auch sie selbst hatte solche positiven Stereotype. Aber die deutschen Berater der Bundeswehr veränderten ihr Bild. Fast keiner sei länger als ein Jahr geblieben, die vielen Wechsel hätten eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den lokalen Politiker:innen fast unmöglich gemacht.
„Viele waren nur für ihre Karriere in Afghanistan“, sagt Baqiri. Der Abzug der internationalen Truppen im vergangenen Juni und Juli sei eine „Schande“ gewesen. Die Deutschen und US-Amerikaner:innen hätten genau gewusst, was passiert, als sie das Land verließen. Baqiri ist aufgebracht, wenn sie darüber spricht.
Keine westliche Regierung half ihr bei der Ausreise. Es waren ihre europäischen Freund:innen, die sie in Kabul als Couchsurfing-Host kennengelernt hatte. Ein Freund aus Italien zahlte ihr die Flüge und Hotels, als die Banken nach der Machtergreifung der Taliban wochenlang geschlossen waren. Zum Semesterbeginn Mitte Oktober kam Baqiri in Stuttgart an. Anfangs hörte sie Kommiliton:innen sagen, „dass die Afghanen ja nicht gekämpft und das Land einfach den Taliban übergeben haben“. Baqiris Antwort: „Ich kenne viele Jungen, die seit Jahren nicht mehr in die Schule gegangen sind, weil sie ihre Dörfer gegen die Taliban verteidigt haben.“ Ihre Augen funkeln. „Es waren vor allem Afghanen, die in dem Krieg gestorben sind, nicht Deutsche oder US-Amerikaner.“
Die erste Zeit in Deutschland war keine leichte für Baqiri. Einen Monat lang musste sie warten, bis ihr Antrag auf ein deutsches Bankkonto genehmigt wurde, erzählt sie. Sie sei krank geworden, doch als die Angst der vergangenen Monate abfiel, traute sich nicht, zum Arzt zu gehen, weil sie noch keine Krankenversicherung hatte. Mit der Zeit sei es ihr besser gegangen, das Studium sei interessant, auch wenn fast alles online stattfindet.
Es gibt Baqiri Kraft, etwas für ihre Landsleute zu tun. Neben den Vorlesungen versucht sie, deutsche Stipendien für afghanische Studentinnen zu organisieren. Bis vor Kurzem waren nur Privatuniversitäten in Afghanistan weiter für Frauen geöffnet. Erst Anfang Februar ließen laut Medienberichten auch erste staatliche Universitäten im Süden Afghanistans wieder Frauen zu Vorlesungen – jedoch strikt von Männern getrennt. Oft telefoniert Baqiri bis zwei Uhr morgens mit NGOs, die humanitäre Hilfe leisten oder Afghan:innen bei der Flucht helfen. Sie sagt: „Ich tue, was eigentlich andere tun sollten.“ Die anderen, damit meint sie Nato-Staaten, wie Deutschland und die USA.
Zum Schluss ihrer Rede im Hörsaal kritisiert Baqiri die umstrittenen Gespräche von westlichen Diplomat:innen mit einer Taliban-Delegation Ende Januar in Oslo. Es habe sich dort vor allem um Interessen einzelner Länder gedreht, nicht um das Leid der Afghaninnen. Baqiri ruft in das Stuttgarter Auditorium: „Sie sprechen über Menschenrechte, aber meinen keine Frauen.“ Sie träumt von einer eigenen NGO für Bildung, Frauenrechte und Ernährungssicherheit in Afghanistan.
Wenn das Scheitern des westlichen Militäreinsatzes etwas gezeigt habe, dann dass finanzielle Unterstützung nicht bei den Leuten angekommen sei. Allein Deutschland gab 20 Milliarden Euro für den Militäreinsatz und Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan aus. „Terrorismus ist der Feind,“ sagt Baqiri. Aber die Korruption sei das „echte Monster“, das es in Afghanistan zu bekämpfen gelte. Viele ihrer Freund:innen im Exil hätten mit Afghanistan abgeschlossen. Aber Baqiri glaubt an eine bessere Zukunft für ihr Land. „Vielleicht wird die nächste Revolution gegen die Taliban eine Revolution der Frauen.“
Noch immer warten in Afghanistan Tausende besonders Schutzbedürftige auf Hilfe, die ihnen aus Berlin zugesagt wurde, darunter auch Angehörige von Zainab Baqiri, Rishad Qarizada und Mohammad Ghafuri. Seit ihrer Flucht spüren die drei mehr Verantwortung für ihr Land und seine Menschen als zuvor. Weil sie fliehen konnten, weil sie in Sicherheit sind.
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