Abrechnung mit Großbritannien: Ein ganzes Königreich ist krank
Der britische Schriftsteller John Burnside wird Ende April mit Verdacht auf Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert. Das öffnet ihm die Augen.
In der Walpurgisnacht Ende April wurde ich mit Atemproblemen und trockenem Husten in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Symptome wiesen – auch weil ich in einem wirren Geisteszustand war – auf eine Covid-19-Infektion hin. Ich war schon seit einer Weile in Selbstisolation und dachte, ich müsse mich nur ausruhen und genug Flüssigkeit zu mir nehmen, dann würde sich mein Zustand bessern. Ich ignorierte eindeutige Warnsignale und brach zusammen. Alles, was ich von dieser Situation noch weiß, ist, dass ich halluzinierte, als der Krankenwagen kam.
Elegante schwarze Fledermäuse kreisten um die Bahre, als ich durch einen verlassenen Krankenhauskorridor in den Bereich für die Coronafälle geschoben wurde, die sie „Rote Zone“ nannten. Dort sollte ich die kommende Woche verbringen. Die Sanitäter waren mit Masken, Visieren und Schutzkleidung ausgestattet und sahen aus, als seien sie direkt William S. Burroughs’ Roman „The Naked Lunch“ entstiegen. Immer wenn ich mich bewegte, hörte ich schräge, schauerliche Musik, als ob irgendwo außerhalb meines Sichtfelds ein imaginärer Chor eine Totenmesse sänge.
Niemand schenkt der Walpurgisnacht heute größere Beachtung. In Goethes „Faust“ wird sie als „wahres Hexenelement“ beschrieben, als Nacht, in der ein wilder Haufen von Hexen und Monstern im Harz zu einem dämonischen Festival zusammenkommt. Diese Vorstellung ist eine christliche Abwandlung des keltischen Beltanefeuers, bei dem sich ganze Gemeinschaften zu Reinigungsritualen nach einem langen, von Krankheiten beherrschten Winter treffen.
Als ich ins Krankenhaus kam, war mir dieser Zusammenhang nicht bewusst. Ich war gar nicht in dem Zustand, um mir über das Datum Gedanken zu machen. Aber später, als die akute Notfallbehandlung vorbei war, schien mir diese Koinzidenz gut zu passen.
Eine Art Neumittelalter
Denn über die vergangenen Monate ist mein Heimatland in eine Art Neumittelalter verfallen, in dem Aberglaube und eine herzlose Orthodoxie gesiegt haben – auf der Grundlage von Anspruchsdenken, Zynismus und vorsätzlicher Ignoranz. Aufgeklärtes Denken dagegen wird verachtet; wissenschaftliche Methoden werden belacht und verleugnet, wichtige Warnungen ignoriert.
Die Beziehung zu unseren europäischen Nachbarn wurde von Leuten beschädigt, die man als wütenden Mob bezeichnen könnte, getrieben von Ausländerfeindlichkeit, zum Teil von dem Mann, der nun unser Premierminister ist. Auch Großbritannien ist seit längerer Zeit krank, so wie ich es war. Ohne zu wissen, wie krank.
Die Nachricht, die vielleicht am besten zeigt, wie abgehoben unsere Herrschenden sind, ist die der jüngsten Eskapaden von Dominic Cummings, dem „Architekten des Brexit“ und heutigen Chefberater Boris Johnsons. Cummings, der Urheber jener Regeln, die darüber bestimmen, wie der Lockdown während der Pandemie eingehalten werden soll, missachtete die Regeln selbst, als er über 430 Kilometer zu seiner Familie nach Durham fuhr, obwohl er und seine Frau Covid-19-Symptome gezeigt hatten.
Während des Besuchs machte er mit seiner Frau noch einen Ausflug an einen schönen Aussichtspunkt in der Gegend, bevor er nach London zurückkehrte. Stand heute darf Cummings in der Downing Street bleiben, er wurde nicht einmal vom Premierminister gemaßregelt. Es sind schon Leute wegen weniger bestraft oder entlassen worden.
