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25 Jahre Pogrom von Lichtenhagen„Wir müssen reden“

Mai-Phuong Kollath will Betroffenen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen eine Stimme geben. Der Brandanschlag hat ihr Leben verändert.

Mai-Phuong ­Kollath erinnert sich an die Zeit vor und nach dem Anschlag von Rostock-Lichtenhagen Foto: Erik Irmer

Berlin taz | Als sie vor 25 Jahren, im August 1992, vor dem ausgebrannten „Sonnenblumenhaus“ stand, war auch in Mai-Phuong ­Kollath etwas zerbrochen. Die Türen des Gebäudes, in dem sie so viele Jahre lang gelebt hatte, waren eingetreten, die Fenster lagen in Scherben, und alles war wie leergefegt.

Zunächst glaubte Mai-Phuong Kollath, ihre ehemaligen Mitbewohner seien abgeschoben worden, denn von ihnen fehlte jede Spur. „Als der dunkle Qualm über dem Gebäude aufging und Hubschrauber in der Luft schwirrten, hatte ich mich an den Krieg in Vietnam erinnert gefühlt, wo wir uns im Bunker verstecken mussten“, erzählt sie. „Ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, dass Deutsche zu so etwas fähig sind.“ Und sie zweifelte daran, dass sie in diesem Land eine Zukunft haben könnte.

Mai-Phuong Kollath war 1981 als eine der 60.000 vietnamesischen VertragsarbeiterInnen in die DDR gekommen. Mit 18 Jahren verschlug es sie nach Rostock hoch im Norden, wo sie als Küchenhilfe in einer Großküche für Hafenarbeiter schuftete und im betriebsinternen Wohnheim, im „Sonnenblumenhaus“ lebte. Wie alle vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, musste sie einen Teil ihres Lohns zwangsweise an ihr Heimatland abführen. Vor allem Kernseife und Zucker schickte sie ihrer Familie. „Davon müsste es in Vietnam heute noch Vorräte geben“, scherzt die 54-Jährige.

Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie 1987 einen Deutschen, mit dem sie ein Jahr später eine Tochter bekam. Die Schwangerschaft verheimlichte sie, weil sie sonst abgeschoben worden wäre, bis zum siebten Monat. „Erst als ich wusste, dass sie mich nicht mehr ins Flugzeug stecken können, habe ich mich offenbart.“

Sehr viele Vertragsarbeiterinnen trieben damals ab, wenn sie schwanger wurden. Sie durfte mit ihrem Baby bleiben, musste aber eine Strafe von 8.060 DDR-Mark an den vietnamesischen Staat zahlen – wegen „Vertragsbruchs“. Von der Legende, die DDR sei eine kinderfreundliche Gesellschaft gewesen, hält Mai-Phuong Kollath nichts. Für sie galt das nicht.

Sündenbock für Versorgungsengpässe

Alltagsrassismus gab es auch in der DDR. „Die Fidschis kaufen uns alles weg“, hieß es, wenn sie sich in der Schlange vor dem Konsum einreihte. „Die DDR-Führung ließ es zu, dass wir zum Sündenbock für die Versorgungsengpässe gemacht wurden“, sagt Kollath rückblickend. Nach dem Mauerfall kündigten viele die verordnete Völkerfreundschaft auf und manche witterten die Gelegenheit, ihren angestauten Aggressionen Luft zu machen. Das Wort von der „Zigarettenmafia“ machte die Runde machte.

Kollath arbeitet nach dem Mauerfall in einer Kindertagesstätte und eröffnete mit ihrem Mann auf einem Campingplatz ein kleines Lokal. Dort zeigten ihr glatzköpfige Gäste im August 1992 den Hitlergruß. Als einige der wenigen Rostocker Vietnamesen wohnte Kollath damals schon nicht mehr im „Sonnenblumenhaus“, als es im August 1992 brannte. So blieb ihr die dramatische Flucht über das Dach erspart, mit der die rund 120 Bewohner, ein Fernsehteam und der damalige Ausländerbeauftragte der Stadt ihr Leben retteten.

Der Brandanschlag hat ihr Leben dennoch verändert. Kollath engagierte sich fortan im deutsch-vietnamesischen Verein „Dien-Hong“, dessen stellvertretende Geschäftsleiterin sie wurde. Sie studierte an der Universität Rostock Erziehungswissenschaften, bevor sie sich selbstständig machte. Heute berät sie Deutsche, die für die Entwicklungszusammenarbeit oder aus geschäftlichen Gründen nach Vietnam gehen, und bietet Trainings für Behörden an. In ihren Seminaren sitzen Kita-Erzieherinnen oder Bundespolizisten.

