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40 Jahre Moderner TerrorismusIm Zeichen des Orion

Die sogenannte Japanische Rote Armee beging vor 40 Jahren in Israel den ersten Selbstmordanschlag des modernen Terrorismus: In Tel Aviv starben damals 26 Menschen.

Verehrung für den Attentäter Kozo Okomato im Libanon 2000. Bild: ap

Bald zehn Jahre hatte Kozo Okamoto schon geschwiegen, als ihn Anfang September 1982 in einem israelischen Hochsicherheitsgefängnis ein Jurist aus seiner Heimat besuchte, der japanische Professor Idio Oyeshi aus Kioto.

Ein israelisches Militärgericht hatte den Studenten Okamoto im Juli 1972 wegen 25-fachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Danach sprach er immer weniger und galt als autistisch. Der Professor begann japanische Kinderlieder zu singen. Es dauerte eine Weile, aber dann stimmte der Gefangene mit ein.

Wie die Nachrichtenagentur Agence France Press meldete, erklärte Okamoto schließlich, dass er keineswegs autistisch sei. Er habe sich nach zwei unglücklichen Liebesaffären der Japanischen Roten Armee angeschlossen. Zu deren politischen Zielen des Antiimperialismus und des Kampfes gegen den Zionismus bekenne er sich nach wie vor.

Er hätte mehrmals die Möglichkeit gehabt, aus dem Gefängnis auszubrechen, sagte er. Aber er ziehe es vor, erhobenen Hauptes in die Freiheit zu gehen. So sollte es auch knapp drei Jahre später geschehen.

Vorbild für Dschihadisten in der ganzen Welt

Kozo Okamoto zählte zu einer kleinen terroristischen Gruppe, die sich Nihon Sekigun, Japanische Rote Armee, nannte und vor 40 Jahren mit einem Schlag weltweites Aufsehen erregte. Sie inszenierte den ersten Selbstmordanschlag des modernen Terrorismus.

Am 30. Mai 1972 ermordete Okamoto mit zwei Genossen im Tel Aviver Flughafen Lod 26 Menschen. Die beiden Komplizen starben. Der Planer war ein Palästinenser. Die drei Japaner wurden mit dem Massaker zum Vorbild für Palästinenser, Araber und Dschihadisten in der ganzen Welt.

Wie die westdeutsche Rote Armee Fraktion (RAF) oder der US-amerikanische Weather Underground war auch die Japanische Rote Armee ein Zerfallsprodukt der Studentenbewegung der 1960er Jahre. Die Studierenden traten für Reformen der Universitäten an und kämpften gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam, bei dem Japan für die US-Streitkräfte eine der wichtigsten Basen war.

Außerdem versuchten sie, proletarische Tagelöhner zu organisieren, begeisterten sich für die chinesische Kulturrevolution und den Guerillakampf Che Guevaras. Viele von ihnen unterstützten den Widerstand von Bauern gegen den Bau des Flughafens Narita.

Samurais und PFLP

Im Gründungsaufruf der Japanischen Roten Armee beklagten die Initiatoren 1969, dass in Japan das „unterdrückte Volk bis heute noch kein einziges Mal zu den Waffen gegriffen“ habe. „Indem so etwas gleichsam als Traumgespinst, als etwas ewig Fernes und als unerhört galt“, sei dem Volk „eine Sklavennatur“ eingepflanzt worden.

Im dichtbesiedelten Japan war es riskant, ein militärisches Training zu organisieren. Im März 1970 entführten neun, teils mit Samuraischwertern bewaffnete Rotarmisten ein Flugzeug der Japanese Airlines nach Nordkorea. Die Hijacker wollten weiter nach Kuba, doch die nordkoreanischen Kommunisten hatten andere Pläne und steckten sie in ein Umerziehungslager. Einer dieser Rotarmisten konnte fliehen, zwei ließen sich nach Japan ausliefern und starben dort, zwei starben in Nordkorea und vier sitzen immer noch dort fest.

Die Studentin Fusako Shigenobu nahm hingegen Kontakt mit einer Gruppe namens Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) auf. Die extremistischen Palästinenser verfügten über Basen im Libanon und Irak. Seit 1968 lenkten sie mit Flugzeugentführungen den Blick der Welt auf das Schicksal der aus Israel vertriebenen Palästinenser. Bereits zwei Jahre vor dem Anschlag von Lod waren die ersten Japaner in den Libanon gereist. Einer hatte einen Film gedreht. Titel: „Die Weltkriegserklärung durch die Rote Armee und die PFLP“.

