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Im HühnerglückEin zweites Leben für Rupfi

Weil sie nicht mehr genug Eier legen, landen Legehennen meist beim Schlachter. Ein Verein hat etwas dagegen und findet ein Zuhause für die Tiere.

Im neuen zu Hause muss sich Rupfi erst Mal erholen Foto: Annette Jensen

Aus Rethen

Annette Jensen

Sonntag, 4.30 Uhr bei Braunschweig. Über den mistbedeckten Boden im stockfinsteren Stall von Bauer Udo Kathenhusen stapfen sechs Personen. Sie tragen blaue Overalls, Masken und rote Stirnlampen. Auf den Stangen, die den schmalen Raum der Länge nach durchziehen, sitzen 850 Hennen – darunter auch eine mit wenig Federn. Später wird sie den Namen „Rupfi“ erhalten.

Noch im Dunkeln beginnt einer der Aktivisten, die wehrlosen Tiere von der Stange zu pflücken. Rasch und behutsam legt er sie in die Arme der Leute mit den Schutzanzügen, die – wenn manche der Hennen gackern und flattern – ihnen beruhigend Worte zu raunen und über die Federn streichen.

Knapp 15 Monate ist Rupfis Herde alt, die bis zu diesem Morgen in Rethen gelebt hat. Es sind Hybridtiere, Name: Lohmann Brown Classic. Industrieware. Gezüchtet, um für kurze Zeit Hochleistungen zu erbringen. Sechs Eier pro Woche haben sie gelegt. Nun ist ihre produktivste Phase vorbei und normalerweise stünde die Reise zum Schlachter an, ein Schicksal von Millionen Legehennen jedes Jahr in Deutschland. Doch der Bauer hat einen anderen Plan für seine Tiere. Statt dass ihre Körper als billiges Suppenfleisch, Brühwürfel oder in einer Biogasanlage enden, sollen sie ein neues zu Hause finden.

Ein Verein zum Hühner retten

Dafür arbeitet Kathenhusen mit dem Verein Rettet das Huhn zusammen. Seit zwölf Jahren führen diese die Ausstallungen in seinem Betrieb durch. Deutschlandweit hat der 2007 gegründete Verein etwa 60 Mitglieder und vermittelt jährlich über 12.000 Tiere. Die Adoptierenden werden vorher geprüft und verpflichten sich schriftlich, die Hennen bis zu ihrem natürlichen Tod artgerecht zu halten. Das lohnt sich nicht nur fürs Tierwohl. Mit wöchentlich drei bis fünf Eiern können sie durchaus rechnen – für die Eierindustrie ist eine solche Quote aber viel zu niedrig.

Draußen im hellen Scheinwerferlicht wartet ein Halbkreis aus mehreren Dreierteams. Zwei begutachten Augen und Klauen der Tiere, tasten den Unterleib ab und inspizieren die Kloake. Erscheint ihnen ein Tier gesund, öffnet die dritte Person den weißen Gitterkasten, in den sie zuvor eine Schippe mit Futter gestreut hat und klickt auf ihr Handzählgerät. Sobald zehn Tiere beisammen sind, ruft sie: „Box voll!“ Dann eilen zwei Männer herbei und schleppen die Kiste zu einem der sieben bereitstehenden Transporter.

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40 Hel­fe­r:in­nen sind an diesem Morgen in Rethen. Dass alle schon im Vorfeld ihre Aufgaben kennen, dafür hat Stefanie Laab gesorgt. Sie leitet den Verein und findet für die Tiere ein neues Zuhause. „Die Hühner gelten als Abfall, und wir können sie nach der Nutzung retten, ohne damit die Tierindustrie zu unterstützen“, sagt sie.

Den globalen Markt für Legehennen beherrschen heute Zuchtkonzerne wie die Erich Wesjohann Gruppe. Durch ihre Zuchtweise können die Hybridtiere nur in einer Generation Hochleistungen erbringen, kein Bauer kann sie selbst vermehren. Auch in den meisten Biobetrieben kommen solche Hennen zum Einsatz.

Was Stefanie Laab noch antreibt? „Es ist berührend zu sehen, wie die Hühner das Leben kennenlernen. Und es ist befreiend und stärkend, dass man selbst etwas tun kann.“

Manche brauchen extra Pflege

Längst nicht allen Hühnern aus Kathenhusens Stall geht es gut. Mal steht der Hals schief, mal ist der Bauch steinhart oder ein Auge suppt. Dann erschallt der Ruf „Pflegi“ über den Hof und jemand bringt die braungefiederte Patientin in die Scheune. Dort hat Julia Helmers einen Tisch aufgebaut, auf dem Verbandsmaterial, Salben und aufgezogene Spritzen bereitliegen.

Bevor kranke Hühner adoptiert werden, begutachtet sie Julia Helmers

„Was ist denn mit dir los“, spricht sie das Huhn an, das fast regungslos vor ihr hockt. Immer wieder knickt das Bein des Tiers ein. Helmers engagiert sich seit zehn Jahren bei Rettet das Huhn. Die 45-Jährige kann Knochenbrüche erspüren, erkennt Kurzatmigkeit und Ballenkrankheiten. Auch weiß sie, dass bestimmte Augenentzündungen für Geflügel extrem schmerzhaft sind und eine Schichtei-Diagnose – eine Entzündung des Legedarms – ohne eine Operation tödlich endet.

