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70. Todestag von Josef StalinSein Geist in Putins Russland

Vor 70 Jahren starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Sein Erbe prägt Russland und viele seiner Mechanismen werden im System Putin gefördert.

Zur Erinnerung an den Sieg in Stalingrad vor 80 Jahren wurde eine Büste in Wolgograd enthüllt Foto: Kirill Braga/reuters

Moskau taz | Sonne, Spielplatz, Restaurant – das „Dschami“-Hotel in Dagestan direkt am Kaspischen Meer im Süden Russlands wirbt mit hübschen Bildern vom blauen Meerwasser und einem Sandstrand um seine Gäste. Nicht weit von hier soll ein Militärkrankenhaus entstehen, die Bagger waren vor einigen Tagen angerollt. Was sie aus dem Sand hervorholten, war ein Blick in die dunkle sowjetische Vergangenheit des Landes: 18 Schädel mit Löchern, die nach Schüssen in den Hinterkopf aussehen, aufgereihte menschliche Überreste. Ein Massengrab. „Mutmaßlich aus der Zeit der stalinistischen Repressionen der 1930er Jahre“, teilte das russische Innenministerium diese Woche schließlich mit, nachdem Bilder des Fundes auf Telegram-Kanälen die Runde gemacht hatten.

Mit einem Mal war ein Thema in den Nachrichten, vor dem das heutige Regime und die Mehrheit der Menschen in Russland oft die Augen verschließen: der Staatsterror, dem Millionen von Menschen zum Opfer gefallen waren. Da die Mechanismen staatlich ausgeübter Gewalt auch heute wieder stark sind im Land, verschwand die Nachricht von Massenerschießungen am dagestanischen Strand auch schnell wieder. Die staatlichen Medien erwähnten das Massengrab nur kurz, um damit auf die Arbeit von Ermittlungsbehörden einzugehen, die Leichenfunde aus den vergangenen Jahren untersuchen. Über die Morde von damals zu reden, ist auch heute teils gefährlich. Die Aufarbeitung des stalinistischen Regimes ist wegen der repressiven Gesetze im System Putin nahezu unmöglich.

Am 5. März jährt sich das Todesdatum des sowjetischen Diktators Stalin zum 70. Mal. Sein Ableben war eine Zäsur, weil sie die 40-jährige Gewaltspirale in der Sowjetunion vorübergehend aussetzte. Es begann eine Revision vieler Beschlüsse, eine Art „Entstalinisierung von oben“. Stalins Weggefährten erkannten, wozu der Personenkult um den Generalissimus führte. Der sowjetische Schlächter hatte wichtige Fragen im In- wie im Ausland fast schon auf pathologische Weise nur durch persönliche Entscheidungen geregelt. Der Partei und dem Land hätten diese „großen Schaden“ zugefügt, sagte Georgi Malenkow nach Stalins Tod, der Gefolgsmann des Diktators und spätere Regierungschef der Sowjetunion. Zu Stalins Lebzeiten wurden solche Worte nicht geäußert. Die ewige Angst vor Säuberungen hatte auch seine direkten Untergebenen nie verlassen. Selbst als Stalin nach einem Trinkgelage mit den Parteifreunden auf seiner Datscha bei Moskau in der Nacht auf den 1. März 1953 einen Schlaganfall erlitt und am nächsten Morgen nach dem Anklopfen keinen Ton von sich gab, traute sich niemand in sein Zimmer, wo er im Pyjama am Boden lag und sich nicht rührte.

Memorial: seit Dezember 2021 in Russland verboten

Bis heute gibt es Menschen in Moskau, die sich an die Totenprozession quer durch die Stadt erinnern. Wie die Menschen weinten, vor Freude oder Entsetzen, wie die Menschen regelrecht zerdrückt wurden. Manche der durch Stalins Menschenvernichtungsapparat Geschundenen sind erst in den 1990er Jahren wieder rehabilitiert worden, viele erst nach ihrem Tod. Die Familien der Opfer erfuhren das meist nach Eigenrecherchen, oft mithilfe der Bürgerrechtsorganisation Memorial. Doch Russlands Justizbehörden haben ihr im Dezember 2021 praktisch das Existenzrecht abgesprochen, seitdem wird es immer schwerer, die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus zu pflegen. Wie kaum jemand anderes sammelten die Unerschrockenen von Memorial Informationen über Gulag und Terror und verwiesen auch immer wieder auf politische Verbrechen der Jetztzeit. Ver­tre­te­r*in­nen regionaler Abteilungen von Memorial, die noch nicht geschlossen sind, werden von der Polizei beobachtet, sie werden abgehört, manchmal auch von radikalen Kriegsbefürwortern körperlich bedrängt.