Tatsächlich wurde die einzige Rüge in dieser Angelegenheit gegenüber einer hoch angesehenen Journalistin ausgesprochen. So rügte die BBC ihre Moderatorin Emily Maitlis, die die Kühnheit hatte, darauf zu beharren, dass Cummings mit seinem Verhalten „die Regeln gebrochen“ habe – und dass die Leute deshalb wütend seien.
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Dabei waren Maitlis’ Worte eine gemäßigte Einschätzung der Lage. Viele, darunter auch einige Tory-Abgeordnete, kritisierten Cummings schärfer. Sogar ein paar Geistliche der Kirche von England wie John Inge, Bischof von Worcester, kritisierten nicht nur Cummings Verhalten, sondern auch seine rücksichtslose Haltung. Dafür erhielten sie, unvermeidlicherweise, Morddrohungen.
Während meines Krankenhausaufenthalts habe ich mich trotz des ominösen Datums keinen reinigenden Feuerritualen unterzogen (es stellte sich heraus, dass ich kein Covid-19-Fall war, aber an Herzversagen litt, nachdem ich meine Gesundheit monatelang vernachlässigt hatte). Alles, was die Ärzte tun konnten, war meine heftig infizierte Lunge zu behandeln, mich mit Sauerstoff zu versorgen und das Beste zu hoffen. Weil ich die Tür zur Roten Zone aber bereits durchschritten hatte, musste ich auch isoliert werden.
Nie zuvor war ich wirklich isoliert
Nun ist es so: Eigentlich mag ich es, allein zu sein. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich es wahrscheinlich begrüßt, eine Zeit lang in mönchartiger Abgeschiedenheit zu leben. Jetzt war es anders. Als ich allein in meinem Bett lag, verkabelt mit verschiedenen Monitoren und Tröpfen und durch eine Maschine atmend, fiel mir auf: Ich mag schon oft in meinem Leben allein gewesen sein, aber ich war nie zuvor isoliert.
Wenn einer der Monitore aufleuchtete, kam eine Krankenpflegerin, um nach mir zu sehen; wenn ich mich unwohl fühlte oder durstig war oder wenn mir kalt war, kam jemand, und innerhalb weniger Momente verbesserte sich meine Lage. Ich konnte die Gesichter der Pflegerinnen nicht sehen, manchmal konnte ich nicht einmal ihre Worte verstehen, aber ich war emotional überwältigt von ihrer Geduld, ihrer unermüdlich guten Stimmung.
Natürlich schätzte ich es, dass sie professionell arbeiteten, dass sie die Standardabläufe so gut beherrschten – und in gewisser Weise war genau das der Punkt. Keiner dieser Leute, Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, Assistentinnen und Assistenten, Pförtnerinnen und Pförtner, dachte, dass die Regeln für sie nicht gelten würden oder dass ich als DNR-Patient („Do not resuscitate“-Patient, ein „Nicht-wiederbeleben-Patient“, als der Burnside eingestuft wurde, Anm. d. Red.) weniger wichtig wäre als jeder andere Patient. „We were all in this together“ lautet ein weitverbreiteter Spruch – ich fühlte mich also nie richtig isoliert.
Was isoliert eigentlich bedeutet, wurde mir bewusst, als ich wieder nach Hause kam und die Berichterstattung über die Cummings-Affäre verfolgte – ein Skandal, der eindeutig zeigte, wie irre isoliert die oberen Schichten der britischen Gesellschaft sind. Boris Johnson, der im Vorfeld des Referendums 2016 Wählerinnen und Wähler belogen hat, will derzeit mitsamt seinen Kumpanen von der schieren Katastrophe des eingeschlagenen Covid-19-Sonderwegs ablenken, die dazu führte, dass Großbritannien, nach Trumps USA, die zweithöchste Anzahl an Coronavirus-Todesfällen weltweit aufweist (mehr als 39.000 zu Beginn dieser Woche).
