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725 Mal der 7. Oktober

Zwei Jahre nach dem Überfall der Hamas auf Israel erinnern Eltern von Geiseln in Berlin an das Schicksal der Entführten. Die Ungewissheit, ob ihre Kinder noch leben und wie es ihnen in den Händen der Terroristen geht, zermürbt sie

Idit und Kobi Ohel, Eltern des von der Hamas entführten Alon Ohel, geben die Hoffnung nicht auf Foto: Wolfgang Borrs

Von Dinah Riese und Lisa Schneider

Cherut Nimrodis Stimme bebt, ganz leicht nur: „Jeden Morgen wachen wir auf, und es ist der 7. Oktober“, sagt sie. „Wir hoffen, dass eines Tages der 8. Oktober beginnt.“ Doch das passiere erst, wenn ihr Sohn Tamir Nimrodi nach Hause komme – und nicht nur er, sondern auch die anderen, die seit nunmehr fast zwei Jahren als Geiseln in Gaza festgehalten werden. „Aber es müssen alle nach Hause kommen: die Lebendigen, um ihr Leben wieder aufbauen zu können, die Toten für ein würdiges Begräbnis“, sagt Nimrodi.

Sie sitzt in einem weißen Ledersessel in einem Hotel in Berlin-Mitte. Auf ihrem schwarzen T-Shirt ein Foto ihres Sohns, darunter in großen weißen und roten Buchstaben die Forderung: „Bring him home now“ – bringt ihn nach Hause, jetzt.

Nimrodi ist nicht allein nach Berlin gereist. Neben ihr sitzen Idit und Kobi Ohel, die Eltern des von der Hamas gefangen gehaltenen Alon Ohel. Außerdem Chagit Chen, deren Sohn Itay Chen ebenfalls verschleppt wurde. Und Efrat Machikawa, deren 80 Jahre alter Onkel Gadi Moses im Januar freigekommen war.

Am Morgen haben die Familien im Kanzleramt mit Bundeskanzler Friedrich Merz gesprochen. Ihre Kinder sind nicht nur israelische, sondern auch deutsche Staatsbürger. Vier weitere Geiseln sind ebenfalls Deutsche: Tamir Adar, der vermutlich nicht mehr lebt, die Zwillinge Gali und Ziv Berman und Rom Braslavski, der von der Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad (PIJ) festgehalten wird. Kurz vor dem Jahrestag des Hamas-Massakers sind einige der Eltern nach Deutschland gereist, um an das Schicksal ihrer Kinder zu erinnern – und um einmal mehr deren Freilassung zu fordern.

Fast zwei Jahre sind vergangen seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas in den frühen Morgenstunden zunächst mehr als 4.000 Raketen auf Israel abfeuerte und dann mit Tausenden Kämpfern und der Unterstützung anderer militanter Gruppen wie des PIJ in das Land eindrang, Militärbasen, Kibbuzim und das Nova-Technofestival überfiel. Die Terroristen ermordeten fast 1.200 Menschen und verschleppten 251 als Geiseln in den Gazastreifen. 48 von ihnen sind bis heute dort. Nur rund 20 sind vermutlich noch am Leben.

Ob ihr Sohn dazugehört, weiß Nimrodi nicht. Seit dem 7. Oktober gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Tamir Nimrodi ist die jüngste Geisel, die noch in Gaza gefangen ist. Gerade mal 18 Jahre alt war er bei seiner Entführung. Er war in einer Kaserne nahe der Grenze zu Gaza stationiert. „Tamir war nicht in einer Kampfeinheit, er war Bildungsoffizier und zuständig unter anderem für Menschen aus Gaza, die in Israel medizinisch behandelt werden sollten“, sagt seine Mutter.

„Am 7. Oktober hat er sehr früh versucht, mich anzurufen, aber ich habe den Anruf verpasst und nur seine Nachricht gesehen: ‚Bist du okay?‘ “ Da habe sie von dem Angriff der Hamas noch gar nichts gewusst. Als sie Tamir dann erreicht habe, sei er im Schutzraum gewesen und habe sie beruhigt. „Ich bin bestimmt bald zu Hause“ – das sei die letzte Nachricht, die sie von ihrem Sohn bekommen habe. 20 Minuten später sei er brutal von der Hamas entführt ­worden.