Als der dunkle Qualm über dem Gebäude aufging und Hubschrauber in der Luft schwirrten, hatte ich mich an den Krieg in Vietnam erinnert gefühlt, wo wir uns im Bunker verstecken mussten

Mai-Phuong Kollath

Seit sieben Jahren wohnt Mai-Phuong Kollath in Berlin. „Ich bin viel freier und unabhängiger, seit ich nicht mehr in Rostock lebe und für den Verein spreche“, sagt sie. Nach Rostock fährt sie nach wie vor gern, um Freunde zu besuchen oder um im Meer zu schwimmen. „Das kann man nicht mit den Seen in und um Berlin vergleichen“, schwärmt sie.

Mit dem offiziellen Gedenken an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen tut sie sich dagegen schwer. Zwar habe sich viel getan, gibt sie zu – seit den ersten, selbst organisierten Veranstaltungen im kleinen Kreis bis zur offiziellen Gedenkfeier mit dem damaligen Bundespräsident Joachim Gauck vor fünf Jahren ist das Ereignis fest ins kollektive Gedächtnis der Republik gerückt. Doch die Stimmen derjenigen, die der rassistische Mob damals ins Visier genommen hatte, sie sind noch immer kaum vernehmbar.

„Die Opfer haben kein Gesicht“

„Rostock-Lichtenhagen ist zum Symbol geworden für Politikversagen, für Rassismus, Wendestress und die Änderung des Asylrechts“, sagt Mai-Phuong Kollath. „Man sieht auf den Fotos immer das brennende Haus. Oder die Täter. Aber nie die Opfer. Die Opfer haben kein Gesicht.“

Auch viele der Vietnamesen, die damals im brennenden Haus waren, möchten die Geschehnisse lieber verdrängen, hat sie festgestellt, oder sie schämen sich sogar dafür. Manche werfen ihr vor, zu nachtragend zu sein. „Sie vergessen, dass sie beim Abtransport in eine Sportunterkunft im Bus auf dem Boden sitzen oder liegen mussten, um nicht erkannt zu werden, und sich dort tagelang nur von Bockwurst ernährt haben.“

Gedenken zum 25. Jahrestag

Stelen aus Marmor: An den 25. Jahrestag der Ausschreitungen erinnert die Hansestadt mit einer Gedenkwoche. In den kommenden Tagen sollen fünf Stelen aus Marmor in verschiedenen Stadtteilen eingeweiht werden, unter anderem vor einer Polizeiinspektion und am „Sonnenblumenhaus“. Sie tragen die Titel „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und „Selbstjustiz“ und erinnern an deren Verantwortung.

Musik, Kunst und Diskussion: Statt einer großen Veranstaltung ist ein dezentrales Gedenken mit Musik, Kunst und Diskussionen geplant. Man will damit vermeiden, dass sich Lichtenhagener stigmatisiert fühlen.

Rose spricht: Bei einer Veranstaltung in der Rostocker Marienkirche wird am Dienstag auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, sprechen. Dahinter steht die Absicht, auch Vertreter jener Menschen zu Wort kommen zu lassen, die damals Opfer waren.

Eine befreundete Mutter aus Rostock, damals hochschwanger, spielt die Ereignisse heute herunter. Dabei hätte sie beinahe ihr Kind verloren, und im ganzen Nachbargebäude hätten damals nur zwei Familien den Flüchtenden die Tür geöffnet, um ihnen Schutz zu bieten, sagt Kollath. „Ein anderer Landsmann von mir, der vor einem Jahr verstorben ist, sagte mir: Ich habe als Soldat in der Armee gekämpft. Ich wusste, das sind Halbstarke. Aber ich hatte Angst, jemanden töten zu müssen“, berichtet Kollath. „Man verdrängt so etwas gerne.“

Das entspreche auch dem vietnamesischen Selbstverständnis: „Wir erheben unsere Stimme nicht, wir sind höflich und halten uns zurück und lächeln sogar Beleidigungen weg.“ Bei vielen Deutschen sind Vietnamesen deshalb beliebt und gelten manchen heute als Vorzeigemigranten.