Es ist zu früh für eine Aufarbeitung dieser Politik, aber eines ist klar: Genau wie in den USA haben ein Mangel an Vorbereitung, die Diskriminierung der unteren sozialen Schichten, verschlimmert noch durch Rassismus, und das Missmanagement der Regierung dazu geführt, dass Westminster den Schutz seiner schwächsten Bürgerinnen und Bürger nicht gewährleisten konnte. Wie Trump haben auch wir spät reagiert, und als wir reagiert haben, ließen wir zynischerweise die Experten außen vor.
In der Tat glauben viele Menschen in diesem Land daran, dass die Regierung Covid-19 erst von dem Zeitpunkt an ernst genommen hat, als Boris Johnson selbst erkrankte und sich auf der Intensivstation wiederfand.
Ganz sicher hat die gesellschaftliche Klasse eine wichtige Rolle gespielt, wenn es um die Haltung zu Corona ging, wie die Journalistin Emily Maitlis in der Sendung herausstellte, für die sie gerügt worden war: „Die Krankheit ist kein großer Gleichmacher, an ihr leidet nicht jeder – ob arm oder reich – in gleichem Maße“, sagte sie. „Das ist ein Mythos, den es zu entlarven gilt.
Bei denen, die jetzt an vorderster Front arbeiten – Busfahrer und Regalbefüller, Krankenpflegerinnen, mobile Pflegekräfte, das Krankenhauspersonal und Ladenbetreiber –, handelt es sich um die am schlechtesten bezahlten Arbeitskräfte überhaupt. Es ist wahrscheinlicher, dass sie sich anstecken, weil sie mehr Risiken ausgesetzt sind.“
Wenn ich heute zurückschaue, staune ich immer noch bei dem Gedanken, dass meine eigene kleine Walpurgisnacht mich fast getötet hätte, aber ich kann deutlich sehen, dass mein Weg in die Rote Zone gepflastert war von bewusst übersehenen Warnschildern, Umwegen und von Wunschdenken.
Es mag kokett erscheinen, von meiner persönlichen Krise auf das ganze Land zu schließen, aber die Parallelen gibt es zweifelsohne. Wie ich war auch die Regierung ein Opfer von Trägheit und Verleugnung; wie ich steuerte sie in einen fast tödlichen Sturm. Während ich aber heute meine eigene Dummheit bereue, beharren unsere Herrschenden auf ihrer Auffassung von Privilegien und Anspruchsdenken, sie sind zu isoliert in ihrer Abgehobenheit, als dass sie irgendetwas unternehmen würden, um öffentliches Vertrauen wiederherzustellen.
Aber so, wie sich diese Farce entwickelt, hege ich allmählich die zarte Hoffnung, dass auch die Briten – ähnlich wie das katastrophale Trump-Regime vielen Leuten die eklatanten Seiten des American Dream aufgezeigt hat – zu begreifen beginnen, wie schlecht wir dastehen, mit dieser pöbelnden, selbstgefälligen Regierungsclique, die aus mächtigen und inkompetenten Millionären besteht, alten Eton-Absolventen und PR-Strategen.
Die Macher des Brexit
Sie waren die Macher des Brexit, und sie sind jetzt dabei, die (relative) Pressefreiheit zu beschädigen und das, was von der Zivilgesellschaft geblieben ist. Errungenschaften, die schon seit der Thatcher-Ära im Belagerungszustand sind.
Was klar ist: Wir brauchen eine nationale Walpurgisnacht, einen Reinigungsprozess, in dem lange unterdrückte Kräfte wiedererweckt werden. Die Covid-19-Pandemie ist auf keinen Fall vorbei. Aber wenn wir uns auf eine Zeit danach vorbereiten, so sollten wir, die unterwürfigsten Elemente der kapitalistischen Gesellschaft, am Ende eine Politik einfordern, die auf geteiltem Risiko, den Bedürfnissen der Gemeinschaft und auf gegenseitigem Respekt basiert.
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Uthoff.
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