AfD-Bürgermeister in Sachsen: Normalisierung und ihre Folgen
Großschirma hat Rolf Weigand (AfD) zum Bürgermeister gewählt. Sein Vorgänger litt unter rechten Anfeindungen – und hatte sich das Leben genommen.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Kommunal- und Landtagswahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier auf dem Spiel steht: Wer steht für die Demokratie ein? Welche Agenda verfolgen Rechte? Welche Personen und Projekte fürchten um ihre Existenz?
Der Ausgang der Wahl in Großschirma zeigt nicht nur, wie Stadt und Land auseinanderdriften. Er zeigt auch wie unter einem Brennglas, was die regionale politische Alltagskultur in ländlichen Regionen, in denen die AfD durch eine rechte Hegemonie weitgehend normalisiert ist, für diejenigen bedeutet, die sich der AfD entgegenstellen.
Stattfinden nämlich musste die vorgezogene Wahl, nachdem sich der bisherige Amtsinhaber Volkmar Schreiter im Oktober 2023 das Leben genommen hatte. Zuvor war er jahrelang von rechts angefeindet worden, wie die Freie Presse verdienstvoll recherchiert hat. Insgesamt war Schreiter 19 Jahre lang Bürgermeister in Großschirma. Er war FDP-Mitglied, bekannt aber vor allem als pragmatischer Verwaltungschef.
Eigentlich hatte Schreiter schon 2018 mit dem Ruhestand geliebäugelt, aber als die AfD antrat, entschloss er sich, noch einmal dagegenzuhalten. Überliefert ist das Zitat: „Jedem anderen würde ich es überlassen. Aber nicht einem Kandidaten von dieser Partei.“
Zermürbende Fundamentalopposition
Sein Konkurrent damals: der nun gewählte Weigand, der damals noch deutlich unterlag, aber aus dem Stand 40 Prozent holte. Im Wahlkampf gab es beschmierte Wahlplakate und ausdauernde Anfeindungen gegen den Amtsinhaber, die auch nach der Wahl nicht abrissen: Bei seiner Vereidigung ließ der AfD-Politiker dem Bürgermeister ein Vergissmeinnicht überreichen, was viele als Drohung verstanden.
Im Stadtrat fuhr Weigand anschließend eine Taktik der zermürbenden Fundamentalopposition gegen den Verwaltungschef, Stadtratssitzungen zogen sich in die Länge, Weigand allein reichte sechs Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Schreiter ein. Großschirma ist in Sachen Anfeindung kein Einzelfall. Eine Studie von 2021 zeigte, dass 72 Prozent der Bürgermeister in Deutschland bereits beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen wurden – im Zuge der Pandemie hat sich der Trend verstärkt.
Warum Schreiter sich das Leben genommen hat, ist nicht abschließend geklärt, einen Abschiedsbrief hinterließ er nicht. Sicher ist: Er litt unter Depressionen, hatte eine Auszeit wegen Burnouts genommen. Viele in der Gemeinde sind sich sicher, dass die permanenten Anfeindungen von rechts damit zu tun haben.
Der Pfarrer Justus Geilhufe der 5.500- Einwohner*innen-Gemeinde im Landkreis Mittelsachsen hatte bei seiner Trauerfeier laut der Freien Presse gesagt: „Wie soll das Leben gehen, wenn der andere kein Streitpartner mehr ist, sondern einer, der am Ende wegmuss, weil er der Macht des anderen im Weg steht? Es ist nicht dieser Tod, der unser Zusammenleben erschüttert. Dieser Tod ist das Ergebnis dessen, dass unser Zusammenleben lange schon erschüttert ist.“
Verrohung der Stimmung
Auch in Großschirma war vor allem nach Pegida zusehends die Stimmung verroht. Schon bei der Bundestagswahl 2017 holte die AfD hier starke Ergebnisse. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Heiko Hessenkemper verbreitete Verschwörungsideologien vom „Großen Austausch“ und redete mit NS-Vokabular von „Umvolkung“.
Der neue AfD-Bürgermeister, Rolf Weigand, 39 Jahre, war Vorsitzender der selbst innerhalb der AfD als besonders radikal geltenden Jugendorganisation Jungen Alternative. Sowohl diese als auch die AfD Sachsen sind mittlerweile vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft.
Weigand selbst ist Treiber der Radikalisierung: Er besuchte Treffen des völkischen Höcke-Flügels, im Landtag fiel er mit rassistischen Forderungen auf wie die nach einer Liste aller gebärfähigen Frauen, aufgeschlüsselt nach Nationalität und Staatsangehörigkeit. Er ist mit der extrem rechten Identitären Bewegung vernetzt. Weigand wollte Plakate hängen gegen Geschlechtergerechtigkeit, die selbst die Bild für eine widerliche Kampagne hielt.
Der Rechtsextremismus-Experte David Begrich sagte der taz: „Große Demonstrationen in großen Städten gegen die AfD finden in einer von ostdeutschen Kommunen getrennten Sphäre statt. Metropolregion und Peripherie driften absehbar politisch auseinander.“ Das Wahlergebnis setze den Prozess der Normalisierung fort – „eine Entwicklung, die in den Kommunalwahlen im Sommer noch stärker zu Tage treten wird“, so Begrich.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!