Abzug aus Afghanistan: Zivile Opfer auf den letzten Metern
Um ihren Rückzug zu sichern, haben die USA wohl Zivilisten getötet. Wer waren sie? Indes äußern sich die Taliban zum Lehrplan an Universitäten.
„Jene, die diesen Angriff ausführten, sollen wissen: Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen. Wir werden euch jagen, und ihr werdet dafür bezahlen.“ Das waren die Worte von US-Präsident Joe Biden, nachdem am vorigen Donnerstag ein Selbstmordattentäter am Kabuler Flughafen mindestens 182 Menschen umgebracht hatte, die Mehrzahl ausreisewillige Afghan:innen, aber auch 13 US-amerikanische Soldaten.
Nun kommen allerdings Zweifel daran auf, dass bei zwei US-Drohnenanschlägen am Freitag in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad und am Sonntag nahe dem Kabuler Flughafen tatsächlich die Beteiligten oder weitere Attentäter getroffen wurden.
Zum Angriff in Dschalalabad erklärte Generalmajor Hank Taylor, Vizechef des Vereinigten Generalstabs für Regionale Operationen, am Sonntag, dass dabei „zwei hochrangige ISIS-Ziele“ getötet und ein weiteres verletzt worden seien. Pentagon-Sprecher John Kirby präzisierte später, dass es sich um „ISIS-K-Planer und Verbindungsleute“ gehandelt habe.
Keiner der Sprecher sagte allerdings, dass es sich um den Planer des Flughafenanschlags gehandelt habe. Taylor fügte hinzu: „Wir wissen, dass es null zivile Opfer gab.“ ISIS und ISIS-K sind US-Abkürzungen für den „Islamischen Staat“ in Irak und Syrien und dessen afghanischen Ableger, „IS Provinz Chorasan“.
Kinder unter den Opfern
In Afghanistan wird das anders gesehen. Das auch unter den Taliban weiterarbeitende unabhängige Nachrichtenportal Ariana berichtete unter Berufung auf Anwohner, dass in Dschalalabad „ein Mann, eine Frau und ein Kind“ einer Familie getötet worden seien. Es ist bekannt, dass auch Familien von IS-Mitgliedern im Land sind. Schon unter Präsident Barack Obama hatte das Weiße Haus festgelegt, dass Personen, die sich mit „Terroristen“ unter einem Dach aufhalten, nicht als zivile Opfer geführt werden müssen.
Große Zweifel gibt es auch an einer zweiten Operation am Sonntag in Kabul, die als Präventivschlag gegen weitere Attentäter deklariert wurde, die sich dem Flughafen in einem „sprengstoffbeladenen Fahrzeug“ genähert hätten. Dabei sei laut Sprecher des Zentralkommandos des US-Militärs, Hauptmann Bill Urban, „mindestens eine mit dem afghanischen ISIS-Ableger assoziierte Person“ getötet worden. „Wir sind davon überzeugt, dass wir das Ziel getroffen haben“, sagte er.
Muslim Shirzad, ein offenbar in London lebender früherer afghanischer Universitätsdozent und Fernsehsprecher, behauptete auf Twitter, der Drohnenangriff habe neun Mitglieder einer Großfamilie getötet, drei Erwachsene und sechs Kinder im Alter zwischen zwei und zehn Jahren, und veröffentlichte ihre Namen.
Eines der Opfer sei ein afghanischer Armeeoffizier, der 30-jährige Naseer Nejrabi, ein weiteres ein früherer Dolmetscher des US-Militärs gewesen, der 40-jährige Zamaray Ahmadi. Die Familie stamme aus dem Pandschirtal und der Provinz Kapisa, die Anti-Taliban- und Anti-IS-Hochburgen sind. „Wir sind nicht ISIS-K, sondern gewöhnliche Leute“ habe ihm ein anderes Mitglied der Familie gesagt.
Geschosse in Wohnviertel umgeleitet
Am Montag konzedierte Urban, dass der Drohnenangriff mehrere Explosionen ausgelöst habe, die zu weiteren Todesopfern geführt haben könnten. Man prüfe Berichte über zivile Opfer.
Ebenfalls am Montag wurden wieder Raketen aus dem Kabuler Stadtgebiet auf den Flughafen abgefeuert. Sie schlugen in dem nahe gelegenen Stadtteil Salim Karwan ein. Afghanische Medien sprechen von mindestens sechs getöteten Zivilisten. Nach dem Bericht von Sicherheitsanalysten in Kabul habe das Raketenabwehrsystem die Geschosse abgewehrt und sie, oder Bestandteile, offenbar in ein ziviles Wohngebiet abgelenkt. Der Anschlag entspricht dem Muster früherer IS-Attacken.
Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid drückte am Wochenende seine Hoffnung aus, dass „vom IS beeinflusste Afghanen ihre Aktionen aufgeben werden, wenn sie sehen, dass eine islamische Regierung ganz ohne die Präsenz von Ausländern gebildet wird“.
Am Dienstag endet der fast 20 Jahre dauernde Militäreinsatz in Afghanistan. Über die von den USA koordinierte Luftbrücke konnten seit dem 14. August, kurz vor der Machtübernahme der Taliban, gut 116.000 Menschen evakuiert werden. Noch immer warten Tausende auf ihre Evakuierung.
Wider die „moralische Korruption“
Mehr Einzelheiten gibt es inzwischen über die am Sonntag von den Taliban angeordnete Aufhebung der Koedukation an Afghanistans Universitäten. Bei einer Konferenz im Kabuler Hochschulministerium, zu der nur Männer zugelassen waren, kündigte der neue Taliban-Fachminister, der Geistliche Maulawi Abdul Baki Hakkani, zunächst an, dass „Jungen und Mädchen“ weiter die Universitäten besuchen dürften, jedoch nicht mehr in gemeinsamen Klassen, und dass „moralische Korruption“ an den Campussen eliminiert werde.
Es solle einen neuen, „vernünftigen islamischen Lehrplan in Übereinstimmung mit unseren islamischen, nationalen und historischen Werten“ geben, der gleichzeitig wettbewerbsfähig mit anderen Ländern sei. Auch in der Grund- und Oberschule sollen Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden. Hakkani warf „einigen Ländern“ vor, dass sie Akademiker absichtlich aus dem Land brächten. Ausländische Unterstützung sei indes willkommen.
Hochschullehrer Sami Mahdi befürchte auf Twitter, dass seinen Studentinnen mangels genügend Dozentinnen „das Recht auf Bildung vorenthalten“ wird. Es gehe aber nicht nur um fehlende Lehrkräfte, sondern um „die Idee dahinter“.
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