Abzugsdesaster in Afghanistan: Erschütterndes Desinteresse
Biden? Gescheitert. Der IS? Da. Das Abzugsdesaster in Afghanistan scheint simple Erklärungen zu liefern. Dabei ist eine Debatte über komplizierte Fragen nötig.
W er den chaotischen Abzug aus Afghanistan sieht, kann schnell zu dem Schluss kommen, dass die Präsidentschaft von Joe Biden schon gescheitert ist, bevor sie richtig angefangen hat. Die Brutalität, mit der Biden den Einsatz am Hindukusch beendet, ist erschreckend für alle, die ihn für einen freundlichen älteren Herrn mit nichts als humanitärem Geist und sanftem Lächeln gehalten haben. Er zieht den Abzug ohne Rücksicht auf Nato-Partner, Ortskräfte und selbst die noch nicht evakuierten eigenen Staatsangehörigen durch. Nach den beiden Terroranschlägen am Flughafen fiel er sofort in eine finstere Racherhetorik, die an George W. Bushs „Achse des Bösen“ erinnert.
Doch es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass Biden damit das Vertrauen in seine Führungsfähigkeit nachhaltig zerstört hat. Aus Sicht der US-Bevölkerung beendet er einen äußerst unpopulären und viel zu langen Krieg, der nicht mehr den US-Interessen diente. Solange es Biden gelingt, den Antiterrorkampf mit anderen Mitteln, etwa Drohnen, fortzuführen, wird die Wähler*innenschaft es ihm womöglich sogar danken.
Es ist auch falsch anzunehmen, dass nun die Terrorgruppe „Islamischer Staat Khorasan Province“ (IS-K) das vermeintliche Vakuum ausfüllt, das die Nato-Partner hinterlassen haben. Der auf rund 400 bis 500 Mitglieder geschätzte IS-K ist auch schon vorher dagewesen und hat Anschläge verübt, die zu den grausamsten überhaupt zählen. So ermordeten sie beispielsweise 2020 auf einer Entbindungsstation 24 Mütter und Neugeborene in einer Klinik der Ärzte ohne Grenzen.
Oder der Anschlag mit drei Explosionen im Mai dieses Jahres auf die Mädchen einer Schule der schiitischen Minderheit Hasara in Kabul, bei der 90 Mädchen starben und über 240 verletzt wurden. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass die meisten, die nun über die furchtbaren Attacken am Flughafen erschüttert sind, sich über Jahre nicht für die Terroranschläge in Afghanistan interessiert haben. Sie waren häufig nicht mal eine Kurzmeldung wert. Das Schicksal der Menschen in Afghanistan ist in Deutschland bei der großen Mehrheit der Bevölkerung nur noch auf Schulterzucken gestoßen.
Dieses Desinteresse ist mitverantwortlich dafür, dass bisher keine Debatte darüber stattgefunden hat, wie künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr denn aussehen sollen. Welches Ziel sollen sie verfolgen, soll es sie überhaupt noch geben, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? Klar ist jedenfalls: Verfallende Staaten wie Afghanistan, Somalia, Jemen und in Kürze wohl auch der Libanon einfach sich selbst zu überlassen und den Kopf in den Sand zu stecken ist auch keine Alternative.
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