Medizinischer Versorgungsmangel: Kinder ohne Lobby

Der Fiebersaftnotstand hat allen klargemacht, dass hier was grundsätzlich schiefläuft. Ein Erfahrungsbericht einer dreifachen Mutter.

Kinderbett in Krankenhaus

Fiebersaftnotstand, Ärztemangel, Wartezeiten – Kinder haben es schwer Foto: Lisi Niesner/Reuters

Anfang 2020 wurde ich zum dritten Mal schwanger. Einen Monat später kam Corona. Die Pandemie machte bereits lange vorhandene Missstände gnadenlos deutlich. Es gibt keine Vereinbarkeit von Familie und Lohnarbeit.

Die Bildungschancen von Kindern sind abhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Es gibt Probleme unter anderem im Bereich Bildung, Betreuung, Infrastruktur und eben dem Gesundheitswesen. Diese Probleme beginnen mit der Geburt der Kinder.

Keine Woche vor meinem errechneten Entbindungstermin schloss vorübergehend die Geburtsstation der Klinik, in der ich meine ersten beiden Kinder geboren hatte. Mittlerweile existiert sie nicht mehr. Ich gebar mein drittes Kind in einer fremden Umgebung mit einer übergriffigen Hebamme. Nachdem meine Tochter mir hektisch entrissen und weggebracht wurde, lag ich 1,5 Stunden alleine und nackt in meinem eigenen Blut. Schließlich stellte ich mich auf zittrige Beine, zog eine Strickjacke an und eine Hose, die ich mit Tüchern vollstopfte, und ging meine Tochter auf der Kinderstation suchen. Als ich sie endlich wieder im Arm hielt, stotterte eine Assistenzärztin etwas über Auffälligkeiten beim Ultraschall.

Ein*e Fach­ärz­t*in sei erst am nächsten Tag verfügbar. Weil ich den Kreißsaal verlassen hatte, durfte ich nicht zurück. Ich endete halb nackt im Foyer des Krankenhauses unter grellen Neonröhren. Ich hielt meine Tochter und mein Mann hielt mich. Hinter uns bearbeitete ein Handwerker einen Automaten mit einem Hammer. Das Blut floss mir die Beine und die Tränen mein Gesicht runter. Das war der Start in das Leben mit einem chronisch kranken Kind in Deutschland.

Über dieses Leben schrieb ich auf dem Blog Kaiserinnenreich: „Die Schlange der Kinderklinik reicht bis auf die Straße. Erst stehe ich draußen im Regen, dann schwitze ich unter grellem Neonlicht. Selbst wenn wir beim Empfang waren, werde wir wahrscheinlich noch zwei Stunden warten. So wie gestern, trotz Termin natürlich. Vielleicht werden wir auch einfach wieder nach Hause geschickt, trotz Termin natürlich. Dann soll ich einfach noch einen neuen Termin machen und nochmal kommen und nochmal warten.“

Der Abhängigkeit bewusst

Das schrieb ich nicht jetzt, wo die Kinderkliniken kurz vor dem Kollaps stehen, sondern vor über einem halben Jahr. Das RKI meldete noch keine neuen Höchstzahlen an Atemwegserkrankungen unter Kindern. Die Situation war trotzdem schon schlecht. Dass wir ein großes Problem bei der medizinischen Versorgung von Kindern haben, das wussten diejenigen, zu deren Alltag es gehört, sich um Kinder mit erhöhtem Pflegebedarf zu kümmern. Ich habe drei dieser Kinder, das jüngste ist chronisch krank.

Wenn Klinikbesuche und -aufenthalte nicht zum Alltag gehören, wenn man nur hin und wieder genervt in einem Wartezimmer sitzen muss, dann kann man vielleicht noch ignorieren, wie schnell das Leben jedes Kindes davon abhängig sein kann, dass es gut versorgt wird. Wenn man aber Angst hat, dass kein Bett auf der Kinderstation für das chronisch kranke Kind mit schwerer Grippe frei sein könnte, wenn man jeden Tag stundenlang in Wartezimmern sitzt und den*­die Kin­der­ärz­t*in nicht erreicht, wenn das Kind fiebert, aber man aufgrund der chronischen Erkrankung nicht sicher ist, welchen Fiebersaft man geben darf, dann ist einem diese Abhängigkeit immer bewusst.

Spätestens seit Corona kennen dieses Problem der medizinischen Versorgung auch alle anderen: Die Bedingungen für Kinder in Deutschland sind nicht gut. Trotzdem hat fast niemand politische Lösungen gefordert. Die große Mehrheit hat das ignoriert und ist still geblieben. Obwohl das alle hätte alarmieren sollen, haben wir gewartet, bis es zu spät und die Stationen überfüllt waren.

Jetzt also Fiebersaftnotstand. Die Gründe seien vielschichtig, sagen Expert*innen. Fakt ist: Bereits im Frühling hat ein großer Hersteller angekündigt, die Produktion paracetamolhaltiger Säfte aus wirtschaftlichen Gründen einzustellen. Die Nachfrage nach Alternativen stieg extrem stark. Mittlerweile mangelt es an Säften mit allen Wirkstoffen. Der Engpass war abzusehen. Was für ein Unternehmen eine Frage von Effizienz ist, kann für Kinder eine Frage von Leben und Tod sein.

