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Gedenk-Bloggerin über NS-Täterschaft„Leute ab 35 fühlen sich beim Thema Wehrmacht angegriffen“

Susanne Siegert spricht auf Insta und Tiktok über NS-Geschichte. Sie fordert, zur eigenen Familie und Tatorten in der Nachbarschaft zu recherchieren.

Nach der Befreiung: US-Militärangehörige vor Erdhütten im KZ-Außenlager Mühldorfer Hart am Inn, in denen 2.000 Häftlinge darbten Foto: US Army

Interview von

Petra Schellen

taz: Frau Siegert, warum glauben 68 Prozent der Deutschen von 17 bis 90, dass ihre Vorfahren keine NS-Täter waren?

Susanne Siegert: Weil es nicht sehr angenehm ist, darüber zu sprechen, dass der eigene Opa oder Uropa vielleicht an Kriegsverbrechen beteiligt war. Das war schon direkt nach dem Krieg schwierig und wurde nie richtig aufgearbeitet. Man hat eher mit den ehemals Verfolgten getrauert, als die eigene Familiengeschichte zu hinterfragen. Da ist viel versäumt worden, und es ist kein Wunder, dass sich die NS-Zeit für 16-Jährige wie eine altertümliche Geschichte anfühlt.

taz: Ohne jeden persönlichen Bezug.

Siegert: Ja. Auch für mich war es neu, zu merken: Ich weiß viel über Anne Frank und andere verfolgte Jüdinnen und Juden, habe lange zu Tatorten in meiner Heimat recherchiert, aber erst relativ spät den Blick in die eigene Familiengeschichte gewagt.

taz: Auch die heimatnahen Tatorte fanden Sie spät.

Bild: Ina Lebedjew
Im Interview: Susanne Siegert

Jg. 1992, schreibt als Journalistin und Gedenk-Bloggerin auf Instagram und TikTok über den Holocaust. 2024 bekamt sie den Grimme Online Award, 2025 den Margot Friedländer Preis.

Siegert: Ja. Ich habe mich immer für das Thema interessiert, aber erst mit 30 angefangen, zum ehemaligen Lager Mühldorfer Hart in meiner Nachbarschaft zu recherchieren, einem Außenlager des KZ Dachau. Im Schulunterricht hatte das keine Rolle gespielt, und als ich erstmals dorthin kam, dachte ich: „Erwischt!“ Ich war schon in den KZ-Gedenkstätten Auschwitz, Mauthausen, Dachau. Aber diesem Ort, 20 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, hatte ich nie Beachtung geschenkt.

taz: Wie empfanden Sie den Ort?

Siegert: Dort war nichts so, wie ich mir ein ehemaliges KZ vorgestellt hatte. Die klassischen Icons – das Eingangstor mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“, Stacheldrahtzaun, Krematorien – all das fehlte. Das einstige Lager Mühldorfer Hart liegt in einem Naherholungsgebiet im Wald, und man sieht bloß ein paar Mulden im Boden, wo mal Stacheldrahtzaun-Pfosten standen, Teile von Latrinen-Fundamenten. An einem so abstrakten Ort fällt es schwer, an Massenvernichtung zu denken.

taz: Wie wird auf die Geschichte des Ortes hingewiesen?

Die Lesung

Susanne Siegert liest aus ihrem Buch „Gedenken neu denken“ (240 S., 18 Euuo, E-Book 17,99 Euro. Piper Verlag 2025):

18.11., 18.30 Uhr, Hannover, DGB Niedersachsen

21.11., 18.30 Uhr, Museumsquartier Osnabrück

26.11., 19 Uhr, TU Braunschweig

Siegert: Es gibt wenig Einordnung. Die Beschriftungen fokussieren technische Details – etwa, wie viele Tonnen Stahl verbaut wurden. Aber diese Mulden im Boden, die etwas markieren, muss man sich selbst erarbeiten oder durch eine der Führungen des Vereins, der den Ort betreibt.

taz: Wie haben Sie sich den Ort erschlossen?

Siegert: Ich habe angefangen zu recherchieren, habe Online-Archive entdeckt und gemerkt, wie viele Dokumente, Prozessakten, Interviews mit Überlebenden man schon durch die Eingabe von „Mühldorf“ findet. Dann habe ich angefangen, bei Instagram und Tiktok darüber zu sprechen.

taz: Finden Sie, dass die Außenlager im Schulunterricht vernachlässigt werden?

Siegert: Es werden sehr stark die großen, oft fernen Orte fokussiert. Dabei hätte es auf mich als 15-, 16-Jährige schon Eindruck gemacht, wenn mein Heimatort auf einem Dokument in einem Atemzug mit Auschwitz genannt worden wäre, von wo Häftlingstransporte nach Mühldorf gingen.

Menschen ab 35, die ich bei Instagram erreiche, fühlen sich beim Thema Wehrmacht eher angegriffen, weil sie vielleicht noch Geschichten von ihren Großeltern gehört haben.

taz: Wie reagiert die Instagram- und Tiktok-Community auf Ihre Videos?

Siegert: Menschen bei Tiktok, wo ich eine jüngere Zielgruppe anspreche, haben weniger Berührungsängste, weil sie zum eigenen Uropa keine emotionale Verbindung haben. Während sich Menschen ab 35, oft auch 60 plus, die ich bei Instagram erreiche, beim Thema Wehrmacht eher angegriffen fühlen, weil sie vielleicht noch Geschichten von ihren Großeltern gehört haben.

taz: Haben Sie schon Menschen zur Recherche animiert?

Siegert. Ja. Das ist das schönste Feedback, wenn Leute sagen, dass sie anfangen, zu ihrer Familie zu forschen. Wenn es nicht beim „Like“ zum Instagram-Post bleibt, sondern weitergeht.

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