40 Jahre nach rassistischem Mord: „Es war der Beginn aktiven antirassistischen Widerstands“
40 Jahre nach dem Mord an Ramazan Avcı in Hamburg wird der Ort des Geschehens neu gestaltet. Endlich, sagt Gürsel Yıldırım von der Gedenk-Initiative.
taz: Herr Yıldırım, am 21. Dezember 1985 haben Neonazis den 26-jährigen Ramazan Avcı vor der S-Bahn-Station Landwehr in Hamburg ermordet. Im Jahr 2012 wurde der Platz nach ihm benannt.
Gürsel Yıldırım: Das hat die 2010 gegründete Initiative in Gedenken an Ramazan Avcı gemeinsam mit Angehörigen erkämpft. Seit dem 25. Jahrestag seiner Ermordung organisieren wir jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung. Dabei stehen die Stimmen der Angehörigen, von Überlebenden und Betroffenen von rassistischer Gewalt im Mittelpunkt.
taz: Warum reichte die Umbenennung nicht?
Yıldırım: Wir haben von Anfang an mehr gefordert: Dass nicht nur der Platz, sondern die ganze Straße umbenannt wird, dass Blumen gepflanzt werden aus dem Dorf, aus dem Ramazan kam, Gönen im Nordwesten der Türkei. Die Politiker vom Bezirksamt sagten damals, dass das alles sehr lange dauern würde. Die Selbstenttarnung des NSU 2011 hat die Sache beschleunigt. Aber es ging ein bisschen zu schnell mit dem Gedenkstein.
Jahrgang 1967, ist Soziologe, Teil der Initiative in Gedenken an Ramazan Avcı und seit Jahrzehnten antirassistisch aktiv. Er hat die Wanderausstellung „Migrantischer Widerstand im Hamburg der 90er-Jahre“ kuratiert. Sie erinnert auf zwölf Wandtafeln an Momente und Anlässe selbstorganisierten Widerstands von Migrant*innen, Geflüchteten und Jugendlichen in den 1990er-Jahren.
taz: Wie das?
Yıldırım: Es gab einen Entwurf eines Künstlers aus Köln. Aber die Umsetzung war teuer. Dann hat das Bezirksamt einen anderen Entwurf vorgeschlagen und wir haben das akzeptiert. Gülüstan Avcı, die Witwe von Ramazan Avcı, brauchte einen Ort, an dem sie Blumen niederlegen kann. Aber der Platz und der Gedenkstein wurden unseren Forderungen nach Erinnerung und Sichtbarkeit nicht gerecht.
taz: Wie sieht der neue Platz aus?
Yıldırım: Er ist in Zusammenarbeit mit Studierenden der Hochschule für bildende Künste, Gülüstan und uns als Initiative entstanden. Im Zentrum steht ein Gedenkstein des Bildhauers Van Ngan Hoang. Er hat auch den Gedenkstein für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân entworfen, die 1980 in Hamburg bei einem Brandanschlag von Neonazis gestorben sind, später auch den Gedenkstein für Mehmet Kaymakçı.
Kundgebung zur Einweihung des Denkmals am 40. Jahrestag des rassistischen Mordes, am 21.12.2025 um 14 Uhr am Ramazan-Avcı-Platz an der S-Bahn Haltestelle Landwehr in Hamburg. Im Vorfeld hat es mehrere Veranstaltungen gegeben, eine Gruppe von Schüler*innen der angrenzenden Beruflichen Schule (BS05) beschäftigte sich in einem Projekt mit Ramazan Avcı. Sie werden zum 40. Gedenktag dabei sein.
Podiumsdiskussion 11. Januar, 16 Uhr, Universität Hamburg, mit Zeitzeug*innen, dem älteren Bruder von Ramazan Avcı und einem damaligen Vertreter der SPD.
taz: Er wurde im selben Jahr, einige Monate zuvor, in Hamburg-Langenhorn von Neonazis ermordet.
Yıldırım: Ramazans Gedenkstein ähnelt diesen, sodass eine Verbindung zu den Morden hergestellt wird. Es wird einen Rosenbusch in einem runden Kübel geben. Drei Pfeiler mit Metalltafeln, auf einer steht in deutsch und türkisch „Rassismus Mordet“, einer wird an Ramazan erinnern, beim dritten können abwechselnd Banner aufgehängt werden. Der Ramazan-Avcı-Platz wird mehr und mehr ein Gedenkort. Es wird auch anderer Opfer rassistischer Gewalt in Hamburg gedacht. Zum 40. Jahrestag am 21. Dezember werden auch Angehörige aus München und Köln, Aktive aus Dortmund, Lübeck und Berlin anreisen und an die vielen Opfer rassistischer Gewalt erinnern.
taz: Was bedeutete der Mord an Ramazan Avcı für migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus?
Yıldırım: Migranten waren vorher vor allem im Blick auf Exilpolitik organisiert. Nach dem Mord an Ramazan Avcı fokussierten sie sich auf ihre Situation in Deutschland, es formierte sich trotz politischer Differenzen und Konflikte eine neue politische Kraft. Im selben Jahr starb Mehmet Kaymakçı, 1982, hatte Semra Ertan sich aus Protest gegen Rassismus angezündet, 1980 starben Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Mit Ramazan Avcı war das Fass voll. Der Mord markierte den Beginn aktiven antirassistischen Widerstands. Türkeistämmige Jugendliche gingen offensiver gegen die „Glatzen“ vor, als es vorher der Fall war …
taz: Wie sah das konkret aus?
Yıldırım: Migrantische Jugendliche gründeten Selbstverteidigungskomitees in jedem Stadtteil. Es war klar, dass man etwas gegen Nazis machen wollte, in der Sprache, die sie verstehen. Das bedeutete, die Neonazis dort zu besuchen, wo sie zuvor Migrant*innen belästigt hatten. Die Jugendlichen ließen sich das nicht mehr gefallen, mit einer selbstbewussten Haltung, das war in dieser Dimension neu. Es gab auch Konflikte, aber sie hatten viele Menschen im Rücken. Am 11. Januar 1986 demonstrierten mehr als 15.000 Menschen in Hamburg gegen Rassismus. Zur Teilnahme hatten türkeistämmige Organisationen aus unterschiedlichsten Milieus aufgerufen. Die Großdemo eines breiten migrantischen Bündnisses mit so vielen Teilnehmenden ist einmalig gewesen und einmalig geblieben in dieser Form.
taz: Warum?
Yıldırım: Das ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt. Wir werden bei einer Podiumsdiskussion am Jahrestag der Großdemo die Zeit nach dem Mord reflektieren und an die Widerstandsperspektive von damals erinnern.
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