Shigenobu reiste zusammen mit ihrem Ehemann und Genossen Takashi Okudaira nach Beirut, wo sie unter anderem die PFLP-Kämpferin Leila Chaled empfing, die als Hijackerin mit Palästinensertuch und Kalaschnikow zu einer Ikone der Weltrevolution avanciert war. Shigenobu bekam von ihren neuen arabischen Freunden den Decknamen Samira. „Mit diesem Namen“, schrieb sie später, „wurde ich ein neuer Mensch.“

Der Pragmatismus und die Herzlichkeit der Palästinenser beeindruckten die Japaner tief. Da die Versuche, in Japan den bewaffneten Kampf aufzunehmen, gescheitert waren, holte sie weitere Genossen in den Libanon.

Von einem Palästinenser geplant

Kozo Okamoto, damals Student der Landwirtschaft, bekam im September 1971 einen Brief, in dem es hieß, wenn er seinen Bruder treffen und eine militärische Ausbildung bekommen wolle, solle er nach Beirut reisen. Sein Bruder Takeshi hatte zu der Gruppe gehört, die den JAL-Jet nach Nordkorea entführt hatte und im Schattenreich Kim Il Sungs verschwunden war.

Okamoto flog über Vancouver, New York und Paris nach Beirut. Shigenobus Freund Okudaira holte ihn ab. Er brachte ihn in ein Lager der PFLP, wo er sieben Wochen lang ein militärisches Training absolvierte. Dann teilte ihm Okudaira mit, dass sie beide zu einem Kommando eingeteilt seien, das einen Anschlag in Tel Aviv ausführen sollte.

Die Planung der Aktion lag bei dem PFLP-Führer und Arzt Wadi Haddad, dessen Familie im Jahr 1948 aus Israel fliehen musste und der 1977 für die deutsche RAF die Entführung des Lufthansajets „Landshut“ organisieren sollte. Wadi Haddad, der mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB zusammenarbeitete, hatte keinerlei Skrupel, seine Kämpfer mit Himmelfahrtskommandos zu beauftragen.

Der Palästinenser mit dem Decknamen „Abu Hani“, schickte Takeshi Okudaira, 26, Kozo Okamoto, 24, und Yasuiki Yashuda, 23, vor dem Anschlag nach Paris und von dort nach Frankfurt am Main. Shigenobu, die schwanger war, blieb im Libanon. In Frankfurt gab Okudaira an seine beiden Genossen gefälschte Pässe aus. Der für Okamoto trug den Namen eines Mannes, der vor dem Krieg versucht hatte, den japanischen Kronprinzen zu ermorden.

Mit dem Zug fuhren die drei Japaner von Frankfurt nach Rom weiter und bekamen dort auf bislang ungeklärte Weise Waffen: fünf Maschinenpistolen des Typs Kalaschnikow AK 47 und tschechischer Herkunft, 360 Schuss Munition und sechs chinesische Handgranaten. In Rom bestiegen sie am Abend des 30. Mai 1972 eine Maschine der Air France, die nach einem Zwischenstopp in Israel nach Tokio weiterfliegen sollte. Bei der Passkontrolle in Tel Aviv fielen die drei mit weißen Hemden und Krawatten gekleideten jungen Asiaten nicht weiter auf.

Etwa 300 Menschen befanden sich in der Ankunftshalle des Flughafens Lod, als die Koffer auf den Gepäckbändern hereintransportiert wurden. Die drei Japaner kratzten noch die Fotos aus ihren gefälschten Ausweisen. So wollten sie ihren Familien die Schande ersparen, die sie ihnen mit der Tat bereiten würden. Sie hatten sich auch vorgenommen, vor ihrem Tod ihre Gesichter unkenntlich zu machen.

Das Blut stand in Pfützen

Nur wenige Sekunden nachdem sie ihre Koffer geöffnet und ihre Waffen herausgeholt hatten, brach das Inferno los. Die Attentäter postierten sich Rücken an Rücken und begannen mit ihren Schnellfeuergewehren in die Menge zu schießen. Israelische Polizisten schossen zurück. Yashuda wurde tödlich getroffen, Okudaira tötete sich mit einer Handgranate selbst. Okamoto lief auf das Rollfeld und wollte mit einer Handgranate ein Flugzeug in die Luft jagen. Es gelang ihm nicht. Israelische Sicherheitskräfte nahmen ihn fest.