„Ich muss immer lachen wenn jemand sagt, wir seien so gut integriert“, sagt Kollath. „Das haben wir uns alles erkämpft. Erst 1997 hätten die ehemaligen VertragsarbeiterInnen eine unbefristete Arbeitserlaubnis erhalten. „Das hat es ihnen ermöglicht, ihre Familien nachzuholen, Kinder zu bekommen und Wurzeln zu schlagen.“ Nun steckten viele Vietnamesen alles in ihre Kinder, politisch aber blieben sie stumm. „Das ist der Preis dieser Unsichtbarkeit: Wir sind kaum in öffentlichen Debatten vertreten“, sagt Kollath. Sie will das ändern. „Wir müssen reden“, sagt sie.

Folgenschwerer Irrtum

1992 glaubten die meisten Viet­namesen in Rostock, dass sich die Wut der Anwohner und die Agitation der Rechtsradikalen nicht gegen sie selbst, sondern „nur“ gegen die Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien richten würde, die vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber campierten, die damals ebenfalls im Sonnenblumenhaus“ untergebracht worden war. Auch die Polizei glaubte das, weshalb sie ihre Beamten abzog, nachdem das Asylbewerberheim evakuiert und die Aufnahmestelle geräumt worden war. Doch das war ein folgenschwerer Irrtum.

Kollaths Ziel ist, die Betroffenen von damals, von denen nicht wenige inzwischen wieder in Vietnam und nur ein Teil noch in Rostock leben, nach den Ereignissen von damals zu befragen. Sie will den ehemaligen Bewohnern des „Sonneblumenhauses“ und deren Kindern eine Stimme geben und ihre Erfahrungen dokumentieren.

Im Mai war Mai-Puong Kollath beim „NSU-Tribunal“ in Köln. „Die persönliche Erfahrung mit Rassismus verbindet“, sagt sie. In Köln gab es eine Ausstellung und eine Videoinstallation in mehreren Sprachen, in der Hinterbliebene, Betroffene und Experten zu Wort kamen. Mehrere Schulen setzen diese Videodokumentation als Arbeitsmittel ein. So etwas schwebt Kollath auch mit Blick auf die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren vor. „Das wäre ein lohnendes Projekt“, sagt sie.

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16 Kommentare

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  • Lichtenhagen machte mir deutlich was für ein Staat die DDR letztendlich war.

     

    Totalitär ohne wirkliche Toleranz anderen Ideen oder Menschen gegenüber.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @Justin Teim:

      Mölln und Solingen vergessen?

      Nach dieser Logik war die BRD genauso.

  • Hoyerswerda, Lichtenhagen, Mölln, Solingen …. Heidenau, die vielen Hundert angesteckter, ca. zur Hälfte davon bewohnter Flüchtlingsunterkünfte … Reker-Attentat, das Ausschlachten jedes IS-Anschlages für eigene billige Hetzpropaganda.

     

    Die Kette rassistischer, menschenverachtender Gewaltakte ist lang. Die ermitteltenm Täter von Brandanschlägen waren in der Rgel nicht fest verankert in rechtsextremen Organisationen, sondern handelten aus tief sitzendem Hass heraus, der sich in sozialen Netzen z.B. auf AfD-Webseiten gegen Ausländer, gegen Schwule, gegen Feministinnen, gegen links-grün-vers… artikuliert oder besser gesagt auskotzt.

     

    Am 24.September werden viele von ihnen ihr Kreuz an einer bestimmten Stelle machen und die Schande in den Bundestag wählen. So sehen sie aus: https://www.allmystery.de/i/tdJLbEo_2YgW7K_GrueerVonRostock.jpg

  • Der Artikel ist gut. Doch es wurden unser aller Leben verändert. Ich würde allerdings Solingen als noch einschneidender bezeichnen. Zwei Drittel der hier lebenden Türken unterstützen Erdogan. Seit damals wird von Parallel- und Leidkultur geredet.

     

    Einmal war ich in der DDR. Dabei habe ich gelernt, was Fidschies sind. So gesehen war Rostock für mich vorhersehbar. Die Vietnamesen als Sündenböcke kamen vielen sehr gelegen. Wer war damals an der (Bundes-)Regierung?

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @mdarge:

      "Wer war damals an der (Bundes-)Regierung?"

       

      Ganz oben der Alles-Aussitzer.

