5 Jahre Breitscheidplatz-Anschlag: Die Opfer im Stich gelassen
Die Betroffenen des Breitscheidplatz-Anschlags beklagen mangelnde Aufklärung – sie haben Recht. Die Ampel steht in der Pflicht, ihnen zu helfen.

E s bleibt ein tiefer Einschnitt in diesem Land, auch wenn er für viele schon recht fern wirkt. Vor fünf Jahren ermordete der Islamist Anis Amri in Berlin zwölf Menschen, ein weiterer Verletzter verstarb vor wenigen Wochen. Der Anschlag vom Breitscheidplatz bleibt das schwerste islamistische Attentat auf deutschem Boden. Und er traf Menschen, deren Namen viel zu schnell vergessen wurden: Anna Bagratuni, Georgiy Bagratuni, Sebastian Berlin, Nad’a Čižmár, Dalia Elyakim, Christoph Herrlich, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Fabrizia Di Lorenzo, Lukasz Urban, Peter Völker, Sascha Hüsges. Dazu gibt es dutzende Verletzte, deren Leben teils bis heute ruiniert ist. All dies aus menschenverachtendem, blankem Hass.
Das Attentat geschah in der Hochphase islamistischen internationalen Terrors. Heute scheint dieser weit weg. Der „Islamische Staat“ ist in Syrien und Irak zurückgeschlagen, größere Anschläge blieben hierzulande zuletzt aus. Aber die Sicherheit trügt. Noch immer zählt die Polizei 552 Gefährder in diesem Land, denen Anschläge zugetraut werden. Noch immer setzt der „IS“ seine Propaganda fort, die aufgestachelte Einzeltäter aufgreifen. So wie der syrische Islamist, der im Oktober 2020 in Dresden einen Homosexuellen erstach – und dies bis zum Schluss vor Gericht verteidigte. Auch dies eine fast vergessene Tat.
Es ist richtig, dass die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser den Rechtsextremismus prioritär bekämpfen will – hier lauert die derzeit größte Gefahr. Und dennoch darf auch der Islamismus keinesfalls aus dem Blick geraten. Das eine zu tun, darf nicht heißen, das andere zu lassen.
Die Klagen der Betroffenen schmerzen
Was schmerzt, sind die Klagen der Betroffenen, auch fünf Jahre nach der Tat. Therapien würden ihnen verweigert, Traumata nicht anerkannt, Begutachtungen liefen wie Verhöre. Wie kann das sein? Die Betroffenen dürfen nicht ein zweites Mal zum Opfer werden. Dazu beklagen diese zurecht, dass zentrale Fragen zum Anschlag bis heute ungeklärt sind – allen voran, die nach dem Helfernetzwerk Amris. Schuld daran ist auch das Mauern der Sicherheitsbehörden, die Verantwortungen hin und herschoben, statt die versprochene Aufklärung einzulösen.
Faeser versprach am Sonntag, zu offenen Fragen werde man weiter nach Antworten suchen. Nichts werde unter den Teppich gekehrt. Und auch Bundespräsident Steinmeier versicherte beim Gedenken, der Staat habe die Pflicht, bei neuen Erkenntnissen weiterzuermitteln und Fehler auszuräumen, die dazu beitrugen, dass der Anschlag nicht verhindert wurde. Die hat er. Denn eine bittere Erkenntnis der Aufklärung ist, dass Amri zu stoppen gewesen wäre, wenn ihn die Behörden richtig verfolgt hätten.
Es gibt Anlass zur Hoffnung, dass in der neuen Ampel-Regierung mit den Grünen und der FDP nun zwei Parteien sitzen, die bisher in dem Komplex auf Aufklärung pochten. Auch verkündete die Ampel einen besseren Umgang mit Terroropfern und mehr Hilfen für diese. Die neue Regierung hat hier nun die Chance, etwas Leid zu lindern. Nein, die Pflicht.
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