Ärztemangel in Berlin: Nachwuchs verzweifelt gesucht
Praxen sind in der Hauptstadt höchst ungleich verteilt – vor allem im Osten herrscht Ärztemangel. Bezirke suchen nach Wegen, junge Mediziner zu locken.

Berlin sei in weiten Teilen mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gut versorgt, sagt Kathrin Weiß von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Doch die Versorgung ist innerhalb der Stadt nicht einheitlich. Während in den gutbürgerlichen Bezirken in der City West überdurchschnittlich viele Ärzte arbeiten, gibt es in Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick, Lichtenberg und Spandau eine zum Teil dramatische Unterversorgung.
Beispiel Hausärzte: Hier weist Charlottenburg-Wilmersdorf einen Versorgungsgrad von 121 Prozent auf, Marzahn-Hellersdorf ist mit nur 79 Prozent Schlusslicht. Bei Frauenärzten hat Treptow-Köpenick als am schlechtesten versorgter Bezirk nur 87 Prozent. Berlin bekommt aber keine zusätzlichen Arztsitze, denn im gesamten Stadtgebiet ist der Versorgungsgrad offiziell ausreichend. In Charlottenburg-Wilmersdorf beträgt der Versorgungsgrad bei Frauenärzten tatsächlich 184 Prozent. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
„Die Ungleichverteilung ist leider größer geworden“, sagt Gordon Lemm (SPD), der Gesundheitsstadtrat von Marzahn-Hellersdorf. Dazu hat beigetragen, dass gerade in den ohnehin unterversorgten Bezirken im Osten und in Spandau in den vergangenen Jahren viele neue Wohnungen gebaut wurden. Die Einwohnerzahl stieg also, ohne dass es mehr Ärzte gibt.
Sozialpsychiatrischer Dienst unbesetzt
Dazu komme das schlechte Image seines Bezirkes, so Lemm. Auch im bezirklichen Gesundheitswesen gibt es deshalb große Probleme: Der sozialpsychiatrische Dienst in Marzahn-Hellersdorf habe fünf Arztstellen, von denen keine einzige besetzt sei.
Die Zukunft sieht noch düsterer aus. Denn viele Ärzte gehören zu den Babyboomern, die bald den Ruhestand erreichen. Gordon Lemm: „Ein Drittel aller Allgemeinmediziner in unserem Bezirk ist 60 Jahre und älter.“ Im Nachbarbezirk Treptow-Köpenick sind laut der dortigen Gesundheitsstadträtin Carolin Weingart (Linke) die Hälfte aller Ärzte älter als 55 Jahre, 12 Prozent sogar älter als 65 Jahre.
Berlinweit sieht es ähnlich aus. Kathrin Weiß von der KV sagt, dass in der ganzen Stadt ein großer Teil der Vertragsärztinnen und -ärzte in den kommenden Jahren in den Ruhestand treten werde.
Und der Nachwuchs? Glaubt man dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), verlassen bundesweit weniger Medizinstudierende die Universitäten als Ärzte in den Ruhestand geben. Carolin Weingart sieht in Berlin noch ein zusätzliches Spezifikum: Hier liege im Medizinstudium der Numerus clausus zum Teil bei 1,0. Das sind oft sehr ambitionierte Studierende, denen mit solchen Noten alle Türen offen stehen und die umworben werden. „Viele zieht es weniger in eine Hausarztpraxis als in die Forschung, die Pharmaindustrie oder ins Ausland.“
Gezielte Förderprogramme
Die Kassenärztliche Vereinigung, die das Problem der unterschiedlichen Ärzteverteilung lange ignoriert hat, versucht seit wenigen Jahren dagegenzuhalten. Neue Ärzte dürfen sich nur in unterversorgten Gebieten niederlassen. Es gibt gezielte Förderprogramme für diese Gebiete. Zudem werden „an fünf engagierte Studentinnen und Studenten der Humanmedizin, die bereit sind, nach Abschluss ihres Studiums eine hausärztliche Tätigkeit in einem von der uns definierten Fördergebiet aufzunehmen“, Stipendien in Höhe von 1.000 Euro vergeben, sagt Kathrin Weiß. Außerdem werden digitale Angebote ausgebaut.
Weil für immer mehr Ärztinnen und Ärzte eine Anstellung attraktiver ist als eine eigene Niederlassung, in der man sich selbst um die Bürokratie kümmern muss, hat die Kassenärztliche Vereinigung zudem vier Hausarztpraxen in den Ostbezirken in eigener Trägerschaft aufgebaut. Weitere sind in Planung.
Eine, die den Weg vom überversorgten Charlottenburg-Wilmersdorf in den unterversorgten Bezirk Lichtenberg gegangen ist, ist die Allgemeinmedizinerin Mai Ty Phan-Nguyen. Den Entschluss fasste sie in der Coronazeit, wo die vietnamesischstämmige Ärztin in der Praxis am Kurfürstendamm, in der sie damals arbeitete, regelrecht von vietnamesischen Patienten aus Lichtenberg überrannt wurde. „Sie wollten alle eine Coronaimpfung. Und immer öfter merkte ich, dass selbst viele, die seit 20 Jahren hier leben, keinen Hausarzt haben. Sie vertrauten fragwürdigen Geschäftsleuten im Dong-Xuan-Center, die illegal Antibiotika verkaufen.“
Da sah die 38-Jährige eine soziale Verantwortung, näher zu den Patienten zu ziehen, die sie dringend brauchten. Obwohl sie die Praxis erst seit zweieinhalb Jahren betreibt, sei sie immer voll. „Das geht auch einer Nachbarpraxis so, die erst seit einem Jahr hier ist“, sagt sie. Sie habe in Lichtenberg ganz andere Patienten als in Charlottenburg. „Ich habe kaum Privatpatienten. Viele Patienten sind junge Mütter oder Neuberliner. 60 Prozent sind Vietnamesen. Die Arbeit ist anstrengender, weil ich mehr erklären muss.“
Hilfe bei der Raumsuche
Damit sich Ärzte einfacher in ihrem Bezirk Treptow-Köpenick ansiedeln können, hat Gesundheitsstadträtin Carolin Weingart eine Praxisraumbörse eingerichtet. Dort können Vermieter Räume melden, die sich für Arztpraxen eignen, Ärzte können dort Räume suchen. Weingart sagt: „Das ist ein Lösungsansatz, der als Bezirk in unserer Hand liegt. Wir werden im Oktober auf diesem Weg die erste Neuansiedlung im Park-Center in Alt-Treptow haben. Mit einem weiteren Arzt verhandeln wir. Mit 18 weiteren gibt es Kontakte.“
Marzahn-Hellersdorf will dieses Modell nachnutzen. „Das wird nur kleine Effekte bringen, aber wir nutzen jeden Weg“, sagt Stadtrat Gordon Lemm. Ein zunehmendes Problem seien die zu hohen Mietpreise für Arztpraxen, so Weingart und Lemm. Der SPD-Politiker Lemm fordert dazu Verhandlungen mit den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die Linke Weingart eine Bundesratsinitiative von Berlin zur Deckelung von Gewerbemieten.
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