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Arbeitet nicht rund um die Uhr: Rebecca Gerstmeier im Stall ihres Milchbauernhofs am Rande der Schwäbischen Alb Foto: Alessandra Röder

Zukunft für die LandwirtschaftKI im Kuhstall

Mit künstlicher Intelligenz schafft es Rebecca Gerstmeier, ihren Bauernhof fast im Alleingang zu betreiben – und noch Zeit für ihre Kinder zu haben.

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Alessandra Röder aus Unterschneidheim

D ie Nachricht platzt in die Hausaufgabenzeit. Rebecca Gerstmeier sitzt in ihrer Wohnküche, vertieft in ein Blatt mit Kinderschrift, und krault ihrer neunjährigen Tochter den Rücken. Gemeinsam schauen sie an, was gerade in Deutsch ansteht. Es ist Nachmittag in Unterschneidheim am östlichen Rand der Schwäbischen Alb. Vor dem Fenster leuchten Wiesen und Hügel in der Sonne. Da erscheint auf Gerstmeiers Handy eine Nachricht, die so gar nicht zu diesem Augenblick zu passen scheint: „Besamung Aperol“.

Aperol, das ist eine von 75 Milchkühen auf dem Hof von Landwirtin Gerstmeier. Sie alle haben einen Sensor im Magen, der misst, wie viel sie sich bewegen, wie warm sie sind und wie oft sie wiederkäuen. Wenn die Tiere durch den Stall toben und ihre Körpertemperatur steigt, erkennt der Sensor, dass sie brünstig sind. Die Ergebnisse sieht Gerstmeier auf einer App mit bunten Linien wie Aktienkurven. Eine KI sagt ihr dann, wann sie die Kühe besamen muss. Damit Kälbchen kommen und die Kühe ein weiteres Jahr Milch geben.

Dass Gerstmeier mit ihrer Tochter Hausaufgaben machen kann, statt ihre Tiere ständig zu beobachten, verdankt sie diesem Sensor. Und den Robotern, die in ihrem Stall putzen, füttern und melken. Die Technik auf ihrem Hof schenkt ihr etwas, das sie sich jahrelang wünschte: mehr Zeit.

Gerstmeier, 43, zieht drei Kinder im Schulalter groß. Und sie leitet einen Milchviehbetrieb, der seit mehr als vier Generationen ihrer Familie gehört. Ihr Mann arbeitet Vollzeit als Informatiker und unterstützt sie, wo er kann.

In einer Studie wurden Landwirtinnen befragt, warum sie eine Hofleitung ausschlugen. Eine häufige Antwort: weil sie Kinder wollten. Sie hatten das Gefühl, sich zwischen Hof und Familie entscheiden zu müssen

Als Chefin auf dem Hof ist Gerstmeier eine Ausnahme. Nur 11 Prozent der Bauernhöfe hierzulande werden von Frauen geführt, in der EU sind es im Durchschnitt 28 Prozent. Noch immer vererben deutsche Landwirte ihren Besitz öfter an die Söhne. Das ändert sich nur langsam. In einer Studie wurden Landwirtinnen befragt, warum sie eine Hofleitung ausschlugen. Eine häufige Antwort: weil sie Kinder wollten. Sie hatten das Gefühl, sich zwischen Hof und Familie entscheiden zu müssen.

Können die neuen Technologien in der Landwirtschaft helfen, das zu ändern? Künstliche Intelligenz und Robotik verändern die Branche radikal. Aber bringen sie auch einen feministischen Umbruch? Für Gerstmeier jedenfalls waren sie die Rettung.

An einem Montagmorgen um 7.30 Uhr hastet Gerstmeier über ihren Hof. Sie ist spät dran. Beim Frühstück hat sie sich mit ihrer Familie verquatscht. Sie erzählt lieber zu viel als zu wenig und wundert sich dann beim Blick auf ihre Armbanduhr, wie schnell die Zeit vergeht. Im Laufschritt geht es von dem Milchtank zu den Kälbchen, vom Traktor zur Silage, vom Futtermischer zum Kuhstall. In Gummistiefeln und Arbeitshose, die langen braunen Haare hochgebunden, ruft sie die Kälbchen „Mausi“ oder „Schatzilein“, die Kühe begrüßt sie mit „Guten Morgen, ihr Hübschen“.

