27 Jahre nach Völkermord in Srebrenica: Frieden gab es nie

In Bosnien wurde der Krieg 1995 beendet, aber das Konzept der ethnischen Trennung dauert bis heute an. Jetzt besteht endlich Grund zur Hoffnung.

Eine ältere Frau und zwei Mädchen stehen vor einer Gedenktafel in Srebrenica

Nach Srebrenica ging in Bosnien die ethnische Trennung weiter Foto: Armin Durgut / ap

Als am vergangenen Montag, 27 Jahre nach dem Genozid in Srebrenica, der Ermordeten gedacht wurde, war vielen Beteiligten klar, dass es nicht mehr nur um die Wiederholung von Fensterreden ging. Seit den Resolutionen des Deutschen Bundestags und des EU-Parlaments zu Bosnien und Herzegowina deutet sich endlich ein Politikwechsel des Westens gegenüber dem zerrissenen Land an.

Der Bundestag tritt für eine rechtsstaatlich abgesicherte Verfassungsreform ein, die alle Bürger gleichbehandelt und Diskriminierung verhindern will. Der Bundestag sieht Bosnien und Herzegowina als Teil der europäischen Familie an und will dem Land den Kandidatenstatus in die EU verschaffen. Die Resolution spricht sich gegen die von serbischen Nationalisten geforderte Abspaltung der serbischen Teilrepublik aus und will auch keine von den kroatischen Nationalisten geforderte kroatisch dominierte „Dritte Entität“, also Teilrepublik, zulassen.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird endlich auch in Berlin verstanden, dass die vorausgegangene jahrzehntelange Politik der ständigen Kompromisse mit den rabiaten Nationalisten vor allem auf serbischer und kroatischer Seite gescheitert ist. Diese Schwäche der EU und auch Deutschlands hat letztlich die Türen für Russland geöffnet, Bosnien und Herzegowina als Einfallstor für die Durchsetzung einer gegen die EU und die liberalen Demokratien gerichteten Politik auf dem Balkan zu benutzen.

Dass jetzt endlich die Alarmglocken klingeln, ist auch einigen aktiven und aufmerksamen Abgeordneten in der Ampelkoalition und der sich endlich durchsetzenden Erkenntnis zu verdanken, dass der Krieg in Bosnien vor 30 Jahren viele Parallelen zu dem heute uns alle bedrohenden Krieg in der Ukraine aufweist. Der serbische und später auch der kroatische Angriffskrieg auf das Land standen in ihrer Brutalität dem heutigen Krieg in nichts nach.

Endlich versteht Berlin, dass die Politik der ständigen Kompromisse mit den rabiaten Nationalisten gescheitert ist

Nicht nur der aus der sowjetischen Militärtaktik hervorgehende Vernichtungskrieg mit Artillerie und dem folgenden Einsatz von Bodentruppen kann da verglichen werden. Auch das ideologische Konstrukt: Wie Putin der Ukraine eine eigene Identität und damit das Existenzrecht des Staats abspricht, wurde von serbischen und kroatischen Nationalisten Bosnien und Herzegowina das Existenzrecht als Staat abgesprochen.

Die einzigartige, über Jahrhunderte gewachsene multinationale, multireligiöse Gesellschaft des Landes wurde von beiden Seiten als „Jugoslawien im Kleinen“ diffamiert, die es zu zerschlagen gelte. Die Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Slobodan Milošević und Franjo Tudjman, standen schon 1991 – also vor den Jugoslawienkriegen – bei einem Treffen gemeinsam hinter diesem Konzept, das durch die heutige Nationalistengeneration in Gestalt des serbischen Politikers Milorad Dodik und des bosnischen rechtsextremen Kroaten Dragan Čović vehement vertreten wird.

An die Blutspur von damals mag der Genozid in Srebenica erinnern, doch leider ist fast vergessen, dass ebenso furchtbare Verbrechen schon 1992 stattfanden, als die serbischen Soldaten vor allem die Muslime Bosniens zu vernichten und zu vertreiben suchten. Das, was heute als serbische Republika Srpska – einem der beiden Teilstaaten Bosniens – existiert, fußt auf einem monströsen Verbrechen, dem mehr als 100.000 Menschen zum Opfer fielen und durch das fast zwei Millionen vor allem bosnische Muslime vertrieben wurden.

Hypothek von Dayton

Die Verhandler des Friedensabkommens von Dayton waren 1995 zwar froh, die Kämpfe zu beenden, Frieden geschaffen haben sie allerdings nicht. Die Teilung des Landes in ethnisch definierte Territorien ist die Hypothek, die bis heute mitgeschleppt wird. Zwar gab es zeitweilig eine Entspannung, als in Serbien und Kroatien mit Zoran Đinđić und Stipe Mesić linksliberale Führungen gewählt wurden. Doch Zoran Đinđić wurde 2003 ermordet und Mesić im heutigen Kroatien an die Seite gedrängt. Seither versuchen rabiate Rechtskräfte in beiden Ländern, das Nachbarland Bosnien und Herzegowina weiter aufzuspalten.

Doch wer wie die EU und auch Deutschland jahrzehntelang untätig zugeguckt hat, muss jetzt erkennen, dass nach 30 Jahren der Prozess der Teilung der Gesellschaft weit fortgeschritten ist. Die unter Vierzigjährigen haben keine Erinnerungen an das friedliche Zusammenleben der Menschen vor dem Krieg. Den serbischen und kroatischen Nationalisten ist es gelungen, ihre Geschichtsinterpretationen in „ihren“ Schulen und Medien durchzusetzen.

Demnach sind vom UN-Tribunal verurteilte Kriegsverbrecher wie Ratko Mladić Helden der eigenen Nation. Srebrenica sei kein Völkermord und der Krieg ein Bürgerkrieg gewesen, lautet die Erzählung. Auch die kroatischen Nationalisten klittern ähnlich die Geschichte.

Aktionsfähige Zivilgesellschaft

Vor allem religiöse muslimische Bosniaken haben ebenfalls die Tendenz entwickelt, sich abzukapseln. Immerhin gibt es auf der bosniakischen Seite eine differenzierte Parteienlandschaft und eine freie Presse sowie eine Zivilgesellschaft, die zuweilen aktionsfähig ist. Künstler und einige Intellektuelle halten von allen Seiten den Kontakt untereinander aufrecht.

Und die Zivilgesellschaft freut sich, dass die kroatische Diplomatie mit ihrem Projekt Dritte Entität krachend gescheitert ist und dass mit den Truppenverstärkungen des Westens gezeigt wird, dass eine Abspaltung der serbischen Teilrepublik nicht erlaubt ist, sondern die territoriale Integrität nicht nur durch Europa, auch von den USA garantiert wird.

Um die neue Politik durchzusetzen, gilt es viele Widerstände zu überwinden. Nicht nur im Land selbst, auch innerhalb der EU gibt es Kräfte, die zu den nationalistischen Seiten enge Kontakte unterhalten – so wie Ungarn und viele Rechtskräfte in der EU. Diese Kräfte warten ab, wie sich der Ukrainekrieg entwickelt. Sollte Putin siegen, werden die Nationalisten in Bosnien und dem Balkan insgesamt gestärkt – mit allen Konsequenzen.

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Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.

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