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KI und menschliches DenkenIllusion der Lösungsfreude

Gastkommentar von

Jette Wiese

KI suggeriert uns, dass es auf komplexe Fragen einfache Antworten gibt. Doch ihre Funktionslogik klammert die übergeordneten Zusammenhänge aus.

In der Lösungsmanie der künstlichen Intelligenz steckt ganz schön viel Hybris Foto: Brendan McDermid/reuters

B eginnt jetzt ein neues Zeitalter? Wer in diesen Tagen auf das neue Jahr blickt, mag sich bei der Sorge ertappen, dass die Welt ziemlich kompliziert geworden ist. Komplizierter als früher zumindest, die Erinnerung vereinfacht ja vieles. Angesichts dieser Komplexität hat der Kolumnist Thomas L. Friedman vor Kurzem in der New York Times ein neues Zeitalter ausgerufen: das „Polycene“, wie er es nennt, oder Polizän auf Deutsch, „poli“ wie viel – viel auf einmal eben.

Er versteht darunter eine neue Epoche, in der binäre Kategorien in fast allen Lebensbereichen abgeschafft worden seien. Stattdessen sei unsere Welt von vielen verschiedenen, einander bedingenden Faktoren geprägt. Als Beispiele nennt er die Weltpolitik, die sich nicht mehr zwischen den beiden Polen USA und Russland – früher Sowjetunion – aufspannt, sondern mit China und Indien gleich mehrere neue Machtzentren kennt. Oder die Wirtschaft, die nicht mehr nach dem Prinzip von Käufer und Verkäufer funktioniere, sondern in der jedes einzelne Produkt eine Lieferkette mit zahlreichen Zwischenhändlern durchläuft.

Vor allem aber nennt Friedman die digitale Technologie, die es ermöglicht, viele hochkomplexe Rechnungen auf einmal anzustellen, quasi in alle Richtungen gleichzeitig zu denken. So wie die künstliche Intelligenz denkt, so müssten auch die Menschen denken lernen. Das ist sein zentrales Argument. Er liegt damit am Ende falsch, aber es lohnt sich, sich mit Friedmans Text zu beschäftigen, denn er wirft zwei grundlegende Fragen unserer Gegenwart auf. Die eine: Was passiert hier eigentlich, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft? Und die andere, vielleicht wichtigere Frage: Wie können wir überhaupt verstehen, was passiert?

Jette Wiese

Jette Wiese hat Politik-, Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Als freie Autorin schreibt sie vor allem im Kulturbereich.

Friedman führt das Polizän als einen Schlüsselbegriff ein, der uns die Gegenwart mit ihren Fragen erschließen soll. Dabei ist schon seine historische Herleitung etwas schief. Dass die Wirtschaft komplexer geworden ist, ist keine Entwicklung der vergangenen fünf Jahre. Bei jeder Kartenzahlung im Café ist ein Zwischenhändler beteiligt, und Kartenzahlungen gibt es seit den 1980er Jahren. Und die Kategorien, die er in der Gesellschaft abgelöst sieht, „entweder weiß oder Schwarz, Mann oder Frau, hetero- oder homosexuell“, sie waren auch in der Vergangenheit nie binär, das haben Jahrzehnte sozialwissenschaftlicher Forschung gezeigt. Warum sollte ausgerechnet jetzt ein neues Zeitalter beginnen? Und warum sollte uns das helfen, das Geschehen besser zu verstehen?

Ein Zeitalter, das die Gegenwart auf einen Begriff festlegt, ist an sich eine konservative Idee.

Ein Zeitalter, das die Gegenwart auf einen Begriff festlegt, ist an sich eine konservative Idee. Es ist der Versuch, einen Teilaspekt als Maßstab für das Ganze einzusetzen, die Dinge in einer Traditionslinie zu sehen. Dabei war auch das Zeitalter des Kalten Krieges nicht nur das des Ost-West-Konflikts, sondern auch des Rock ’n’ Roll, des Feminismus, des Fernsehens und des Umweltaktivismus. Jeder Zeitalterbegriff negiert seine Auswüchse und Nebenstränge. Mit dem „Poli“ im Polizän will Friedman diese Auswüchse zwar abbilden, aber es führt ihn zum gleichen Problem zurück: Die Wirklichkeit lässt sich nun mal nicht als ganze begreifen, auch nicht, wenn man den Begriffsschirm etwas weiter spannt.

Was bleibt, ist die Frage, wie umzugehen ist mit der komplizierten Welt, wenn man sie schon nicht fassen kann. Für Friedman ist das Polizän nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine Art Zukunftsphilosophie. Wir Menschen müssten uns an die Komplexität anpassen, anstatt sie vereinfachen zu wollen. Nur so sei die Bedrohung in eine zu bewältigende Aufgabe zu verwandeln.

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Aber was heißt das, sich an die Komplexität der Welt anzupassen? Auf Ratschlag seines selbsternannten Tutoren Craig Mundie hin, eines früheren Microsoft-Funktionärs, bedient sich Friedman der Funktionslogik von KI. Ähnlich wie moderne Computer müssten die Menschen in der Lage dazu sein, ein Problem auf mehreren Ebenen und aus mehreren Perspektiven gleichzeitig zu betrachten. Sie müssten Widersprüche abbilden können, aber eben auch die perfekte Lösung finden. Auf den Menschen bezogen hieße das, wie Friedman schreibt: „Die anpassungsfähigsten, widerstandsfähigsten und produktivsten Gemeinschaften im Polizän werden die sein, die durch alle Themengebiete hindurch dynamische Koalitionen bilden können.“

Natürlich ist es sinnvoll, den Blick zu öffnen und ein Problem differenzierter zu betrachten. Aber was Friedman hier vorschlägt, würde bedeuten, opportunistisch alles mit allem zu verrechnen, ohne die Zusammenhänge zu beachten. Dabei sind sie entscheidend, wenn wir die Wirklichkeit interpretieren. Kritisches Denken muss nicht immer eine Antwort im Stil von ChatGPT zum Ziel haben, im Gegenteil, man kommt schon ganz schön weit, wenn man sich an den kleinen Widersprüchen und Zusammenhängen entlanghangelt.

Um das einmal am Beispiel der russischen Invasion in die Ukraine durchzugehen: Der Krieg sollte so schnell wie möglich durch ein starkes Abkommen beendet werden. Utilitaristisch, also nützlichkeitsmäßig betrachtet mag der sogenannte Friedensplan der USA dafür eine Option sein. Doch dass Trump den Krieg darin als einen Konflikt zweier gleich schuldiger Länder strategisch fehldeutet, um sich als Friedensstifter und Dealmaker zu inszenieren, das zeigt sich erst, wenn man das Offensichtliche hinterfragt und die Zusammenhänge genauer untersucht.

Solche Zusammenhänge gehen unter, wenn wir uns zum Maßstab für menschliches Handeln eine lösungsfreudige KI nehmen, deren Quellcodes, ihre eigenen inneren Zusammenhänge wir in den meisten Fällen nicht einmal kennen. Vor allem aber führt es zu einer gewissen Hybris, die komplizierte, angsteinflößende, widersprüchliche Wirklichkeit am Ende doch auf einen Begriff, zumindest aber auf eine Rechenlösung bringen zu wollen. Anzuerkennen, dass das unmöglich ist, ist nicht nur aus Misstrauen gegenüber einfachen Lösungen angebracht. Sondern auch, weil es helfen kann, die Unsicherheit umzuwandeln in eine grundsätzliche Offenheit gegenüber dem, was kommt.

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