Stalin hat heute trotz seiner unnachgiebigen Brutalität das Image eines effektiven Managers

Viele Mechanismen des Stalinismus werden im System Putin gefördert. Väter denunzieren ihre Söhne, die eine Nachbarin meldet eine andere an die Behörden, der eine Arbeitskollege schwärzt einen anderen an. Schü­le­r*in­nen wird eingebläut, genauer hinzusehen und „Fremdes“ sofort zu melden. Leh­re­r*in­nen rufen die Polizei und die Jugendinspektion, wenn ihre Schützlinge die offizielle Linie auch nur ein wenig infrage stellen. Fälle wie die der elfjährigen Warja aus einem Vorort von Moskau und der Sechstklässlerin Mascha aus der Region Tula zeigen, wie selbst Kinder kriminalisiert werden und dass Schulen längst keinen Schutzraum mehr bieten. Warja hatte im Klassenchat ein Profilbild in den ukrainischen Farben Blau-Gelb benutzt, Mascha im Kunstunterricht ein Bild mit der russischen und der ukrainischen Fahne gemalt und darunter „Nein zum Krieg“ geschrieben. Di­rek­to­r*in­nen beider Einrichtungen ließen die Mädchen von mehreren Po­li­zis­t*in­nen zum Verhör abtransportieren. Es gab Hausdurchsuchungen bei den Familien der Schülerinnen. Warjas alleinerziehende Mutter muss seitdem einen „Präventionskurs“ beim Jugendamt absolvieren, wo ihr erklärt wird, wie sie ihre Kinder „moralisch richtig“ erziehen solle. Dem alleinerziehenden Vater von Mascha droht eine mehrjährige Haftstrafe, weil er mit seinen Posts in den sozialen Netzwerken die russische Armee „diskreditiert“ haben soll. Solche Beispiele schrecken ab, zumal die Angst – wie vererbt aus den Sowjetzeiten – tief in den Menschen sitzt.

Büste zum 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad

Stalin hat heute trotz seiner unnachgiebigen Brutalität das Image eines „effektiven Managers“, eines hartgesottenen Führers, der dem Land den Sieg über die Nationalsozialisten einbrachte. In Wolgograd, dem früheren Stalingrad, wurde erst kürzlich eine Büste für ihn zum 80. Jahrestag der Schlacht im Zweiten Weltkrieg aufgestellt. Da Putin seine „Spezialoperation“ als Fortführung des sowjetischen Kampfes im Zweiten Weltkrieg betrachtet, ist Stalin eine Art Wegweiser für viele im Moskauer Regime. Kri­ti­ke­r*in­nen seiner „gerechten Sache“ nennt Putin „Abschaum“, den es zu vernichten gelte. So mancher Regionalchef macht die Leiter staatlicher Unternehmen bei einer Sitzung auch schon einmal mit den Worten nieder: „Unter Josef Stalin in den 30ern hätte man euch samt Familien und anderen Verwandten längst erschossen. Und man hätte richtig gehandelt.“

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3 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Wie es in Russland nach Putin weitergeht, wird davon abhängig sein, wer ihm folgt.



    Will er Putins Herrschaft fortführen (was zu befürchten ist), wird sich nichts ändern. Nur in der Propaganda wird statt oder neben „Putin“ der Name von dessen Nachfolger erscheinen.



    Ist der Nachfolger vom Typ „Chruschtschow“, der den Stalinismus nur halbherzig und unter Ausschluss der Öffentlichkeit kritisierte, wird sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Zustände im Lande nicht viel ändern. Gehorsam und Angst werden weiterhin bestimmend sein.



    Nur ein neuer Gorbatschow könnte echte Demokratie in Russland schaffen. Aber dann müsste verhindert werden, dass nach ihm eben doch wieder ein neuer Diktator an die Macht kommt. Gorbatschows Nachfolger Jelzin, der leider nicht Gorbatschows Format hatte, hatte es nicht verhindern können.

    • @Pfanni:

      Die Frage ist halt wie schwach Russland wäre, dann könnte man auf ein dekolonialisiertes, entnuklearisiertes und demilitarisiertes Russland drängen.



      Ohne tausende Panzer aus der Soviet Zeit wäre auch Putin ein viel kleines Problem. Der gewöhnliche Russe könnte dann von einem neutralen Brückenstatus zwischen Europa und China profitieren. Der Lebensstandard würde steigen.

      • @Machiavelli:

        Schonn. Doch seit meiner Kindheit:

        Aber festzuhalten bleibt:



        “Hände falten - Köpfchen senken!



        Immer nur an Stalin denken.“ - 🙀🥳 😱 -