1. Bundesliga-Spieltag nach Paris-Terror: Angst vor der Angst
Nach den Anschlägen von Paris sprechen die Akteure der Liga allenfalls von einem mulmigen Gefühl. Sie geben vor, sich aufs Spiel zu fokussieren.

Angst hemmt, Erfolge erfordern Mut, die Verdrängung von Befürchtungen und Sorgen ist ein sehr vertrauter Mechanismus in der Bundesliga. Es kann also niemanden verwundern, dass am ersten Spieltag, nachdem der Terror den Fußball erreicht hat, überall ähnliche Versionen einer der ewig aktuellen Behauptung kursieren: „Wir habe keine Angst!“
Und so muss auch Schalkes Trainer André Breitenreiter keine Sekunde über seine Antwort nachdenken, als er nach dem Befinden von Leroy Sané gefragt wird. Sané gab am vorigen Freitag in Paris sein Länderspieldebüt und verbrachte die anschließende Nacht des Terrors mit der Nationalmannschaft in der Kabine des Stadions. „Ich habe mit Leroy darüber gesprochen, er hat das komplett verarbeitet, wie er mir mitgeteilt hat“, erzählt Breitenreiter lapidar.
Der Trainer, der mit seinem Klub am Samstagabend das Topspiel gegen Bayern München bestreitet, berichtet zwar von einem „mulmigen Gefühl“, mit dem er selbst und vermutlich Hunderttausende andere Fußballmenschen an diesem Wochenende in die Stadien gehen, findet aber, dieses Unbehagen dürfe „niemals in Angst ausschweifen, denn wenn ich Angst habe, bleibe ich zu Hause und verbarrikadiere mich.“
Die Gefahr ist real
Sollten die gut 200 Profis, die am Wochenende in der Bundesliga spielen, ihre Arbeit tatsächlich ohne größere Ängste verrichten, wäre das dennoch eine erstaunliche Leistung. Denn die Gefahr ist real, nach neuesten Berichten über die Hintergründe der Länderspielabsage vom Dienstag, gibt es in Deutschland wirklich Leute, die Bomben in voll besetzten Stadion explodieren lassen wollen. Aber Fußballer sind grundsätzlich perfekt geübt darin, äußere Stressfaktoren auszublenden.
Sie haben sich daran gewöhnt, Dinge wie Erfolgsdruck, einen drohenden Abstieg, eine bevorstehende Trainerentlassung und hysterische Schlagzeilen aller Art konsequent auszublenden. Nun verdrängen sie eben die Gedanken an einen möglichen Anschlag. „Der ein oder andere befasst sich bei uns zwar damit, aber eher im Alltag, auf dem Platz hat das Thema nichts zu suchen“, sagt Aytaç Sulu, der Kapitän von Darmstadt 98.
Die große Mehrheit der Spieler reagiert allem Anschein nach ziemlich routiniert auf die Terrorgefahr, die den Fußball erreicht hat. Er sei zwar „betroffen“, aber „sehr fokussiert auf das Spiel“, sagt Borussia Dortmunds Henrikh Mkhitaryan, der schon am gestrigen Freitagabend beim HSV spielte. Kölns Trainer Peter Stöger erzählt vor dem Duell gegen Mainz 05, er gehe „mit dem gleichen Gefühl in das Spiel wie sonst auch. Die Jungs brennen darauf, ein Bundesligaspiel zu spielen.“
Ablenkung von Grausamkeiten
Es hat paradoxe Züge: Wer in den kommenden Wochen, vielleicht Monaten ein Stadion betritt, wird eine latente Bedrohung spüren, zugleich dient das Eintauchen ins Spielgeschehen aber als Mittel der Zerstreuung, der Ablenkung von den Grausamkeiten der Welt. „Die Kraft der Ablenkung liegt auch darin, sich auf ein Spiel zu konzentrieren, unser Hobby, unseren Beruf ernst zu nehmen“, findet Dortmunds Trainer Thomas Tuchel.
Aber wäre es wirklich so verwerflich, Angst zu haben? Oder ist es nicht vielleicht sogar mutiger, Sorgen und Befürchtungen zuzulassen, zu artikulieren und offensiv zu verarbeiten? Philipp Lahm, der Kapitän des FC Bayern München, ist bislang einer der wenigen, die sich nicht an den allgegenwärtigen „Jetzt erst recht“- und „Wir haben keine Angst“-Appellen beteiligen mögen. „Ich gehe nicht durchs Leben und sage: Mir wird schon nichts passieren“, berichtet er in einem Interview mit dem Münchner Merkur. „Ich lebe mit Ängsten. Die Angst vor Terror gehört dazu.“
Wobei Lahm auch sagt, dass man sich von Terroristen „nicht das eigene Leben regieren lassen“ solle, „weil dann die Angst das Leben bestimmt – und das ist nicht gut“. Da mag er Recht haben, aber solche rationalen Überlegungen taugen längst nicht immer, um ein starkes Gefühl wie Angst wirklich zu überwinden. 90 Minuten intensiver Fußball funktionieren da vielleicht wirklich besser, zumindest bis zum Abpfiff.
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