Ärmel hochkrempeln zum Wohle aller: Das Virus und die Verantwortung

Gerne aufs Schärfste kritisieren, meint unsere Autorin. Dezidiert, aber bitte differenziert, solidarisch und eventuell sogar mit Lösungsansätzen.

Etliche bekannte Schauspieler:innen sind in Standbildern der Internetaktion #allesdichtmachen zu sehen

Ein paar Standbilder der Internetaktion #allesdichtmachen Foto: picture alliance/dpa/Internetaktion #allesdichtmachen via Youtube |

Knapp vier Tage noch, dann ist es soweit. In der Praxis meiner Hausärztin werde ich gegen Covid-19 endlich durchgeimpft. Ganz ehrlich, ich kann es kaum erwarten, den Ärmel hoch zu krempeln.

Mit den bislang bekannten Risiken und Nebenwirkungen habe ich mich auseinandergesetzt, und zwar mit einer geradezu psychosomatischen Passion. Schlussendlich nehme ich alles in Kauf. Zum einen bin ich eh nicht schwanger. Das sagt mir zumindest mein Bauchgefühl, wobei vom Umfang her ein Coronababy allmählich in Betracht käme. „Der Teufel steckt in der Taille“, wie der Titel eines meiner Chansons lautet. Überdies bin ich im 60. Lebensjahr und schon deshalb reif für die Spritze. So dürfte ich inmitten dieser dosierten Dystopie, die wir spätestens seit März 2020 als die Pandemie kennen, ein wenig aufatmen. Durch eine Maske aufatmen, wohl bemerkt. Denn auch nach der Impfung ist noch lange nicht alles überstanden. Stichwort Mutationen.

Die Hedonistin in mir begnügt sich also weiterhin mit der Ménage-à-mois. Die Humanistin in mir sehnt sich sogar nach einer zusätzlichen Impfung. Letztere wäre, um die Gesellschaft gegen den gefährlichen Zynismus zu schützen, der durch die Co­ro­na­leug­ner*innen seuchenartig verbreitet wird.

Die Bewegung Querdenken hat nahezu 70 Ableger bundesweit, und nach einer empirischen Studie des Soziologen Oliver Nachtwey wollen 30 Prozent der Querdenken-Anhänger in der kommenden Bundestagswahl der AfD ihre Stimme geben. Und zu den Mitmarschierenden zählen die üblen Verdächtigen: Reichs- und Wut­bür­ger*innen, Identitäre, militante Impf­geg­ne­r*in­nen und antisemitische Ver­schwö­rungs­gläubige, von einem mit Haftbefehl gesuchten Gourmet mit den zufälligen Initialbuchstaben „A. H.“ ganz zu schweigen. Anfangs gaben sie sich als freiheitsliebend, aber allerspätestens mit der Stürmung der Reichstagstreppe letzten August ließen sie gewissermaßen die Masken fallen.

GEZ’s noch?

So enttäuscht es, dass ausgerechnet einige Er­mitt­le­r*in­nen aus der „Tatort“-Reihe dabei in flagranti ertappt wurden, die Initiative #allesdichtmachen salonfähig zu machen. GEZ’s noch? Öffentlich-rechtliche Kommissar*innen, ob vorsätzlich oder nur grob fahrlässig, in der Komplizenschaft der Co­ro­na­leugner*innen? Auch einige Tage nach der Eilmeldung bleibt es eine Staatsaffäre, die noch nicht als Cold Case zu den Akten zu legen ist. Viele melden sich zu Wort. Auch ein CDU-Kanzlerkandidat quasi beim Laschet-Minute-Versuch, an Systemrelevanz zu gewinnen. Sein Fazit? Man dürfe das sagen. Wow, diese klare Kante. Wem genau soll dieser Zuspruch imponieren?

In ihren jeweils 90 Sekunden langen Videobotschaften, die jüngst auf Youtube erschienen, haben die Beteiligten in der Tat nichts Verbotenes über ihre hämisch grinsenden Lippen gebracht. Es herrscht grundsätzlich die Meinungsfreiheit, wie es sich in einer Demokratie geziemt. Aber was spräche dagegen, auch die Meinungsverantwortung zu beachten?

Fakt ist, der „Tatort“ gilt seit mehr als einem halben Jahrhundert als Königsdisziplin der TV-Krimis. Schauspieler*innen, die das Glück genießen, dort in Hauptrollen als ­Hel­d*in­nen aufzutreten, haben deshalb eine besondere Verantwortung, und zwar neben einem fetten Gehalt, von dem echte Po­li­zis­t*in­nen nur träumen können.