Die Versorgung von Kranken, die Produktion von Medikamenten, die Erforschung von Krankheiten, die Finanzierung von Hilfsmitteln: Über all das entscheidet das Geld. Pflege und medizinische Versorgung werden ökonomisiert, den Regeln und Prinzipien der Marktwirtschaft unterworfen. Geld wird da reingesteckt, wo Geld abgeworfen wird. In Deutschland werden Kliniken über die Fallpauschale finanziert. Also erhalten sie einen fixen Betrag nach gestellter Diagnose und ihrer Behandlung, unabhängig davon wie aufwändig oder zeitintensiv sie tatsächlich ist.

Gerade auf den Kinderstationen steht aber Aufwand nicht im Verhältnis zu Diagnose. Einem ängstlichen Kind Blut abzunehmen, den Blutdruck eines zappelnden Säuglings zu messen: dafür braucht es Zeit und Zuwendung. Hinzu kommt, dass viele Betten, die im Winter belegt sind, im Sommer frei bleiben. Trotzdem müssen diese Plätze verfügbar gehalten werden. Das kostet Geld, das nicht von der Fallpauschale abgedeckt wird.

Wir leben in einer überalternden Gesellschaft, in der Kinder und ihre Bedürfnisse aus dem gesellschaftlichen Diskurs gedrängt werden. Dabei wirken ähnliche Mechanismen bezüglich Angebot und Nachfrage wie in der freien Marktwirtschaft. Lohnt sich die Produktion von Fiebersäften nicht mehr, wird sie eingestellt. Gibt es weniger Kinder als ältere Menschen, können sie ihre Bedürfnisse weniger laut formulieren oder politisch handeln, werden sie weniger gehört.

Die Bedürfnisse von Kindern dürfen nicht untergehen

Die Soziologin Silke von Dyke sagte kürzlich bei Deutschlandfunk Kultur, nicht die Überalterung der Gesellschaft sei das Problem, sondern der Umgang der Politik damit. Aber es ist die Aufgabe der Politik, dem entgegenzuwirken, die Bedürfnisse und Stimmen von Kindern zu hören und mitzudenken. Sie hat versagt. Genauso wie wir.

Kinder haben keine Lobby, keine Interessenvertretung. Als Gesellschaft ist es unsere Aufgabe, gute Bedingungen für Kinder einzufordern und Druck auf die Politik zu machen. Nicht nur aus moralischen und sozialen Gründen, die allein schon ausreichen sollten. Als Faktor Zukunft sichern Kinder den Fortbestand des Systems, das uns versorgt. Kein Geld der Welt wird uns im Alter pflegen, wenn niemand mehr da ist. Und bei den aktuellen Zuständen in den Kinderkliniken, wird das ein immer realistischeres Szenario.

In einer Gesellschaft, in der Kinder selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Diskurses sind, wäre es vielleicht niemals zu einer so dramatischen Situation auf den Kinderstationen gekommen. Jetzt plant Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, mehr Pflegekräfte in Kinderkliniken zu finanzieren und Praxen besser für ihre Mehrarbeit zu entlohnen. Doch das wird die Lage erst mittel- bis langfristig verbessern. Was passiert mit den Kindern jetzt und in den kommenden Jahren?

Als es am Anfang der Pandemie darum ging, Schutzmasken zu besorgen und einen Impfstoff zu entwickeln, war das allgemeine Interesse groß genug, um große Summen an Geld und Ressourcen zu mobilisieren. Dafür brauchte es großen politischen Druck und den Rückhalt der Gesellschaft. All das wäre auch jetzt nötig. Es gibt genug Geld und Ressourcen in Deutschland – sogar im Gesundheitswesen. Die Frage ist, wie es verteilt ist. Wenn die Reichen während der Pandemie immer reicher geworden sind und Kinderarmut in Deutschland seit Jahren steigt, läuft etwas falsch.

Bereits jetzt sterben Kinder, weil sie medizinisch nicht richtig versorgt werden können. Ihre Zukunftsperspektiven verschlechtern sich zunehmend. Handeln müssen wir umso dringender und entschlossener. Je­de*r von uns kann etwas ändern: etwa Kinder zum Thema machen, auch bei der nächsten Wahlentscheidung.

Bis dahin sitze ich mit drei Kindern zu Hause. Die jahrelange Isolation mit meinem geplanten Baby, das ungeplant mitten in einer Pandemie geboren wurde und durch diese ungeplant zur Risikogruppe gehört, hat uns weit über unsere Belastungsgrenze gebracht. Seit dem Sommer habe ich immer darauf geachtet, eine Flasche Paracetamolsaft als Reserve zu haben. Nur den darf meine nierenkranke Tochter kriegen. Ich versuche nicht daran zu denken, was passiert, wenn ich diese Flasche nicht mehr habe. Ich versuche nicht daran zu denken, was passiert, wenn wir doch in die Klinik müssen. Und ich denke jeden Tag daran.

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