AKW Saporischschja in Ukraine: Nukleare Unsicherheitszone
Putin hat ein Dekret unterzeichnet, um das AKW unter russische Verwaltung zu stellen. Eine Sicherheitszone halten Expert:innen für unrealistisch.
taz | Noch in dieser Woche wird Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde nach Kiew, Enerhodar und Moskau reisen. Es geht um nichts weniger als die Abwendung einer möglichen Katastrophe in Europas größtem Atomkraftwerk, dem AKW Saporischschja. Erklärtes Ziel der Reise ist die baldige Schaffung einer Sicherheitszone um das Atomkraftwerk in der 160 Kilometer entfernten Stadt Enerhodar.
Dort ist die Lage tatsächlich sehr angespannt. Am 4. März war Enerhodar und das Atomkraftwerk Saporischschja, das in der Stadt liegt, von russischen Truppen überfallen und besetzt worden. Seitdem müssen die ukrainischen Mitarbeiterinnen unter russischer Besatzung arbeiten. Eine Situation, auf die niemand vorbereitet war.
Zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 2022 war der Kontakt zwischen dem AKW und der IAEA in Wien abgebrochen. Immer wieder, so berichten ukrainische Medien, seien das Kraftwerk und seine Hochspannungsleitungen von russischen Truppen beschossen worden. Russland beschuldigt seinerseits die Ukraine. Das ukrainische Militär hat einen Beschuss um das Gebiet des AKWs bisher zweimal eingeräumt.
Am 25. August lagen alle sechs Reaktoren des AKWs still, einen Tag später waren zwei Reaktoren wieder am Netz. Anfang September hatte Grossi mit einer Delegation der IAEA das AKW besucht. Die Zusammenarbeit zwischen den russischen Besatzern und dem ukrainischen Personal klappe auf professioneller Ebene einigermaßen, hatte er damals verlauten lassen.
Ihor Muraschow, bis vor Kurzem Generaldirektor des AKW Saporischschja, ist hier sicherlich anderer Meinung. Er war am 30. September von russischen Militärs festgenommen und an einen unbekannten Ort verschleppt worden. Vor allem den Vermittlungen von IAEA-Chef Grossi ist es zu verdanken, dass er am 3. Oktober wieder freigelassen wurde, berichtet der Atomkonzern Energoatom auf seinem Telegram-Kanal.
Entführter Generaldirektor
Auch russische Medien bestätigen diese Entführung, jedoch in einem ganz anderen Duktus. Man habe den Generaldirektor auf ein von der Ukraine kontrolliertes Gebiet abgeschoben, weil er „die Organe der Russischen Föderation diskreditiert hat“, berichtet das Portal rambler.ru unter Berufung auf den russischen Fernsehsender Rossia 24. Muraschow habe zugegeben, der ukrainischen Seite Informationen über den aktuellen Stand im AKW übermittelt zu haben.
Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben des Chefs eines ukrainischen Atomkraftwerks, die Zentrale des Atomkonzern Energoatom auf dem Laufenden zu halten. Die Entführung ist offensichtlich nur die Spitze des Eisbergs. Über hundert Mitarbeiter des AKWs seien in ähnlicher Weise Opfer von Terror geworden, beklagt der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko auf seiner Facebook-Seite.
Der Vorfall um den entführten Generaldirektor macht deutlich, dass es Russland nicht ausreicht, das AKW, das weiterhin ausschließlich Teil des ukrainischen Stromnetzes ist, besetzt zu halten. Doch die Russen versuchen nach wie vor, das AKW an das russische Stromnetz und das Netz der Krim anzuschließen, zitiert die ukrainische Nachrichtenagentur Unian den ehemaligen Leiter der staatlichen Atomaufsichtsbehörde der Ukraine, Hryhorii Plachkov.
Dr. Olga Koscharna, unabhängige Atomexpertin, steht der Schaffung einer Sicherheitszone skeptisch gegenüber: „Ich glaube nicht, dass die Russische Föderation ihre militärische Ausrüstung und ihr Militär aus dem AKW abziehen wird.“ Am 4. Oktober wurden in Russland Gesetze zur Annexion von vier ukrainischen Regionen verabschiedet. Dazu gehört auch die Region Saporischschja, in dem das AKW liegt. Kurz davor, so Koscharna, sei in Moskau die Aktiengesellschaft „Organisation zum Betrieb des AKW Saporischschja“ unter einer Moskauer Adresse mit einem Grundkapital von zwei Milliarden Rubeln registriert worden. Am Mittwoch unterzeichnete Putin zudem ein Dekret, dass das AKW unter russische Verwaltung stellen soll.
Auch von den ukrainischen Plänen, zwei Reaktoren wieder anlaufen zu lassen, hält die Expertin wenig: „Mit der Inbetriebnahme von zwei Blöcken steigen die Risiken von Notfällen, die zum Beispiel nach einem Beschuss von Stromleitungen eintreten können. Und dann kann es zu Schnellabschaltungen von Reaktoren kommen. Nukleare Sicherheit und Strahlensicherheit sollten Vorrang vor wirtschaftlichen und sozialen Erwägungen haben.“
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