Nee, nee, nee!

Durch ihren Bekanntheitsgrad üben sie, nolens volens, einen großen Einfluss auf weite Teile des am Bildschirm klebenden Publikums aus. Gerade inmitten der Pandemie agieren sie als Superspreader, wie es in der Infektionsepidemiologie heißt. Sie propagieren diffuse Verschwörungstheorien, sie verhöhnen unermüdlich arbeitende Me­di­zi­ne­r*in­nen und Pfleger*innen. Und wenn sie erwischt und kritisiert werden, wollen sie alles plötzlich als dreidimensionale Satire verkaufen. Nee, nee, nee. Mit so einer schäbigen, schamlosen Schutzbehauptung sollten sie nicht davonkommen.

Wenn Fern­se­her­mitt­le­r*in­nen unreflektiert aus dem Drehbuch der Dem­ago­g*in­nen lesen, ist es kein Kunstgriff. Denn Corona ist ein Serienmassenmörder, der sogar weitaus mehr Leichen hinterlässt, als man in einer durchschnittlichen Murot-„Tatort“-Folge auffinden kann. Alleine in Deutschland sind mindestens 81.000 Menschen an dem schweren, akuten Atemwegssyndrom gestorben. Und die Autopsien der Covidopfer sind irgendwie nicht so lustig wie die Obduktionen, die im Sektionssaal am Set der Münsteraner Rechtsmedizin stattfinden.

Die Coronapolitik der Regierung lässt in der Tat viel zu wünschen übrig. Die erbarmungslose Vernachlässigung des Kulturbetriebes und der Gastronomie, die fehlende Transparenz bei der Aufklärung von Maskengate, das Testdebakel, die schleppende Impfung, das Hin und Her mit den Lockdownmaßnahmen, und, und, und. Gerne aufs Schärfste kritisieren. Dezidiert, aber bitte differenziert, solidarisch und eventuell sogar mit Lösungsansätzen.

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Michaela Dudley (Jg. 1961), eine Berliner trans* Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, ist eine „Frau ohne Menstruationshintergrund, aber mit Herzblut, in der Regel“. So lautet ihr Signatur-Lied, und so kennt man sie als wortgewandte taz-Kolumnistin. Sie ist Autorin des Februar 2022 erschienenen Buches RACE RELATIONS: ESSAYS ÜBER RASSISMUS (Verlag GrünerSinn: ISBN 9783946625612). Ebenjene historisch fundierte Einführung reüssiert als lyrischer Leitfaden zum Antirassismus. Dudley, eine gelernte Juristin (Juris Doctor, US) schreibt auch für den Tagesspiegel, die Siegessäule, die Zeit / das Goethe, Missy Magazine, Rosa Mag und den Verlag GrünerSinn. Zudem tritt sie als Kabarettistin, Keynote-Rednerin und Diversity-Expertin in Erscheinung. Ihr Themenspektrum umfasst Anti-Rassismus, Feminismus und die Bedürfnisse der LGBTQ-Community. Elegant und eloquent, reüssiert die intersektional agierende Aktivistin als die „Diva in Diversity“. Als impulsgebende Referentin arbeitet sie mit der Deutschen Bahn, der Führungsakademie der Bundesagentur für Arbeit, der Frankfurter Buchmesse und dem Goethe-Institut zusammen. In der Fernsehsendung „Kulturzeit“ (3Sat/ZDF, 25.08.2020) hat sie ihre Ballade „Owed to Marsha“ zu Ehren der queeren Ikone Marsha P. Johnson uraufgeführt. In einer anderen Folge (17.06.2020) hatte sie für die „Meinungsverantwortung“ plädiert, als sie die Äußerungen der Schriftstellerin J.K. Rowling in puncto Transsexualität kritisierte. Immer wiederkehrend kommentiert sie brandaktuelle Themen (ARD, MDR, RBB, WDR). Ihr satirisches, musikalisch untermaltes Kabarettprogramm heißt: „Eine eingefleischt vegane Domina zieht vom Leder“. Sie liebt die Astrophysik, spielt gerne Schach, spricht u.a. Latein und lebt tatsächlich vegan. Ihre Devise: „Diversity ist nicht einfach, sondern mehrfach schön. Kein Irrgarten, sondern ein Wir-Garten.“

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