  • Vielen Dank für diesn tollen Artikel. Endlich mal eine Betroffenenperspektive! (Ein Bekannter hat grade in seiner Abschlussarbeit eine Diskursanalyse zu den bisher zu den Jahrestagen des Progroms veröffentlichten Artikeln der regionalen Zeitungen verfasst. Betroffenenperspektive? eher Fehlanzeige!) Meine Mutter erzählt sie war damals auf einer Gegendemonstration, dennoch sagt sie es hätte keinen Rassismus in der DDR gegeben - und schon gar keinen Antiziganismus (bezüglich der Roma und Romnja). Ich bin nach der Wende geboren, wohne jetzt mit meinem Kind ebenfalls in Rostock und möchte nicht nur aus einer unbetroffenen Perspektive das Geschehene von damals wiederkauen. Deshalb, liebe Frau Kollath, nicht nur ich würde mich über ihre Arbeit freuen. Die (mindestens zwei) guten sozialen Bildungsträger Rostocks, welche mit Projekttagen zu Rassismus u.a. in MV an die Schulen gehen, werden dankbar für ihr Material sein.

    Es gibt noch viel zu tun!

    • 8G
      82236 (Profil gelöscht)
      @Gerda Abdalla:

      Ich war 1976 zwei Wochen in Rostock Lüttenklein bei Verwandten und hatte viel Kontakt zu DDR-Bürgern, jungen und alten. Rassistische Vorurteile waren da eigentlich genauso verbreitet wie damals im Westen unter der Normalbevölkerung verbunden mit der Wir-Sind-Ja-Auch-Deutsche-Haltung. Rassistische Gewaltakte gab es natürlich nicht, nur manchmal kleine Sticheleien oder Demütigungen, wenn z.B. ein Afrikaner nicht in die Disco des Hotel Neptuns unter fadenscheinigen Gründen eingelassen wurde.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Man könnte für so ein Video auch ein paar von den Punks interviewen, die sich gesammelt hatten, um den Mob zu konfrontieren. Die "Polizei" hatte sich nicht so weit vom Geschehen zurückgezogen, dass sie nicht dazu fähig gewesen wäre, diese Punks "ordentlich" zu verprügeln.

    Dieser Teil der Geschichte fehlt auch in der Aufarbeitung. Die Mär, der Staat hätte "nur zugesehen" oder wäre gar - wie hier kolportiert wird - einem "Irrtum" unterlegen, lässt sich mit ein paar Auugenzeugenberichten glaubhaft widerlegen.

    • @85198 (Profil gelöscht):

      können sie das etwas genauerbeschreiben? Was ist damals passiert?

      • 8G
        85198 (Profil gelöscht)
        @nutzer:

        Nach Aussage aus erster Hand (also ich bin die zweite) in etwa, dass Punks den Mob angreifen wollten und von der Polizei mit Prügel daran gehindert wurden.

        Ich kenne auch noch mehrere andere Aussagen darüber aus Vorträgen, bei denen auch so etwas berichtet wurde.

        Einzelheiten kann ich dazu aber auch nicht beitragen. Fake News will ich auf keinen Fall in Umlauf setzen.

        • @85198 (Profil gelöscht):

          Und schon wurde die Legende von den "Punk-Helden" geboren.

          • 8G
            85198 (Profil gelöscht)
            @Frank Stippel:

            Legenden machen diejenigen, die andere als Legenden feiern. Das selbe gilt für Helden. Das haben Sie geschrieben, nicht ich.

            Wenn ich das nicht aus mehr als einer Quelle unabhängig voneinander gehört hätte, würde ich es nicht ansprechen.

            Ich habe nicht dieses "Legenden"-Kind in die Welt gesetzt.

        • @85198 (Profil gelöscht):

          Ein Pogrom findet qua definitia unter den wohlwollenden Augen der Polizei statt, oder ist gar herrschaftlich vorbereitet, a la Reichskristallnacht. Der Vorwurf ist, dass genau das in Rostock der Fall war und die Belege dafür sind nicht so einfach von der Hand zu weisen, wenn man sich denn damit auseinandersetzen will. Siehe: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/das-pogrom-von-rostock-lichtenhagen

          Die Taz ist übrigens sehr für diesen Artikel aus der Opferperspektive zu loben.

      • @nutzer:

        Ein Pogrom findet qua definitia unter den wohlwollenden Augen der Polizei statt, oder ist gar herrschaftlich vorbereitet, a la Reichskristallnacht. Der Vorwurf ist, dass genau das in Rostock der Fall war und die Belege dafür sind recht überzeugend. Siehe: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/das-pogrom-von-rostock-lichtenhagen

        • 8G
          85198 (Profil gelöscht)
          @rostrotrostrock:

          Danke für den Link, da steht es auch nochmal.