In der Ankunftshalle stand das Blut in Pfützen: 26 Menschen waren tot, 17 von ihnen waren christliche Pilger aus Puerto Rico, acht Israelis, eine Kanadierin. Die PFLP übernahm die Verantwortung für den Anschlag, den sie „Operation Deir Jassin“ nannte. Der Ort Deir Jassin war 1948 Schauplatz eines Massakers, das zionistische Milizen unter dem Kommando des späteren israelischen Premierministers und Friedensnobelpreisträgers Menachem Begin anrichteten. Rund hundert Palästinenser kamen dabei zu Tode.

Kozo Okamoto fühlte sich schuldig, weil er die Aktion überlebt hatte, jene von dem amerikanischen Psychiater Robert Lifton „Survivor Guilt“ genannten Schuldgefühle, als Überlebender für den Tod der Genossen mitverantwortlich zu sein. Okamoto wollte sterben und traf gleich nach seiner Verhaftung mit einem israelischen General eine schriftliche Vereinbarung. Nach der sollte er umfassend aussagen, der General ihm dafür anschließend seine Pistole überlassen, damit er sich erschießen könnte. Doch beide spielten falsch. Der Terrorist gab einen falschen Tarnnamen und andere Unwahrheiten an, der General ließ eine Pistole auf dem Tisch liegen, die nicht geladen war.

Der israelische Verkehrsminister Schimon Peres brandmarkte den Anschlag von Lod als „das schlimmste Blutbad in der Geschichte des weltweiten Terrors gegen die zivile Luftfahrt“. Auch die meisten Japaner waren entsetzt über das Massaker, das ihre Landesleute angerichtet hatten. Okamotos Vater, ein pensionierter Volksschullehrer, schrieb an die israelische Regierungschefin Golda Meir: „Exekutieren Sie meinen Sohn so schnell wie möglich.“

Brücke zu al-Qaida

Viele Palästinenser und Araber feierten die drei Japaner sofort als Helden. Sie hätten ein loderndes Zeichen gegen das Unrecht der israelischen Besetzung gesetzt, ihr Leben im Kampf für eine Sache gegeben, die gar nicht unmittelbar die ihre war. Der libysche Staatschef Mummar al-Gaddafi warf den Palästinensern vor: „Man sieht sie alle Bücher schreiben und Zeitschriften mit ihren Theorien füllen, aber sie sind nicht imstande, auch nur eine tollkühne Aktion wie die der Japaner auszuführen.“

Im japanischen Denken, in dem das Kollektiv einen höheren Rang einnimmt als das Individuum, ist ein Suizid gerechtfertigt, wenn man damit der Gemeinschaft mehr nützt als mit dem Leben. Zudem ist die Loyalität ein entscheidender Wert und der Selbstmord für eine Sache die ultimative Bekundung von Loyalität. Für Okamoto, der sich als Soldat der Weltrevolution verstand, war es gar keine Frage, dass er dem Mordbefehl ohne Widerspruch Folge leistete.

Russische Anarchisten hatten Ende des 19. Jahrhunderts bei Bombenanschlägen auf Zaren oder Minister den eigenen Tod in Kauf genommen. Im Mai 1970 führten die drei Japaner das Selbstmordattentat als neues Konzept und als kaum abwehrbare Waffe in den Nahostkonflikt ein. Eine tödliche, verlockende Waffe für die Schwachen.

Die Palästinenser hatten ihren Kampf vorwiegend mit dem Verlangen nach Gerechtigkeit begründet. Der Selbstmord als Demonstration von Loyalität war ihnen fremd. Jetzt schlugen sie eine Brücke zur Figur des Märtyrers, auf die sich später die Hisbollah, Hamas, al-Qaida und andere religiös-politische Selbstmordattentäter im Heiligen Krieg bezogen. Es dauerte allerdings noch zwei Jahre, bis Kämpfer einer Abspaltung der PFLP in Israel ein Massaker anrichteten, bei dem sie sich schließlich zusammen mit ihren Geiseln in die Luft sprengten.

Revolution als Schicksal

Ein israelisches Militärgericht klagte Okamoto im Sommer 1972 auf Grundlage einer von den Briten 1945 erlassenen Verordnung wegen terroristischer Aktivitäten an, für die die Todesstrafe ausgesprochen werden konnte. Das Gericht begnügte sich mit einer lebenslangen Haftstrafe.

Patricia Steinhoff, eine auf Hawai lehrende amerikanische Soziologieprofessorin und Japanexpertin, interviewte Okamoto im August 1972. Er erzählte ihr, dass er und seine beiden Genossen ihren Tod eingeplant hätten. Steinhoff erkannte darin die Haltung japanischer Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg wieder. Die Rotarmisten wollten möglichst viele Menschen umbringen, um der Welt die Möglichkeiten der Revolutionäre zu zeigen und Schock zu erzeugen.

Okamoto berichtete der Wissenschaftlerin: „Als ich ein Kind war, erzählte man mir, dass Menschen Sterne werden, wenn sie sterben. Wir drei Soldaten der Roten Armee wollten Orion werden, wenn wir sterben. Und mein Herz wird von dem Gedanken beruhigt“, sagte der Gefangene, „dass all jene Menschen, die wir töteten, auch Sterne am selben Firmament werden. Wenn die Revolution voranschreitet, wie werden sich dann die Sterne vermehren.“

Die Revolution als Schicksal: Die Überlebenden der Gruppe erklärten das Massaker auf dem Flughafen zum Gründungstag der Nihon Sekigun, der Japanischen Roten Armee. Ihre inoffizielle, bei den Palästinensern sehr geschätzte Führerin blieb Fusako Shigenobu. Fortan veröffentlichte die Gruppe Jahr für Jahr um den 30. Mai herum feierliche Kommuniqués. In dem Text von 1977 heißt es: „Wir sind ein integraler Bestandteil der jungen revolutionären Bewegung in Japan, mit Mut und Begeisterung, aber auch mit Arroganz und Subjektivität.“

In der Erklärung, die das Ministerium für Staatssicherheit der DDR übersetzen ließ, heißt es weiter: „Wir gingen aus Japan fort mit wenig Erfahrung, ohne ehrliches und tiefes Verständnis des japanischen Volkes, aber mit viel Fantasie, was uns selbst angeht.“ Die weltweite Wirkung des Massakers von Lod hatte sie offenbar überrascht: „Sein objektiver Wert und seine Bedeutung haben unsere subjektiven Hoffnungen übertroffen.“ Die Aktion sei aber nur möglich gewesen auf der Grundlage „des glorreichen und bewährten Kampfes des palästinensischen Volkes“.

Nach 13 Jahren frei

Gleichzeitig zeigte man sich kritisch gegenüber dem praktizierten „bourgeoisen Heroismus“ und damit, sich mit dem Opfergang und dem physischen Tod zu brüsten. „Wir hätten uns mit dem festen Glauben ans Leben und nicht an den Tod organisieren müssen. Nur das Vertrauen auf das Leben und auf die Entwicklung kann uns für den Kommunismus vorbereiten.“

Der Überlebende, Kozo Okamoto, kam nach 13 Jahren frei. Die israelische Regierung tauschte ihn im Mai 1985 zusammen mit 1.186 palästinensischen Häftlingen unter Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes gegen drei israelische Soldaten aus. Okamoto wurde in Libyen medizinisch behandelt, fand das Ministerium für Staatssicherheit der DDR noch heraus, dann war er vom Bildschirm verschwunden.

Während er im Gefängnis gesessen hatte, waren seine Kampfgenossen nicht untätig geblieben, sie hatten in Europa und Asien Botschaften besetzt oder Flugzeuge entführt und so immer wieder insgesamt zwölf in Japan einsitzende Rotarmisten freigepresst und Millionen von Dollar an Lösegeld eingestrichen. Die japanische Regierung zeigte sich wesentlich nachgiebiger als beispielsweise Bundeskanzler Helmut Schmidt.

Doch nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts allmählicher Entspannung im Nahen Osten war der Libanon kein sicherer Rückzugsraum für die japanischen Soldaten der Weltrevolution. Die meisten der rund 30 Japaner setzten sich nach Osteuropa und Südamerika ab, wo eine ganze Reihe von ihnen festgenommen und nach Japan ausgeliefert wurde.

Okamoto verhafteten libanesische Polizisten im Februar 1997 zusammen mit vier weiteren japanischen Rotarmisten. Während Letztere nach Jordanien abgeschoben und von dort nach Japan ausgeliefert wurden, gewährte die libanesische Regierung Okamoto politisches Asyl. Der Japaner war und bleibt ein Held der arabischen Massen.

Der einstige Attentäter ist heute 65 Jahre alt und lebt in einem Vorort von Beirut. Wie Patricia Steinhoff berichtet, ist er zum Islam konvertiert. Doch er ist von seinen Mordtaten und der langen Haft in Israel gezeichnet. Unfähig, allein den Alltag zu bewältigen, leben Freunde und Unterstützer im Wechsel mit ihm zusammen. Gleichzeitig kann Okamoto sich aufgrund des Massakers von Lod bis heute einer gewissen Berühmtheit erfreuen. Regelmäßig grüßen ihn Unbekannte freundlich auf der Straße.

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