Abgehängte Pflegeheim-BewohnerInnen : Weh dem, der im Rollstuhl sitzt
Viele BewohnerInnen Bremer Pflegeheime bleiben isoliert: Auf eine Nacht Ausgang steht Quarantäne und richtig dumm dran ist, wer einen Rolli braucht.
Aufgrund des Abstandsgebotes, so Babitzke, dürften nämlich nur Verwandte ersten Grades ihre Angehörigen im Rollstuhl bewegen. Sie selbst darf also ihren Sohn aus dem Zimmer schieben, mit ihm spazieren gehen oder ihn zur Ergotherapie bringen. „Ich bin aber berufstätig und habe keine Zeit, ihn zweimal in der Woche zur Therapie zu bringen“, sagt sie. Und andere Angehörige ersten Grades gebe es nicht.
Das Pflegepersonal hat ebenfalls keine Zeit: Die Personaldecke ist wegen Corona noch ausgedünnter als ohnehin schon, hinzu kommt Mehrarbeit, denn zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben müssen die Pfleger*innen alle Besucher*innen registrieren, Zimmer regelmäßig und aufwendig desinfizieren und weitere Tätigkeiten ausüben, die mit den strengen Hygienevorschriften aufgrund der Coronapandemie zusammenhängen. „Normalerweise dürfen Bewohner ja auch wieder Besuch auf ihren Zimmern empfangen“, so Babitzke, „aber die Pflegekräfte motzen, dass sie nachher dann wieder alles desinfizieren müssen.“ Zeit, um ihre Sohn zusätzlich auch noch zur Ergotherapie zu bringen, hat niemand.
Die Mitarbeitenden in der Einrichtung seien überfordert, das zeige sich auch an Mängeln in der Pflege: „Die Bewohner werden trotz der Hitze nur einmal in der Woche geduscht, auf Mundhygiene wird kaum geachtet“, so Babitzke. Aktivierende Pflege fehle mittlerweile gänzlich. Ihr Sohn, der eigentlich stehen könne, werde ausschließlich mit einem Lifter transportiert, „weil das schneller geht“.
„Anlassbezogene Prüfung“ angekündigt
Auch andere Angehörige von Bewohner*innen der Einrichtung kritisieren Mängel. Eine davon, Bahar Yavasoglu, berichtete am vergangenen Dienstag bei „Report Mainz“ über die Situation ihres pflegebedürftigen Ehemannes. Ihre Erfahrungen bestätigt Babitzke: „Mein Sohn hat seit dem Lockdown immer weiter abgebaut.“
Die Einrichtung bestritt gegenüber „Report Mainz“ pflegerische Defizite, räumte aber ein, dass „einige Therapien während der Quarantäne“ – also in der Zeit, als nicht einmal Angehörige in die Einrichtungen durften – nicht durchgeführt werden konnten, „um das Risiko einer möglichen Ansteckung für unsere Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen so gering wie möglich zu halten.“ Da die bei der Sozialsenatorin angesiedelte Wohn- und Betreuungsaufsicht unterdessen aber einige Beschwerden über die Einrichtung erhalten hat, soll diese nun laut Behördensprecher David Lukaßen einer „anlassbezogenen Prüfung“ unterzogen werden.
Das Problem mit der Ergotherapie scheint indes gelöst: „Gestern wurde eine, auch mit dem Gesundheitsamt abgestimmte, Lösung gefunden, die den wichtigen Besuch bei der Ergotherapie sicherstellt“, so Lukaßen am Mittwoch. Aber was ist mit all den anderen Pflegeheimbewohner*innen, die ebenfalls auf den Rollstuhl angewiesen sind? Auch für jene müssten aus Sicht der Sozialbehörde bessere Lösungen gefunden werden, sagt Lukaßen. Zuständig sei aber die Gesundheitsbehörde. Dort heißt es, man erkenne die Problematik zwar, dennoch müsse der Infektionsschutz an erster Stelle stehen.
Nicht nur Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, bleiben trotz Lockerungen der Besuchsregelungen in weiten Teilen isoliert: „Wenn ein Bewohner aus dem Krankenhaus oder der Reha kommt, muss er zwei Wochen lang in Quarantäne“, berichtet Babitzke. Ihr sei der Fall eines Mannes bekannt, der innerhalb kurzer Zeit zweimal ins Krankenhaus musste: „Als er zum zweiten Mal in die Klinik kam, befand er sich noch in Quarantäne aufgrund des ersten Krankenhausaufenthalts. Und nun ist er schon wieder isoliert – und das, obwohl er negativ auf Corona getestet wurde.“
Das komme durchaus öfter vor, sagt Reinhard Leopold, Regionalsprecher des Pflegeschutzbundes Biva und Gründer der Bremer Angehörigen-Initiative „Heim-Mitwirkung“. Heim-Bewohner*innen seien sogar unter Quarantäne gestellt worden, nachdem sie von einem Familienbesuch oder einem Spaziergang zurück in die Einrichtung gekommen seien. „Es kann ja nicht sein, dass Rückkehrer aus Risikogebieten bei Vorlage eines negativen Test nicht in Quarantäne müssen, Bewohner von Pflegeheimen aber in jedem Fall isoliert werden“, sagt er.
Gesundheitsbehörde findet Quarantäne sinnvoll
Die Verhängung von Quarantäne durch eine Pflegeeinrichtung sei rechtswidrig, sagt Leopold. Denn die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) seien keine verbindlichen Regelungen, sondern lediglich Richtlinien. Quarantäne-Maßnahmen könnten auf Basis des Infektionsschutzgesetzes nur vom Gesundheitsamt verhängt werden. Eine Pflegeeinrichtung selbst könne und dürfe das nicht.
Allerdings, so heißt es aus der Sozialbehörde, folgten die Pflegeheime durchaus der Gesundheitsbehörde, die nämlich die Richtlinien des RKI ausdrücklich empfehle. „Frau Stahmann und unser Ressort werben dafür, im Rahmen der Teststrategie zu einer Änderung dieser Praxis zu kommen“, sagt Behördensprecher Lukaßen. „Personen sollten unseres Erachtens beim Zugang getestet und dann nach zwei Tagen noch einmal getestet werden. Wenn sie negativ getestet worden und symptomfrei sind, sollte es keine Quarantäne geben.“
„Beim Zugang getestet“ werden sollte auch nach dem Willen des Gesundheitsamtes, sagt Lukas Fuhrmann, Sprecher der Gesundheitsbehörde. Allerdings, räumt er ein, dies sei nicht Teil der Corona-Rechtsverordnung. Und: Die in den Einrichtungen verhängte Quarantäne ist in seinen Augen sinnvoll, „da sich die Bewohner*innen in einer höchst vulnerablen Umgebung befinden“.
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