„Robbie“ der Melkroboter im Einsatz Foto: Alessandra Röder

Gerstmeier wuchs auf dem Familienhof auf. Eine Barfußkindheit in der Natur, aber auch mit viel Arbeit. Während ihre Freundinnen in den Sommerferien an den Badesee fuhren, musste sie Heu zusammenrechen. Damals dachte sie: Auf keinen Fall werde ich Landwirtin.

Intelligente Zuarbeit

Künstliche Intelligenz liefert in der Landwirtschaft so viele Daten wie nie zuvor. Auf Basis von Satellitenbildern analysiert eine KI sogar die Bodenqualität und den Zustand der Pflanzen, damit Land­wir­t:in­nen Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel möglichst präzise kalkulieren können. In den Ställen tracken intelligente Sensoren rund um die Uhr Aktivität, Körpertemperatur oder Fressverhalten der Tiere.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fördert 35 Projekte zu künstlicher Intelligenz. Die Kosten dafür belaufen sich auf 41 Millionen Euro, Ziel ist eine „nachhaltigere Entscheidungsfindung“. Ressourcen wie Wasser und Dünger lassen sich einsparen, wenn intelligente Systeme den Bedarf berechnen und Kulturpflanzen von Unkraut unterscheiden können.

Seit den 1990er Jahren nutzen Land­wir­t:in­nen unter anderen GPS-Daten, um Traktoren zu lenken. Auch die ersten Melkroboter kommen damals schon zum Einsatz. Diese frühe Automatisierung arbeitet allerdings nur mit fest programmierten Daten, während die neuen Systeme selbstständig lernen, Muster erkennen und Datensätze kombinieren. Künstliche Intelligenz in der Landwirtschaft hat sich erst in den vergangenen fünf Jahren verbreitet, sagt der Agrarwissenschaftler Hans W. Griepentrog von der Uni Hohenheim in Stutt­gart. „Wir stehen noch am Anfang einer Entwicklung, die viel Potenzial bereithält.“

Aktuell nutzen neun Prozent der Höfe hierzulande künstliche Intelligenz, 38 Prozent diskutieren den Einsatz, wie eine Umfrage der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft und dem Branchenverband Bitkom zeigt.

Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, doch die Arbeit im Büro lag ihr nicht. Sie studierte dann Landwirtschaft, weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte – und verliebte sich neu in den Beruf. Eigentlich wollte sie weit weg, vielleicht nach Kanada, wo sie während eines Praktikums auf einer Farm arbeitete. Für ihre Jugendliebe Andreas kehrte sie zurück, sie heiratete und stieg 2007 in den Familienbetrieb ein, den damals noch ihre Eltern führten.

Der Hof war der Lebensinhalt ihrer Eltern, kein einziges Mal Urlaub in 30 Jahren, auch mit Erkältung ging es in den Stall. Bis sie so krank wurden, dass an Arbeit kaum zu denken war. Der Vater sackte eines Morgens auf den Futtersäcken zusammen. Herzinfarkt. Danach zog er sich von der Arbeit auf dem Hof zurück, Gerstmeier und ihre Mutter machten allein weiter. Sie beschlossen, sich auf Milchwirtschaft zu konzentrieren. Und sie kauften ihren ersten Roboter, eine Art überdimensionierter Staubsaugerroboter, der selbständig durch den Kuhstall fährt und den Dung zwischen die Spalten schiebt.

Als sie mit ihrem dritten Kind schwanger war, erzählte die Mutter ihr, wie sie von der immer gleichen Bewegung beim Melken ständig Schmerzen in der Schulter hatte. Stundenlang stand sie einer Grube unterhalb des Euters, verpasste Schulaufführungen und die Arzttermine ihrer Kinder. „Der Melkstand ist eine Fessel“, sagt die Mutter noch heute. Ihre Tochter sollte es besser haben. 2016 kauften sie einen Melkroboter.

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Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Kurz darauf, mitten in der Coronapandemie, verlor die Mutter die Kraft in ihren Beinen. Gerstmeier fand sie im Stall an ein Gitter geklammert. Der Notarzt brachte sie ins Krankenhaus, die Diagnose: Rückenmarksinfarkt. Seitdem ist ihre Mutter halbseitig gelähmt. Und Gerstmeier wusste: Jetzt bin ich allein.

Mit jedem dieser Ereignisse, die ihr Leben ins Wanken brachten und neu ordneten, holte sich Gerstmeier mehr Technik auf den Hof. Mit ihren neuen Mitarbeitern aus Elektronik und Metall konnte sie weitermachen, als das traditionelle Familienmodell zerbrach.

Auf den Treffen mit anderen Landwirten merkt sie manchmal, wie die Gespräche verstummen, wenn sie dazukommt. Man hält sie für die Frau oder Tochter eines männlichen Betriebsleiters. Sie stellt dann so lange gute Fragen, bis alle merken, dass sie Ahnung von Hofleitung und Technik hat.

In der kühlen Morgenluft liegt der schwere Geruch von Heu und Mist, über dem Urinstrahl einer Kuh steigt Dampf auf. Ein Rattern dröhnt durch den Stall. Es kommt aus einer Box, vor der drei Kühe warten. Der Melkroboter arbeitet rund um die Uhr, wann immer die Kühe ihre Euter erleichtern wollen. Eines der Tiere trottet hinein. Schon fährt ein mechanischer Arm mit vier Zylindern unter den Euter. Ein Laser misst den Abstand zwischen den Zitzen, dann docken die Zylinder an und saugen die Milch heraus.

Gerstmeier nennt den Melkroboter „Robbie“. Manchmal ruft er sie an, etwa wenn sich eine Kuh zu viel bewegt. Dann muss sie in den Stall laufen und die Zitze mit der Hand andocken. Morgens, noch im Bett, öffnet sie die Melkroboter-App und kontrolliert, ob alles läuft. Für „Robbie“ hat sie einen Kredit von 200.000 Euro aufgenommen, der sich binnen 15 Jahren rechnen soll.

Die hohen Investitionskosten lassen viele Höfe zögern. In einer Befragung von 2024 gaben 75 Prozent der Landwirte an, dass die Kosten die Digitalisierung am stärksten hemmen. Gerade für kleine Betriebe bedeuten sie ein Risiko.

Gerstmeier ist trotzdem überzeugt. „Der Melkroboter wird niemals krank, braucht keinen Urlaub und arbeitet auch am Wochenende“, sagt sie. Und sogar mehr Milch würden die Kühe geben, weil sie gemolken werden, wenn sie wollen.

Schiebt den Dreck weg: Putzroboter im Kuhstall Foto: Alessandra Röder

Für ihren Vater war der Wandel des Hofes schwer zu ertragen. Stundenlang stritten sie sich am Küchentisch. „Er hat sich gefühlt, als hätte er alles falsch gemacht“, sagt Gerstmeier. Irgendwann habe sie aufgehört zu diskutieren. Sie habe es einfach gemacht.

Gerstmeier verpachtete 62 Hektar des Ackerlandes, um sich auf die Kühe zu konzentrieren. Und sie kaufte eine automatische Fütterungsanlage, einen weiteren Roboter, der gelenkt durch Magnetfelder im Stall Gras und Heu zu den Kühen schiebt, Kraftfutter und Mineralien hineinsprenkelt.

Ein Mal am Tag klettert Gerstmeier auf ihren Traktor. Sie steuert ihn zur Grassilage, schneidet einen Block ab und lädt ihn beim Silo ab. Meterhohe Walzen fräsen im Silo das Gras, ein Förderband fährt das Futter zu einem Mischwagen, von dort greift es sich der Roboter. Ohne den Futterroboter müsste Gerstmeier zwei Mal am Tag die Rinder füttern und alle paar Stunden das Futter zu ihnen schieben. Vor Weihnachten packt sie das Silo so voll, dass sie den Tag nur mit ihrer Familie verbringen kann.

Um 5 Uhr morgens, wenn ihre Familie noch schläft, liest Gerstmeier Fachartikel über technische Neuheiten in der Landwirtschaft. Sie will nichts verpassen. Sobald die Kinder aus dem Haus sind, beginnt sie, so schnell sie kann, alles auf dem Hof abzuarbeiten. Bis 13.30 Uhr muss sie Kälbchen füttern, Futter mischen, Traktor fahren, Tiere verarzten und immer wieder auch die Maschinen überwachen. Damit sie mit den Kindern Mittag essen kann, fragen kann, wie es in der Schule war. Und mit ihrem Mann einen Kaffee trinken. Wenn eines der Kinder krank ist, verschiebt sie die Arbeit nach hinten, um sich zu kümmern.

Dafür bleibt Zeit: Gerstmeier und ihre Tochter Amelie mit den Hausaufgaben Foto: Alessandra Röder

Ihr Mann unterstützt sie außerhalb seiner Arbeitszeiten. Etwa beim Stall ausmisten abends, wenn die Kinder im Bett sind. Er wuchs selbst auf einem Hof auf, wollte aber seinen Job als Informatiker nicht aufgeben. Er hätte sich nicht für ein Leben als Landwirt entschieden, sagt er. „Aber ich finde es cool, dass sie es macht, so kann sie sich verwirklichen und ich mich auch.“

Mit Hilfe der Roboter können auch mal Freunde aus der Nachbarschaft auf dem Hof einspringen. 2023 trampelte eine Kuh Gerstmeier nieder, die Hufe quetschten ihr das Herz und brachen drei Rippen. Sie fiel mehrere Monate aus. Ohne die Technik wären die finanziellen Einbußen kaum zu stemmen gewesen.

Die Familie konnte zum ersten Mal nach sieben Jahren in den Urlaub fahren

Aber auch schöne Erlebnisse werden möglich, weil Gerstmeier ihren Hof für eine Weile abgeben kann. Die Familie konnte zum ersten Mal nach sieben Jahren in den Urlaub fahren. Stolz zeigt Gerstmeier das Fotoalbum. Darin Bilder der Familie beim Wandern oder beim Planschen im Bodensee. Solche Erlebnisse sind ihr viel wert, auch die hohen Kredite. Und Gerstmeier hat mehr Zeit für die Arbeiten mit den Tieren, die ihr wichtig sind.

Am Dienstagmorgen, sechzehn Stunden nach der Nachricht auf ihr Handy, ist es so weit. Gerstmeiers rechter Arm steckt in einem Plastikhandschuh, der ihr bis zur Schulter reicht. In der linken Hand hält sie eine Pipette mit Bullensperma.

Die Pipette hat sie mit Gleitgel eingeschmiert, damit Aperol weniger spürt. „Ich kann mir vorstellen, dass das unangenehm ist“, sagt sie und streichelt die Kuh. Dann geht es los.

Mit langsamen Bewegungen räumt sie den Darm frei, durch die dünne Darmwand tastet sie nach Muttermund, Gebärmutter und den Eierstöcken. Nun fühlt sie, wo sie die Pipette in der Scheide hinführen muss. Dann drückt sie das Sperma ab.

Viereinhalb Wochen später kann Gerstmeier das Kälbchen im Bauch auf dem Ultraschallbild betrachten. In 40 Wochen soll es zur Welt kommen.

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4 Kommentare

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  • Tierschützer interessieren sich natürlich in erster Linie dafür ob die Kühe auf die Weide dürfen. 90 Prozent der Kühe in Deutschland dürfen dies nicht.

    Greenpeace: "Kühe gehören auf die Weide"

    www.greenpeace.de/...ehe-gehoeren-weide

    Leider durften die Kühe (siehe Bild oben) auch nicht ihre Hörner behalten. Warum sind Hörner für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Tiere so wichtig?

    www.demeter.de/kuehe-haben-hoerner

  • Das passiert, wenn man Landwirtschaft studiert.

    Den letzten hier, der die Ausbildung zum Landwirt machen wollte, habe ich gefragt, was er davon hält, dass die Milchquote abgeschafft werden sollte... er hatte keine Antwort.

  • Melkroboter, Brunfterkennung, Futter/Gülleschieber, Mischwagen für Futter gibt es schon seit Jahrzehnten und werden auch schon so lange auf sehr vielen Höfen genutzt. Das man das jetzt alles als Neuigkeiten bestaunt zeigt nur wie weit die taz von der realen Landwirtschaft entfernt ist.

  • Was man früher Automatisierung und Sensorik nannte, nennt man heute KI. Weil es sich moderner anhört, weil man den Börsenwert damit ankurbeln kann.



    Im konkreten Fall hier würde ich sagen: Gute Automatisierung, eine KI ist trotzdem was anderes.