Abschied von der Entschuldigung: Ein Leben ohne Demutsgeste
Ist es richtig, das Entschuldigen aufzugeben, weil andere es als Zeichen der Schwäche deuten? Der Ethikrat ist durch einen Zahn-Fund abgelenkt.
K ürzlich entschuldigte sich eine Bekannte auf einer Konferenz, weil sie länger als eine Minute brauchte, um einen komplizierten Antrag umzuformulieren. Sie entschuldigte sich mehrmals, und ich dachte, dass nur Frauen sich prophylaktisch entschuldigen, es ist wie eine vorauseilende Demutsgeste, um Schläge zu vermeiden. Ich erwog, mich selbst in einem Selbstversuch eine Woche lang nicht zu entschuldigen, aber ich war unsicher, ob der Kollateralschaden der dann unterlassenen, aber eigentlich angemessenen Entschuldigungen zu hoch wäre, und außerdem kamen mir andere Dinge dazwischen.
Ich entschuldigte mich in der Folge bei der Nachbarin, die Corona bekam, sieben Tage, nachdem ich sie besucht hatte – mit negativem Coronatest, der zwei Tage später ins Positive umschlug. Ich entschuldigte mich für unberechtigtes Anpöbeln bei meiner Tochter, die mich fragte, wozu meine Entschuldigung gut sei, wenn ich doch wieder pöbeln würde. Ich entschuldigte mich zähneknirschend bei einem Freund, der meinen barschen Ton moniert hatte, und fragte mich, warum ich die Deutungshoheit über die Notwendigkeit einer Entschuldigung anderen überließ.
Dann ging ich ins Café, wo ich niemanden kenne und mich selten entschuldigen muss. Aber als ich an der Garderobe meinen Mantel aufhing, stolperte jemand über meine Tasche und schüttete einen Becher heißen Kakao über mich.
„Verzeihung“, sagte ich zornig. „Das macht doch nichts“, sagte der Kakaoträger, und ich erkannte den Vorsitzenden des Ethikrats. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.
Der Vorsitzende reichte mir ein Stofftaschentuch, das mit grüner Spitze eingefasst war. „Danke“, sagte ich, „wo sind Ihre Kollegen?“ „Sie nehmen an einem Seminar zum Schweigen des Philosophen teil“, sagte der Vorsitzende. Da die Kollegen des Vorsitzenden in der Regel ohnehin schwiegen, schien mir ihre Teilnahme am Seminar müßig, aber warum etwas Gehässiges formulieren, wofür man sich erneut entschuldigen muss. „Könnte ich Sie in einer praktischen Frage konsultieren?“, fragte ich stattdessen. „Natürlich“, sagte der Vorsitzende und wies einladend auf eine Bank. Ein Kellner erschien, der die Frage des Vorsitzenden nach veganer Torte mürrisch aufnahm.
„Mich treibt der Umgang mit Entschuldigungen um“, sagte ich. „Mir scheint, dass sich in der Regel die Falschen entschuldigen: defensive Menschen, meist Frauen, für Lappalien oder weil sie ihren eigenen, viel zu hohen moralischen und sozialen Ansprüchen nicht immer genügen. Während diejenigen, die Anlass für eine Entschuldigung hätten, es so gut wie nie tun.“ Der mürrische Kellner brachte die Torte, die einen ältlichen Eindruck machte.
„Sich zu entschuldigen gilt als Zeichen von Schwäche“, fuhr ich fort, „und ich frage mich, ob man sich dem beugt und es lässt.“ Der Ratsvorsitzende zerteilte sein Tortenstück und stieß dabei mit der Gabel auf etwas Festes, das sich als Zahn erwies. „Oder wäre es souveräner, für die begründete Entschuldigung als soziale Norm zu kämpfen?“, fragte ich. Der Vorsitzende wickelte den Zahn in eine Serviette und näherte sich dem Kellner, der an der Kuchenvitrine hantierte.
„Junger Mann“, sagte er und legte den Zahn auf die Vitrine. „Ist das nicht erstaunlich?“ Der Kellner schien desinteressiert. „Das sind die Bios“, nuschelte er, „die rühren alles rein, Hühnerfüße, Hühnerzähne, Hundezähne.“ „Sicher wissen Sie, dass der Zahn Symbol der Kraft ist“, sagte der Ratsvorsitzende befriedigt, als handle es sich um eine persönliche Auszeichnung. „Das rechtfertigt nicht alles“, sagte der Kellner und verschwand in der Küche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen