29 Jahre nach dem Tschernobyl-GAU: Das Schiebedach klemmt mal wieder

Eine zweite Hülle soll den Unglücksort abschirmen. Bis 2017 soll sie fertig sein, doch die Finanzierung ist unsicher und die alte wird bald undicht. Ein Besuch.

Die alte Hülle rostet, die neue wird nicht fertig. Sieht ganz schön trist aus. Bild: dpa

TSCHERNOBYL taz | Der Milizionär lässt sich Zeit. Peinlich genau nimmt er den Kofferraum des Pkws in Augenschein. Erst dann darf das Paar an den Ort weiterfahren, den es vielleicht verflucht: Tschernobyl. „Wir haben Krieg. Jederzeit könnten sich Saboteure in die Sicherheitszone einschleusen und unserem Land riesigen Schaden zufügen“, begründet die Sprecherin von Energoatom, Ilona Sajez, die Sicherheitsmaßnahmen. Zwanzig Minuten braucht ein Auto vom Checkpoint zum Unglücksreaktor, vorbei an einsamen Fichten- und Birkenwäldern.

Am Reaktor herrscht emsiges Treiben. Frauen in orange Kleidung markieren Straßenübergänge und Wegränder, Arbeiter gehen Richtung Speisesaal, ein Bus mit Uniformierten fährt über das Gelände. Wie Ameisen bewegen sich kletternde Männer an der „Akra“, einer bogenförmige Schutzhülle. 108 Meter hoch, 162 Meter lang und 257 Meter breit wird sie wenige Meter vom Unglücksort entfernt aufgebaut. Nach ihrer Fertigstellung soll sie auf Gleisen über den Katastrophenreaktor geschoben werden.

In der Hülle spiegelt sich der blaue Himmel. Arbeiter seilen sich von gigantischen Kränen auf die Decke des Bogens ab, um kleinere Änderungen vorzunehmen. Es scheint, als wäre die Hülle, der neue Sarkophag, bereit für ihren Einsatz.

Es wird Zeit. Bereits 2004 hatten Oda Becker und Helmut Hirsch in einer Greenpeace-Studie zu größerer Eile bei der Fertigstellung des Neubaus gemahnt. Die 1986 „hastig“ gebaute Betonhülle sei für eine Lebensdauer von 20 bis 25, maximal 30 Jahren, ausgelegt gewesen, so die Greenpeace-Autoren. Mittlerweile sind 29 Jahre verstrichen.

Problem Finanzierung

Vor Ort will Chefingenieur Wladimir Kaschtanow die Besucher beruhigen. Schon vor sieben Jahren seien „ernsthafte Maßnahmen zur weiteren Stabilisierung der 1986 angefertigten Konstruktionen durchgeführt worden“, sagt Kaschtanow. Deswegen halte der bisherige Sarkophag nun bis 2023. Und der neue werde – wie vertraglich zugesichert – bis zum 30. November 2017 fertiggestellt. Das sei unzweifelhaft, betont Kaschtanow.

Zwar sei es in der Vergangenheit zu Verzögerungen gekommen, aber das habe seine Gründe. „In aller Regel wird das anfangs vereinbarte Datum der Fertigstellung von schwierigen und langfristigen Projekten nie eingehalten“, weiß der Chefingenieur.

Ein Problem bleibt die Finanzierung der neuen Hülle. 1,5 Milliarden Euro haben die sieben führenden Industriestaaten und Russland der Ukraine für den Bau zugesagt. 750 Millionen Euro sind bisher eingetroffen. Die habe man schon ausgegeben, berichtet Kaschtanow. Der Sarkophag werde 1,6 Milliarden Euro kosten. Insgesamt benötige man sogar 2,1 Milliarden. Denn weitere 500 Millionen seien erforderlich, um die Demontage der alten Schutzhülle einzuleiten.

„Natürlich ist es mit dem Bau eines neuen Sarkophags nicht getan“, sagt Tatjana Werbizkaja vom Nationalen Zentrum für Ökologie der Ukraine. „Doch mir ist nicht nachvollziehbar, wofür man eine halbe Milliarde Euro zusätzlich ausgeben will. Da wäre mehr Transparenz erforderlich“, kritisiert die Atomkraftgegnerin. Sie höre zum ersten Mal, dass man 2,1 Milliarden brauche.

Kein Plan für Entsorgung

Für die Demontage der alten Hülle fehlt es nicht nur an Geld. Dafür gebe es derzeit noch nicht einmal ein Projekt, sagt Chefingenieur Kaschtanow. Dabei müsse der alte Sarkophag bis 2023 abgebaut sein.

Unklar ist vor allem, wo das strahlende Material aus Reaktor 4 gelagert werden soll. Es gebe noch keinen Plan zur Entsorgung, räumt Andrej Savin, Chefingenieur des im Bau befindlichen Atommülllagers für die Reaktoren von Tschernobyl, ein. „2018 wird das neue Lager fertiggestellt, in das der Atommüll aus dem Abklingbecken gebracht werden soll. Doch für Atommüll aus dem Unglücksreaktor, der zum Teil sehr deformiert ist, haben wir noch keine Lösung“, so Savin.

Auch beim Verlassen der Sicherheitszone wird sorgfältig kontrolliert. Die Besucher sind erleichtert: Allen wurde beim Verlassen der Sicherheitsschleuse auf dem Display ein „unverstrahlt“ angezeigt. Es scheint, in Tschernobyl hat man alles im Griff. Erleichtert begibt sich die Gruppe auf den Weg in die ukrainische Hauptstadt Kiew. Vorbei an ausgestorbenen Dörfern, zerfallenen Häusern und Denkmälern für die Opfer der Katastrophe. „Vergib mir, mein Haus, auf Wiedersehen“ prangt in klarer Schrift auf der Wand eines verlassenen Hauses.

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