15 Jahre „Arm, aber sexy“-Spruch: Und heute? Reich, aber öde!
Klaus Wowereit prägte vor 15 Jahren den Slogan, Berlin sei „arm, aber sexy“. Die Menschen, die dadurch angelockt wurden, veränderten die Stadt.
Es mutet im Rückblick ganz schön arm an, dass Klaus Wowereit, der prägende Politiker des Nachwende-Berlins, den wichtigsten Satz seiner Karriere ausgerechnet einem neoliberalen Blättchen wie Focus Money gesagt hat. „Arm, aber sexy“ sei Berlin, behauptete Wowereit darin im November 2003, also vor genau 15 Jahren. Der Satz wurde zum Leitmotiv der Stadt, vielfach zitiert, sogar von „Wowi“ selbst, vielfach abgewandelt. Und er stimmte sogar.
Das Berlin des beginnenden Jahrtausends hatte einen gut zehnjährigen Rausch hinter sich; voller politischer Höhepunkte und emotionaler Euphorie, genauso wie tiefer finanzieller Abstürze und Depressionen. Die Mauer war gefallen, doch auf sechs Millionen Menschen, von denen die Stadt nach 1990 träumte, wollten die Stadt an der Spree partout nicht wachsen. Vielmehr brachen die Jobs weg, die Arbeitslosenquote erreicht 2005 mit 19 Prozent ihren Höhepunkt. Von Aufschwung keine Spur. Nur das Nachtleben brummte. Und mit ihm die Kultur.
Denn in Berlin, so die gängige Übersetzung von Wowereits Spruch, brauchst du kein Geld, um zu leben und vor allem viel zu er-leben. Die Wohnungen waren noch billig, die Freiräume, die Brachen im Stadtbild noch da. Blühende Landschaft, hier sind wir. Wobei blühend nicht gleichbedeutend war mit schön, sondern damit, dass immer noch alles irgendwie möglich schien.
Zugleich war die kurze Phrase eine Beschreibung Wowereits selbst: Der Regierende saß auf einem milliardenhohen Berg von Schulden, die er hoffte, mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht loszuwerden – was bekanntlich 2006 scheiterte. Wowereit, das war als Regierungschef auch ein armes Würstchen, das wenig politische Möglichkeiten hatte, die desolate Situation zu verbessern. Aber er wirkte gleichzeitig cool, er trotzte der Wirklichkeit mit seinem manchmal zu lässigen, fast rotzigem Auftreten inmitten der Tristesse. Es soll sogar Leute gegeben haben, die sogar ihn selbst sexy fanden.
Ein Affront
Nur: Viele arme Berliner, denen es nicht um Sexyness, sondern oft ums blanke Überleben ging, empfanden den Spruch als Affront. Die Attitüden Wowereits warfen für sie die Frage auf, was daran bitte noch sozialdemokratisch war.
Doch der Spruch hatte nur eine kurze Gültigkeit – ganz egal wie mantramäßig er wiederholt wurde. Seine Widerlegung war immanent und bereits Teil des Slogans selbst. Die beschworene Attraktivität machte Berlin berühmt, sie lockte Menschen aus vielen Teilen der Welt an und Investoren, die en gros billig Wohnungen kauften. In der Folge gewann die Aufwertung vieler innerstädtischen Quartiere an Fahrt. Es folgte die Verdrängung, ein Prozess, der als Gentrifizierung aus vielen anderen Großstädten weltweit bereits bekannt war.
Wowereit fand selbst das noch sexy: Alles, was die Mieten steigen lässt, ist gut für Berlin, weil es Ausdruck einer verbesserten ökonomischen Lage sei. „Veränderung ist kein Teufelszeug“, sagte Klaus Wowereit einst der taz. Diese Einschätzung teilten nicht viele, vor allem nicht die Mieter.
Heute, 15 Jahre später, ist Berlin eine ganz andere Stadt als 2003. Sie ist immer noch arm in vielerlei Hinsicht, sie ist auch noch sexy in mancher Hinsicht. Aber sie ist auch vieles andere mehr. Nur was?
Mieten steigen ins Unermessliche
Anders als 2003 steht Berlin nicht am Anfang, sondern mitten in einer Entwicklung: Die Stadt schrumpft nicht mehr, sie wächst. Unternehmen – deutsche und internationale – ziehen nicht mehr weg, sondern an die Spree. Die vier Universitäten sind keine überlaufenen Bruchbuden mehr, sondern begehrte Forschungsstationen. Die Arbeitslosenquote liegt unter acht Prozent. Doch die Subkultur ist unter Druck: Die Mieten steigen ins fast Unermessliche, Wohnungen und Ateliers sind Mangelware, sogenannte Zwischennutzungen von Räumen und Orten, wie sie die Stadt zwei Jahrzehnte geprägt haben, sind heute oft nur noch mit Unterstützung von großen Konzernen oder Immobilienentwicklern möglich.
Und wohin die Entwicklung auf mittlere Sicht führt, ist völlig unklar. Wird die Stadt wie London, Paris, New York als Wohnort unbezahlbar, selbst für weite Teile der Mittelschicht? Kann eine auf staatliche Unterstützung bitter angewiesene Kulturszene so frei und brillant sein, dass sie weltweit ausstrahlt? Gibt es den Raum – im wörtlichen und übertragenen Sinn – für Improvisation? Kommt Berlin von seinen immer noch 58 Milliarden Euro Schulden irgendwie runter?
Auch die Politik hat keine Ahnung, wo und wofür Berlin gerade steht. Das drückt sich am deutlichsten darin aus, dass es Wowereits Nachfolger nicht gelingt, einen ähnlichen stimmigen und stimmenden Slogan in die Welt zu setzen. Michael Müller spricht zwar regelmäßig von einem „Jahrzehnt der Investitionen“, gar von einem goldenen Zeitalter, und die Stadt selbst wirbt mit „be Berlin“. Doch all diese Slogans sagen wenig bis nichts aus, sie sind nicht greifbar – und erst recht nicht sexy.
Das Berlin von heute ist ein Ort, der um seine Identität, seinen (rauen) Charme kämpft. Berlin ist nicht mehr die Nachwende- oder Nachmauer-Stadt, es ist keine Nische mehr auf dem internationalen Parkett global orientierter Großstädte. Es ist gleichwohl eine Stadt, die, wenn von anderen Metropolen unterscheidbar bleiben will, bestimmte Entwicklungen verhindern oder zumindest deutlich abmildern muss: die Wohnungsnot etwa, den endlosen Strom von Touristen. Da kann man lernen von den (schlechten) Erfahrungen anderer Städte wie London, San Francisco und Barcelona. Und man muss einen eigenen Weg finden – der zumindest ein bisschen sexy sein sollte.
Dieser Text ist Teil eines vierseitigen Schwerpunktes zum Thema „Arm, aber sexy“ in der Wochenendausgabe der taz Berlin vom 10./11. November 2018.
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