Die nächste Patientin kommt ins „Wartezimmer“ der Scheune. Es ist die Henne, die später Rupfi heißen wird. Am Hals und Rücken ist sie fast kahl, am Flügel stechen die abgebrochenen Federkiele aus ihrer Haut. Offenbar ist sie in den vergangenen Wochen vielfach von ihren Artgenossinnen gepiesackt worden, diagnostiziert Helmers wenig später. Doch sonst scheint ihr nichts zu fehlen. So wird sie vorgemerkt für eine neue, besonders engagierte Abnehmerin. Tiere mit größeren Problemen brauchen dagegen die Pflege von erfahrenen Halter:innen.

Es ist berührend zu sehen, wie die Hühner das Leben kennenlernen

Stefanie Laab, Vereinsleiterin

Zwei Tiere müssen noch am selben Tag zum Tierarzt, hat Julia Helmers entschieden. Ein Anruf genügt, um das zu organisieren. Auch die Pflegefälle sind nach kurzer Absprache untergebracht; für manche steht in den nächsten Tagen eine Operation an. Rupfi hat eine Einzelbox bekommen und wird nach Berlin reisen. Derweil schaltet Bauer Udo Kathenhusen das Licht im Stall an, um für die nächste Herde sauberzumachen. Die Luft ist staubig, der Mistgeruch intensiv, aber Kathenhusen hat gute Laune. „Dass nach zwei Stunden alle Hühner draußen sind, ist für mich das Wichtigste“, sagt der 56-Jährige.

Mehr als nur Nutztiere

Für ihn lohnt sich die Zusammenarbeit mit dem Verein. Zwar bekommt er nun kein Geld vom Schlachter für die Tiere, doch der Abtransport durch einen Dienstleister würde den mickrigen Erlös sowieso kaum aufwiegen. „In manchen Fällen musste ich sogar noch Geld draufzahlen“, berichtet der Mann mit dem Basecap. Und dann hätten die Transportarbeiter die Hühner auch einfach an Beinen und Flügeln gepackt und in Kartons geworfen. „Das war auch für mich ein Scheißgefühl.“

Durch die Zusammenarbeit mit der Initiative sei er selbst gewachsen, sagt Kathenhusen. Wie sie mit Tieren umginge und dass sie sogar Geld für OPs ausgebe – das sei für Bauern, die Hennen als reine Nutztiere sehen, natürlich eine verrückte Perspektive, die bei seinem Berufsstand auf wenig Verständnis stoße. Doch er selbst freut sich, dass seine Hühner nun ein zweites Leben als Haustier genießen können.

wochentaz

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Als es dämmert, ist die konzentrierte Geschäftigkeit Heiterkeit oder fröstelnder Müdigkeit gewichen. Viele hatten eine weite Anreise und haben die Nacht durchgemacht, um pünktlich um vier Uhr morgens anzukommen und Lampen aufzuhängen, Boxen bereitzustellen und die Schilder an die Türen der Transporter zu hängen, wie viele Tiere hier später eingeladen werden sollen. Aber noch sind die Tiere nicht bei ihren neuen Be­sit­ze­r:in­nen, die in ganz Deutschland leben.

Benjamin Pfab hat die Tour nach Berlin übernommen. Er selbst hat sich zum ersten Mal Hühner während Corona angeschafft. Sie haben sein Leben verändert. Durch die Beschäftigung mit Massentierhaltung ist er zum Veganer geworden; eine Ausnahme macht er nur, wenn seine Hühner ihm Eier schenken. Die Lohmann Brown Classics leben durchschnittlich noch zwei Jahre, schätzt er – deutlich kürzer als alte Haustierrassen. Vier Hennen will Pfab nachher mit nach Hause nehmen, sie sollen seinem ängstlichsten Huhn zu Hause gute Gesellschaft leisten.

Pfab hält auf einem Parkplatz in der Nähe der Berliner Autobahn. Mit Körbchen, Kästen und Kisten warten dort schon die Abnehmer:innen, unter ihnen auch Katja Marx. Aufgeregt nimmt sie ihre drei Hennen in Empfang. Sie selbst als Krankenschwester sei doch prädestiniert für diese Hühner, hat die beim Verein engagierte Freundin bei der Übergabe gesagt. Zwei Hühner tragen grüne Fußverbände, das dritte ist die von ihren Artgenossinnen schwer zugerichtete Henne. Noch im Auto gibt Marx ihr dann eben den Namen Rupfi.

In ihrem Garten hat Marx ein Holzhäuschen im skandinavischen Stil gebaut und einen gut gesicherten Auslauf. Zunächst bringt sie die bei den fußkranken Hennen in ihr neues Zuhause, dann Rupfi. Voller Sorge beobachtet die 46-Jährige, ob die anderen sie angreifen. Rupfi schaut sich neugierig um, hüpft dann aus ihrer Kiste und beginnt das neue Zuhause zu inspizieren – genau wie ihre zwei alten Stallgefährtinnen. Als Marx ihnen getrocknete Mehlwürmer hinhält, ist Rupfi die Schnellste.

Drei Monate später ist ihr Federkleid nachgewachsen. Die Henne war zwischendurch noch beim Tierarzt, musste gefüttert werden und hat viel Zeit unter einer Wärmelampe verbracht. Aber jetzt geht es Rupfi gut. Sie sei zahmer als die anderen, beobachtet Marx, die gerne bei den Tieren sitzt. „Sie erden mich.“

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