Das letzte Lebenszeichen von Tamir ist ein Video auf Instagram – eines von vielen, das die Angreifer ins Netz stellten und in denen sie Gewalt, Morde und Entführungen teils in Echtzeit streamten. „Meine damals 14 Jahre alte Tochter hat plötzlich geschrien: ‚Tamir wird entführt!‘ “, sagt Nimrodi. „Wir konnten sehen, wie sie ihn brutal zusammengeschlagen haben, barfuß, nur in seinem Pyjama, ohne seine Brille.“ Die Arme habe er schützend vor den Kopf gehalten. „Dann hat er die Hände runtergenommen, und ich konnte sein Gesicht sehen.“ Nimrodi stockt, muss innehalten. Erst als Efrat Machikawa ihr eine Hand auf den Arm legt, spricht sie weiter: „Bis heute sehe ich immer wieder dieses Bild vor mir, wenn ich schlafen gehe.“

Der Terror der Hamas, er ist auch ein Krieg der Bilder. Immer wieder veröffentlicht sie Videos der Geiseln: abgemagert, verletzt, gefoltert. Von Alon Ohel gibt es zwei solche Propagandavideos, das letzte ist von Ende September. „Es war sehr schwer für uns, diese Bilder zu sehen“, sagt seine Mutter Idit Ohel. „Gleichzeitig wissen wir so, dass er am Leben ist. Auch wenn er verletzt ist, Granatsplitter im Körper hat und auf einem Auge nicht mehr sehen kann.“

Sie mache sich große Sorgen um die Gesundheit ihres Sohns. „Sie lassen ihn hungern, ein Jahr lang waren er und die anderen an Armen und Beinen mit einer Motorradkette gefesselt. Danach konnten sie sich nicht auf den Beinen halten, nicht gehen. Die Terroristen haben sie ausgelacht.“ Das hätten drei andere Geiseln nach ihrer Freilassung berichtet, die mit Ohel gefangen gehalten wurden. „Sie haben uns auch berichtet, dass er mit den Fingern auf seinem Körper Musik macht“, sagt Idit Ohel. Ihr Sohn ist Musiker, spielt Klavier. „Aber gewusst habe ich das eigentlich vorher. Ich weiß, dass er das braucht, um durchzuhalten.“

Genaue Informationen über den Gesundheitszustand der Geiseln gibt es nicht. Doch die Videos, die Verfassung freigelassener Geiseln sowie deren Berichte sprechen eine deutliche Sprache. Und der nunmehr ebenfalls zwei Jahre andauernde Krieg in Gaza mit zigtausend Toten ist auch für die Geiseln gefährlich: Durch israelischen Beschuss wurden drei von ihnen, die sich zuvor selbst befreit hatten, getötet. Freigekommene Geiseln berichteten von nahen Luftangriffen. Dazu kommt die humanitäre Situation.

„Dieser schreckliche Tag muss endlich enden“

Chagit Chen, Mutter des von der Hamas entführten Itay Chen

Die Versorgungslage im Gazastrei­fen verschlechterte sich vor allem nach dem Ende der von Januar bis März 2025 andauernden temporären Waffenruhe, als über 25 Geiseln freikamen und die Körper von acht Getöteten nach Israel überführt wurden. Ab Anfang März ließ Israel keine ­Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen, fast zwei Monate lang. Das änderte sich ab Ende Mai, dennoch kam lange zu wenig an, erst im August besserte sich die Lage langsam wieder.

Schon als die israelische Regierung im Winter ihre Entscheidung verkündete, die Grenzübergänge für Hilfsgüter zu schließen, warnten Geiselangehörige, dass darunter auch ihre Lieben würden leiden müssen. Zwar waren auch die zwischen Januar und März Freigelassenen teils von Hunger gezeichnet. Doch es war absehbar, dass die Hamas den Mangel an Nahrungsmitteln in Gaza für ihre Propagandazwecke nutzen würde. So erklärte ein Sprecher Anfang August: „Die israelischen Gefangenen essen, was unsere Kämpfer und unser Volk essen.“ Damals warnte auch ein Bericht des Forums der Geiselangehörigen, die Entführten stünden kurz vor dem Hungertod.

