AKW Saporischschja: „Die Gefahren nehmen zu“
Zwei Jahre nach dem russischen Überfall auf das ukrainische Atomkraftwerk nennt Bürgermeister Orlow die Lage dort kritisch. Den Besatzern macht er Vorwürfe.
taz: Herr Orlow, an diesem Sonntag, dem 3. März, jährt sich der russische Überfall auf das Atomkraftwerk Saporischschja im südukrainischen Städtchen Enerhodar zum zweiten Mal. Sie sind Bürgermeister des Ortes, mussten aber wegen der Besatzung ins benachbarte Saporischschja fliehen: Wie ist die Lage in Enerhodar heute?
Dmitro Orlow: Aktuell erhöhen die Besatzer den Druck auf die einheimische Bevölkerung. Es sind nur noch wenige, die zurückgeblieben sind und sich nach wie vor weigern, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Und diese wenigen sind einem ständigen Druck der Besatzer ausgesetzt. Sie verhalten sich möglichst still, tun alles, um nicht aufzufallen. Sie gehen nur im Notfall auf die Straße, weil sie wissen, dass sie bei Straßenkontrollen Probleme bekommen können. 80 Prozent der Bewohner von Enerhodar wohnen nicht mehr hier. Einfach deswegen, weil sie nicht mit den Besatzern zusammenleben wollen. Zurückgeblieben sind vor allem ältere Menschen, aber auch jüngere Menschen, die die Besatzer nicht gehen lassen wollen. Einige von ihnen wurden gefoltert.
39, ist seit November 2020 Bürgermeister der Stadt Enerhodar, auf deren Territorium das AKW Saporischschja liegt. Wegen der russischen Besatzung lebt er aktuell in der nahen Stadt Saporischschja.
Was passiert, wenn sich jemand weigert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen?
Es ist sehr schwer, in Enerhodar ohne russischen Pass zu leben. Viele haben 2023 die russische Staatsbürgerschaft angenommen. Aber sie sind faktisch dazu gezwungen worden. Sie hatten aus Angst um ihre Gesundheit und ihr Leben so gehandelt. Was willst du machen, wenn dich die Besatzer in deiner Wohnung aufsuchen, bewaffnet, und dir sagen, dass du Probleme bekommen wirst, wenn du bis morgen noch keinen russischen Pass beantragt hast? Das sind keine leeren Drohungen. Manch einer dort ist entführt worden. Dutzende sind aktuell in Haft, teilweise schon ein halbes Jahr, wo sie gefoltert werden. Das sind gewöhnliche Menschen. Sie wollen einfach keinen russischen Pass. Irgendwann hat man sie auf der Straße angehalten und mitgenommen.
Wie ist es um die Versorgung in Enerhodar bestellt?
Es gibt Strom, Heizung, fließendes Wasser, wenn auch nicht ständig. Dass die Versorgung mehr oder weniger klappt, liegt auch daran, dass viele Dieselgeneratoren im Einsatz sind.
Und wie sieht es jetzt aus in Enerhodar?
Die meisten Wohnungen sind leer. Oftmals sehen Verwandte oder Freunde in den leeren Wohnungen nach dem Rechten. Aber es gibt auch Menschen, die nach Enerhodar ziehen. Das sind zum einen Bewohner von ebenfalls besetzten Nachbarortschaften, die davon ausgehen, dass auf Enerhodar wegen des AKW nicht geschossen wird. Da fühlen sie sich sicher vor Beschuss und führen gleichzeitig ein relativ komfortables Leben. Es kommen aber auch Menschen aus Russland.
Mit welcher Absicht?
Das sind in der Regel Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind. Diesen haben die Besatzer gewisse soziale Garantien gegeben. Eine davon ist, dass sie eine Wohnung erhalten. Ich frage mich allerdings schon, ob diesen Menschen klar ist, dass sie in Wohnungen von anderen Menschen leben, sie also faktisch anderen ihre Wohnung wegnehmen. Die wohnen da nicht nur, sie haben Türen aufgebrochen, nehmen mit, was sie gebrauchen können. Und so was heißt dann Sozialprogramm.
Wie sieht es im AKW aus?
Seit Anfang Februar verbieten die Besatzer allen Mitarbeitern des AKW, die sich weigern, einen Arbeitsvertrag mit der russischen Rosatom zu unterzeichnen, den Zutritt. Wir haben also zwischen 120 und 180 hochqualifizierte Fachleute, die zwar in Enerhodar geblieben sind, aber das AKW nicht betreten dürfen. Diese Leute kann man nicht einfach durch andere ersetzen. Andere hoch qualifizierte Fachkräfte leben schon nicht mehr hier. Dieser Fachkräftemangel wirkt sich natürlich auf die Sicherheit des AKW aus.
Wie ist es um diese bestellt?
Ich muss leider feststellen, dass die Situation im AKW kritisch ist. Das sieht man auch bei dem ukrainischen Betreiber Energoatom und der ukrainischen staatlichen Regulierungsbehörde so. Neben dem Fachkräftemangel kommt ein weiteres Problem hinzu: Man weiß nicht, was man mit dem nuklearen Brennstoff in den Reaktoren machen soll. Dieser hat zum großen Teil schon seine Laufzeit überschritten. Das ist übrigens ein Problem, das es früher nie gegeben hatte. Im AKW müssten qualitativ hochwertige und komplette Reparaturarbeiten vorgenommen werden. Doch das wird seit zwei Jahren nicht geleistet. Darunter leiden natürlich Geräte und Ausrüstung.
Welche Risiken sehen Sie noch?
Hinzu kommt, dass sich auf dem Gelände viele Militärpersonen aufhalten. Dort werden Waffen, auch schwere Waffen, in einer Pufferzone gelagert. Und: Seit zwei Jahren produziert dieses AKW keine Energie mehr. Inzwischen ist dort zwar auch Personal aus russischen Atomkraftwerken beschäftigt. Aber die kennen dieses spezielle AKW nicht. Sie müssten also eine intensive Schulung durchlaufen. Aber so etwas können die Besatzer nicht leisten.
Es gibt dort aber doch ein Schulungszentrum?
Das Schulungszentrum wurde damals direkt beim Überfall weitgehend zerstört. Und die am Schulungszentrum tätigen Lehrkräfte leben nicht mehr in Enerhodar. Kurzum: Die Gefahren nehmen zu.
Was haben die Besatzer mit Ihrer Stadt gemacht?
Das Einzige, was sie geschafft haben, war, die Stadt zu entvölkern, das AKW wichtiger Arbeitskräfte zu berauben und den Staudamm zu entleeren. Noch ist die Lage in den Kühlbecken weitgehend stabil. Aber wie soll man diese Kühlbecken wieder auffüllen, jetzt, wo der Staudamm nicht mehr da ist?
Soll das AKW eines Tages wieder in Betrieb gehen?
Technisch wird es sehr schwer sein, Europas größtes AKW wieder zum Laufen zu bringen. Möglich ist das erst, wenn man das AKW von den Besatzern befreit hat. Man muss die gesamte Ausrüstung ausführlich untersuchen. Man muss auch die inzwischen abgelaufenen Betriebsgenehmigungen erneuern – mit all den damit einhergehenden technischen Herausforderungen. Doch sobald das Gebiet dort befreit ist, werden sich unsere Techniker an diese Aufgaben machen. Wir glauben daran, dass wir das schaffen werden.
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