Abschlussbericht zu Missbrauchsfällen: Odenwaldtäter beim Namen genannt
Der vorläufig letzte Bericht zu Opfern sexuellen Missbrauchs an der einstigen Vorzeigeschule bringt weitere furchtbare Details ans Licht. Aufklärerinnen nennen Täter wirklich Täter.
HEPPENHEIM taz | Die beiden unabhängigen Aufklärerinnen der Odenwaldschule haben sich zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Sie bezeichnen die übergriffig gewordenen Lehrer der Odenwaldschule tatsächlich als Täter - und nennen sogar ihre Namen. Vier Männer seien eindeutig als Täter zu identifizieren, darunter auch der noch lebende Jürgen Kahle. Er sei durch sadistisches Quälen und Erniedrigen aufgefallen.
Der Haupttäter war allerdings Gerold Becker, auch Wolfgang Held und Gerhard Trapp gelten als schuldig. Nach den bisher vorliegenden Meldungen gibt es 111 Opfer sexueller Übergriffe. Weitere 21 Schüler sind Betroffene, weil sie Zeugen der Übergriffe wurden.
Die Gerichtspräsidentin a. D. Brigitte Tilmann sagte am Freitag, Ziel ihrer Arbeit sei nicht die strafrechtliche Verurteilung der Täter gewesen. Diese sei gar nicht möglich, weil die Taten ausnahmslos verjährt seien. "Aber deswegen können die Vergehen nicht ungeschehen gemacht werden." Es liege eine derartige Fülle von Hinweisen vor, "dass wir hinsichtlich der ihnen vorgeworfenen sexuellen Übergriffe eine Stufeneinteilung vornehmen können".
Dem langjährigen Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker werden 86 männliche Betroffene zwischen 12 und 15 Jahren zugerechnet. Die Aufklärerinnen bezeichnen Becker als klassischen Pädophilen oder Pädosexuellen. "Sein Interesse als erwachsener Mann war vornehmlich auf Kinder gerichtet, die noch nicht geschlechtsreif waren." Das Interesse des Schulleiters sei erloschen, "sobald eine Behaarung der primären Geschlechtsorgane sichtbar war".
Die beiden Aufklärerinnen gehen davon aus, dass Täter wie Becker im Schnitt 283 Jungen missbrauchen. Er müsse sich, bei seiner Neigung, an der Odenwaldschule in permanentem Erregungszustand befunden haben. Die beiden Frauen gehen auch davon aus, dass es ein System des Missbrauchs an der Odenwaldschule gab. Sie begründen dies unter anderem damit, dass insgesamt vier Schulleiter bei der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs versagt hätten: Wolfgang Schäfer, Gerold Becker, Wolfgang Harder und auch Whitney Sterling, der bis 2007 Schulleiter war.
Diese Rektoren hätten Berichte über sexuellen Missbrauch bekommen, seien ihnen aber nicht nachgegangen und hätten sie vertuscht. Brigitte Tilmann sagte: "Mich empört es, dass das damals vernebelt wurde." Sie meinte dies besonders in Bezug auf den Täter Wolfgang Held, der bereits in den 60er Jahren gemeldet worden war, vom damaligen Schulleiter Schäfer aber geschützt wurde. Unter Schulleiter Gerold Becker waren solche Meldungen ohnehin zwecklos. Er habe Schülern, die sich trauten, Übergriffe zu melden, mit Schulverweis gedroht.
Die beiden Aufklärerinnen nennen ihren 35-seitigen Text nun doch Abschlussbericht. "Die Schule soll zur Ruhe kommen. Sie soll jetzt ihre Gegenmechanismen erarbeiten und entwickeln." Burgsmüller und Tilmann wollen aber keinen Schlussstrich ziehen. Sie sagen, es sei nur ein Dunkelfeld erhellt worden. Nun sei eine wissenschaftliche Aufarbeitung nötig. Alle, die sich melden wollen, könnten dies weiterhin bei ihr oder beim Betroffenenverein Glasbrechen tun. Die beiden Frauen dankten der derzeitigen Schulleiterin Margarita Kaufmann, ohne die die Aufklärung unmöglich gewesen wäre.
Zur Frage der Entschädigung der Opfer konnte die Odenwaldschule am Freitag aber nach wie vor keine Auskünfte geben. Im Februar werde über die Einrichtung einer Stiftung gesprochen, die mit einem noch unbekannten Beitrag der Schule und mit Spenden bedient werden soll, sagte Kaufmann. Dem Betroffenenverein Glasbrechen reicht das nicht. Sein Vorsitzender, Adrian Koerfer, sagte: "Wir erwarten einen substanziellen Betrag." Dabei geht es um direkte Zahlungen - die Einrichtung einer Stiftung halten die Betroffenen für viel zu langwierig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Neue israelische Angriffe auf Damaskus
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad