: Wer nicht schweigt, schreit
Weltweit werden die Stimmen lauter, die Israel einen Völkermord im Gazastreifen vorwerfen. Im Land selbst spotten oder schweigen die meisten darüber. Aber einige versuchen, das zu ändern
Aus Tel Aviv Felix Wellisch
Eine Mall im Zentrum Tel Avivs Mitte September: Im Erdgeschoss suchen die Gäste einer Weinprobe die perfekte Flasche für die Feier zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana. Zwei Stockwerke über ihnen suchen Menschen an diesem Abend die Antwort auf die Frage: Wie stoppt man einen Völkermord? Unten dröhnt aus Lautsprechern Madonna, oben prüft am Eingang ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation B’Tselem die Einladungen der rund 200 Teilnehmer.
Die Besucher haben den Veranstaltungsort erst Stunden zuvor erfahren, eine Vorsichtsmaßnahme. Rechte Aktivisten haben in der Vergangenheit Veranstaltungen gestört. B’Tselem ist eine der international anerkanntesten israelischen Menschenrechtsorganisationen. Im eigenen Land ist sie verhasst, nicht erst seit sie Ende Juli in einem Bericht Israels Vorgehen in Gaza als Genozid bezeichnet hat.
„Wie widersteht man einem Völkermord?“, ist in großen Lettern über der Bühne projiziert, auf der B’Tselem-Direktorin Yuli Novak den Abend eröffnet. Auf der Bühne sitzen Vertreter von Israels radikaler Linker.
„Wir haben diese Veranstaltung nicht so genannt, weil wir darauf eine Antwort hätten, sondern weil es die Frage ist, die wir stellen müssen“, sagt die 43-Jährige. Es sei einfach, die Regierung oder radikale Siedler zu kritisieren. Aber das verdecke die Tatsache, dass es das israelische Volk sei, das den Völkermord in Gaza begehe: „Es sind unsere Freunde und Familienmitglieder, die zur Armee gehen, unsere Medien, die das Vorgehen rechtfertigen.“
Eine Autostunde südlich rückt die israelische Armee nach Gaza-Stadt vor. Laut dem Al-Awda-Krankenhaus sind gerade 28 Menschen durch israelische Angriffe gestorben. In Tel Aviv füllen sich zum Beginn des Wochenendes die Bars und Restaurants.
Seit bald zwei Jahren gibt es fast täglich neue Videos von durch Bomben zerfetzten Kindern aus Gaza, doch bei vielen Israelis dringt das kaum durch. Die meisten sehen ausschließlich Nachrichten auf Hebräisch. Dort werden kaum Berichte über das Leid in Gaza gezeigt, und wenn, dann wird angezweifelt und gerechtfertigt.
Ende Juli kam B’Tselem als erste große israelische NGO im Bericht „Unser Genozid“ zu dem Schluss: Die Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 mit mehr als 1.100 Toten und 250 Verschleppten ist zu einem Völkermord geworden. Israel unternehme „koordinierte, vorsätzliche Schritte zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen“. Ende 2023 hatte Südafrika mit ähnlichen Vorwürfen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht. Auch zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und andere Regierungschefs sprechen mittlerweile vom Völkermord.
Ein Interview nach dem anderen hätten sie in den Wochen nach der Veröffentlichung des Berichts gegeben, sagt Novak: CNN, France24, der Süddeutschen Zeitung. In Israel hätten hebräische Medien kaum darüber berichtet.
Fünf Vergehen listet die UN-Völkermordkonvention auf, vier von ihnen hat Israel den meisten Berichten zufolge begangen: Binnen zwei Jahren starben bei Angriffen der Armee laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza mindestens 66.000 Menschen, zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder. Mehr als 168.000 wurden verwundet. Lebenswichtige Infrastruktur wurden systematisch zerstört. Der jüngste UN-Bericht wertet die Zerstörung einer Fruchtbarkeitsklinik als geeignet, Geburten zu verhindern. Israel weist alle Vorwürfe mit dem Argument zurück, schuld sei die Hamas.
„Der 7. Oktober, palästinensische Gewalt gegen Zivilisten, die Drohungen der Hamas – all das ist real“, sagt B’Tselem-Direktorin Yuli Novak. Doch Israels Führung habe daraus eine Universalrechtfertigung für ihr genozidales Vorgehen gemacht.
Bei der Veranstaltung kommen einige Besucher der Mall herein, manche mit Cocktails in der Hand, als sie sichtlich irritiert den Titel des Treffens lesen. Für einen Moment kollidieren die israelischen Realitäten. Doch die meisten kehren zurück ins Nachtleben.
Nach der Veranstaltung sagt Novak: „Für die meisten Israelis ist der Genozidvorwurf so weit weg von ihrer Realität, dass sie ihn kaum ernst nehmen.“ Sie selbst habe sich als Israeli und Enkelin von Holocaustüberlebenden oft gefragt, wie Menschen neben einem Massenmord weiterleben konnten. „Jetzt erlebe ich das in der Realität und bringe trotzdem morgens mein Kind in den Kindergarten.“
Auch der regierungskritische Medienjournalist Oren Persico sagt, er habe lange gebraucht, um von Genozid zu sprechen. „Aber spätestens seit Israel im März die Waffenruhe gebrochen und alle Hilfslieferungen nach Gaza beendet hat, war für mich klar, dass es ihnen nicht mehr darum geht, den Krieg zu beenden.“ Persico beobachtet seit Jahren für die israelische Investigativplattform The Seventh Eye die Presselandschaft.
Wer in hebräischsprachigen Medien die Armee kritisiere, erfahre oft heftige Reaktionen, sagt er. Stimmen, die von Genozid sprächen, tauchten gar nicht auf. Dabei bedienten prominente Journalisten regelmäßig genozidale Narrative, etwa dass es in Gaza „keine Unbeteiligten“ gebe. Das Resultat sei, dass „viele Israelis die zunehmende Isolation in der Welt nicht verstehen oder sie auf Antisemitismus schieben“, sagt Persico. „Den gibt es natürlich, aber die Regierung bläst ihn zusätzlich auf, weil diese Wagenburgmentalität Israel zum vermeintlich einzig sicheren Ort für seine Bürger macht.“
Dabei gäbe es durchaus prominente Stimmen für eine innerisraelische Debatte. Eine von ihnen ist Menachem Klein, emeritierter Professor der Bar-Ilan-Universität. Der 73-Jährige nannte Israel etwa im US-Radiosender NPR eine „genozidale Gesellschaft“, die schon vor dem 7. Oktober jahrelang normalisiert habe, dass Palästinenser in Gaza ohne Konsequenzen getötet werden könnten. „Jetzt sind wir blind für die Katastrophe, die wir dort anrichten“, sagte Klein jüngst dem in Israel verbotenen Sender Al Jazeera.
Dass seit zwei Jahren immer wieder Hunderttausende Israelis gegen den Krieg protestieren? Dass zwei Drittel der Israelis sich ein Abkommen wünschen? „Den meisten dort geht es um die Rückkehr der Geiseln, nicht um die Palästinenser“, sagt Klein im Gespräch in seiner Wohnung in Jerusalem. Auch bis weit ins Lager der linken Zionisten sei Kritik an Israels Militär heute tabu, selbst wenn die politische Führung die Angriffe auf Gaza seit Langem gegen den Rat der Sicherheitsbehörden weiterführe. Viele hätten Brüder, Schwestern und Kinder in der Armee.
Anecken ist für Klein nichts Neues: „Ich habe schon während der Terroranschlägen der Zweiten Intifada gefordert, den Palästinensern den Tempelberg zu geben.“ Er trägt eine Kippa mit Wassermelonenmuster, ein Symbol der Palästinasolidarität. Er habe sie sich gekauft, nachdem Polizisten auf Demos ihm erst eine Palästinaflagge und später eine echte Wassermelone abgenommen hätten. „An die Kippa hat sich noch niemand getraut.“
Yuli Novak, Direktorin der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem
Trotzdem sei auch ihm nach den Massakern der Hamas vor zwei Jahren Kritik schwergefallen. Erst als er davon las, dass Israel mittels eines KI-basierten Systems namens Lavender Zehntausende Palästinenser als mutmaßliche Hamas-Mitglieder und Ziele für Luftangriffe ausmacht, äußerte er sich. „Eine Massenmordmaschine“, sagt Menachem Klein dazu heute. Zusammen mit den Äußerungen von einfachen Soldaten über Kommandeure bis zu Regierungsmitgliedern, dass niemand in Gaza unschuldig sei, „ist das für mich Völkermord“.
Einige Tage nach der Veranstaltung in der Mall zur Frage, wie man den Völkermord stoppen kann, sitzt Yuli Novak in einem Café in Jaffa im Süden von Tel Aviv und formuliert ihre eigene Antwort: „Wir können es nicht aufhalten.“ Wenn sich eine Gesellschaft entschieden habe, eine andere auszulöschen, sei das kaum von innen zu stoppen.
Als Schülerin besuchte sie Auschwitz und später Ruanda. „Auch beim Völkermord dort wurde die Gesellschaft darauf eingeschworen, dass nur die Zerstörung der anderen die eigene Sicherheit garantieren kann.“ Schlimmste Verbrechen scheinen Selbstverteidigung zu sein. Als einer von Novaks palästinenischen Mitarbeitern aus dem Gazastreifen in einem Zoom-Meeting von der Vertreibung aus seinem Haus erzählte, der Suche nach Wasser und Essen für seine Kinder, dem Leben im Zelt – da habe sie zum ersten Mal an Genozid gedacht; dass das klinge wie ein Leben im Ghetto.
Sie habe viel Kritik bekommen, gerade liberale Israelis würden fragen: Warum von einem „Kampfbegriff“ wie Völkermord sprechen? „Weil Genozid nicht nur ein Kriegsverbrechen ist, sondern eines, das für immer mit uns verbunden sein wird“, sagt Novak, und jeden zum Handeln verpflichte.
Ende September, einen Abend vor dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, haben sich einige Hundert Menschen vor dem Nationaltheater in Tel Aviv versammelt. In einer langen Reihe hält jeder schweigend das ausgedruckte Foto eines Kinds. Unter den Bildern stehen Namen: Muamen, Razan, Alma und „War und ist nicht mehr“.

„20.000 Kinder wurden seit dem 7. Oktober von der Armee getötet, mehr als 1.000 von ihnen waren noch kein Jahr alt“, ruft Mitorganisatorin Shahar Shillo zu Beginn der Aktion. „An Sukkoth geht es um Vergebung“, sagt die 26-jährige Studentin. „Lasst uns daran erinnern, worum wir dieses Jahr wirklich um Vergebung bitten müssen.“
Eine Stunde lang stehen sie schweigend auf dem Theaterplatz. Passanten bleiben stehen, lesen, manche werden wütend. „Diese Kinder werden einmal Terroristen“, ruft einer vom Fahrrad, seinen Sohn im Kindersitz vor sich. „Nach Gaza sollte man euch bringen und verbrennen“, schreit ein anderer.
„Er kommt jede Woche, ich tippe auf PTBS“, sagt Adi Argov, postraumatisches Belastungssyndrom. Die 59-jährige Psychologin mit den grauen Locken hat die Aktion im März mit ins Leben gerufen. Auf ihrer Website sammelt sie seit Monaten Bilder getöteter Kinder, jeweils mit Namen, Alter, Todestag und Todesursache. Zu den Mahnwachen kommen Hunderte. Sie sollen helfen, Menschlichkeit zu bewahren, weil „Entschmenschlichung Genozid erst möglich macht“. Und sie sollen Reservistinnen, Kampfpiloten dazu bringen, beim nächsten Einsatz an die Bilder denken zu müssen.
Doch selbst wenn die Aktionen wirkten oder wenn der sogenannte Friedensplan von US-Präsident Donald Trump in den kommenden Tagen die Gewalt beende: Die Aufarbeitung werde wohl erst in den kommenden Generationen beginnen können, sagt Argov. „Meine Großmutter hat ihre Familie im Holocaust verloren und immer gesagt: ‚Meine Generation kann den Tätern nicht vergeben, aber eure Generation muss einen Weg finden, Brücken zu bauen.‘ Wie sollten die Palästinenser uns vergeben? Das werden vielleicht erst unsere Enkel erleben.“
Mitarbeit: Omri Baleli
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