Die Stimmen der Angehörigen sind bei den Protesten in Israel zentral. Zigtausende gehen dort auf die Straßen und fordern einen Waffenstillstand. Immer wieder hat die große Mehrheit der Familien das weitere Vorrücken der israelischen Streitkräfte scharf kritisiert: Der Krieg bringe die Geiseln nicht zurück, sondern gefährde ihre Leben noch mehr. Als Israel im September die Offensive auf Gaza-Stadt begann, riefen die Familien einen „Ausnahmezustand“ aus und bauten ein Zelt vor Premierminister Benjamin Netanjahus Residenz in Jerusalem auf. Man werde „bleiben, bis Netanjahu zuhört und den Willen der Menschen umsetzt – die sofortige Rückkehr aller Geiseln und ein Ende des Kriegs“, erklärte das ­Hostages and Missing Families Forum, das die meisten der Geiselangehörigen vereint. Auch als Netanjahu kürzlich vor leeren Rängen bei den Vereinten Nationen sprach, protestierten draußen Angehörige.

In Berlin loben derweil Cherut Nimrodi, Chagit Chen, Idit und Kobi Ohel und Efrat Machikawa den Einsatz des deutschen Botschafters in Israel, Steffen Seibert. „Er hat uns von Anfang an zur Seite gestanden“, sagt Nimrodi. Auch im Kanzleramt waren sie nicht das erste Mal zu Gast. Bei so vielen Dankesworten fällt umso mehr auf, wer unerwähnt bleibt: die israelische Regierung. Und sosehr die Anwesenden sich an diesem Tag mit politischen Botschaften betont zurückhalten – ihre Kritik an der fehlenden Unterstützung durch die israelische Regierung haben die Familien immer wieder gezeigt.

XX XXX X Foto: Wolfgang Borrs

Gibt der neue Entwurf für einen Waffenstillstand, den US-Präsident Donald Trump am Montagabend mit Netanjahu vorgestellt hat, ihnen ­Hoffnung? „Wir müssen hoffen“, sagt Kobi Ohel. „Aber die Hamas muss zustimmen. Ich glaube es erst, wenn der Deal unterschrieben ist und alle Geiseln bei uns sind.“ „Ohne Hoffnung könnten wir nicht weitermachen“, sagt auch Chagit Chen. „Aber ich verbiete mir, zu sehr zu hoffen. Denn zu oft sind diese Hoffnungen zerschlagen worden. Sich dann wieder aufzurappeln, ist so schwer.“

Chens Sohn Itay war am 7. Oktober als Soldat im Einsatz. Er und drei weitere hätten versucht, die Terroristen davon abzuhalten, in die Kibbuzim einzudringen, sagt Chen. „Wir haben die Blackbox ihres Panzers gehört. Diese vier sind Helden. Sie haben Leben gerettet.“ Dann traf eine Rakete den Panzer. Das Militär fand dort später die Leiche nur eines Soldaten. „Von Itay und den anderen beiden fehlte jede Spur“, sagt Chen. „Etwa ein halbes Jahr später klopfte es bei mir an der Tür. Sie sagten, Itay sei vermutlich tot. Aber ich glaube das nicht. Nicht, bis sie ihn gefunden und zurückgebracht haben.“

„Solange nicht alle Geiseln zurück sind, sind wir in diesem Tag gefangen“, sagt Efrat Machikawa, die ihren Onkel schon wieder in die Arme schließen konnte. „Deswegen zählen wir: Heute ist das 725. Mal der 7. Oktober.“ Die anderen bekräftigen. „Vor allem an Feiertagen oder Geburtstagen merken wir, dass die Zeit nicht wirklich stillsteht – aber wir selbst sind weit zurückgefallen“, sagt Idit Ohel. – „Dieser schreckliche Tag muss endlich enden“, sagt auch Chagit Chen. „Und gleichzeitig fürchte ich diesen Moment. Denn dann kommt auch die Gewissheit: wer lebt und wer nicht und wie es um die Lebenden steht.“

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