Zukunft der Justiz: Staatsdienst? Nein danke
Richter*innen und Staatsanwält*innen fehlen schon jetzt fast überall. Und die Jura-Studierenden? Haben offenbar wenig Interesse am Staatsdienst.
Was möchte man werden, wenn man Jura studiert? „So jemand wie bei Suits“, sagt ein 22-jähriger Jura-Student aus München und lacht. Suits ist eine Serie über einen unglaublich erfolgreichen Wirtschaftsanwalt und sein extravagantes Leben. Natürlich sei das nicht ernst gemeint, fügt der Student hinzu. Auch den Staatsdienst, als Richter oder Staatsanwalt, habe er nicht ausgeschlossen.
Unterhält man sich länger mit Jura-Studierenden wird aber schnell klar: Geld spielt für sie sehr wohl eine Rolle. Das gibt auch der 22-Jährige aus München zu: „Bei der Zeit und dem Aufwand, den man in dieses Studium investiert, will man natürlich schon danach beruflich die besten Möglichkeiten haben.“ Ein Kommilitone von ihm wird noch deutlicher: „Zur Zeit kann die Justiz bei der Bezahlung fast gar nicht mit dem freien Markt konkurrieren.“ In Großkanzleien kann das Einstiegsgehalt schon mal 125.000 Euro im Jahr sein, als Richterin oder Staatsanwalt eher um die 70.000 Euro.
Alle Studierenden bleiben in diesem Text anonym, sie haben Angst vor Auswirkungen auf ihre – vielleicht ja am Ende doch – staatliche Karriere. Dabei ist das eher unwahrscheinlich, denn das Justizsystem sucht händeringend nach Jura-Absolvent*innen, um das System am Laufen zu halten.
Fast 2.000 Richter*innen- und Staatsanwaltschaftsstellen sind aktuell nicht besetzt. „Man hat sich den Personalausstattungen immer vom unteren Rand her genähert. Schon seit vielen Jahren sind die geforderten Personalschlüssel in ganz wenigen Ländern überhaupt erreicht worden“, sagt Carsten Löbbert, Präsident des Landgerichts Lübeck.
Der Richter*innenmangel hat schon jetzt teils gravierende Auswirkungen. Ein besonders drastisches Beispiel: Laut einer Recherche des Spiegels mussten seit 2007 645 Häftlinge aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil die Verfahrensdauer zu lang war. Die Dunkelziffer sollte höher sein, weil nur fünf Bundesländer diese Daten überhaupt seit 2007 erheben.
Die Bundesregierung weiß offenbar um das Problem und will ihm mit einem neuen Pakt für den Rechtsstaat entgegenwirken. Einen ersten solchen Pakt gab es 2019, er soll aber mit den tatsächlichen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben, sagen Richter*innen. Zum Pakt für den Rechtsstaat 2.0 schreibt das Bundesjustizministerium: „Für die personelle Stärkung der Justiz sind für diese Legislaturperiode Bundesmittel in Höhe von insgesamt 240 Millionen Euro vorgesehen“ – allerdings explizit nicht für höhere Besoldung. Außerdem sollen bis 2029 bis zu 220 Millionen Euro in die Digitalisierung fließen. mtaw
Blickt man nur wenige Jahre in die Zukunft, wird sich dieses Problem durch eine kommende Pensionierungswelle noch verschlimmern, besonders in den neuen Bundesländern. Bis 2031 sind laut Deutschem Richterbund 62,5 Prozent aller Stellen neu zu besetzen. Gleichzeitig kommen immer weniger Jurist*innen nach, die in die Lücken springen könnten. 2007 absolvierten beispielsweise noch 10.700 das erste und 9.300 das zweite Staatsexamen. 2021 waren es dann nur noch 8.700 und 7.800 Absolvierende.
Auch wenn die Zahlen sinken, scheint es auf den ersten Blick mehr als genug – Jura ist immer noch eines der beliebtesten Studienfächer. Das Problem für unseren Rechtsstaat ist aber, dass die meisten von ihnen lieber in die Privatwirtschaft als in den Staatsdienst wollen.
Doch wie kann man entgegensteuern? Der Lübecker Richter Löbbert meint, man müsse „natürlich rechtzeitig anfangen, Nachwuchs zu gewinnen“, um dieser Pensionierungswelle etwas entgegenzusetzen. „Wenn die Welle erst richtig am Rollen ist, wird man nicht auf einmal so viel Personal einstellen können.“ Er habe nicht den Eindruck, dass das schon überall so gemacht wird. Blickt man auf die Zahlen der offenen Stellengesuche in den Bundesländern, scheint er Recht zu haben.
Dabei bietet der Staatsdienst einige Vorzüge, vor allem was die eigene Unabhängigkeit und flexible Arbeitsbedingungen betrifft. Ein Student aus Passau erzählt, dass man zwar nicht mit einer 35-Stunden-Woche rechnen könne. Aber dass man dafür an Tagen ohne feste Termine auch erst um zehn Uhr beginnen oder von zu Hause aus arbeiten kann, findet er gut. Ein Student aus München sieht ähnliche Vorteile: „Vor allem die Benefits im Staatsdienst sind halt geil, Work-Life-Balance für Familie, Sicherheit – keine Kündigung, private Versicherung und so weiter.“ Trotzdem fehlt der Nachwuchs und die Gründe sind vielfältig.
Da wäre wieder das Thema Bezahlung. Den Unterschied zwischen Privatwirtschaft und Justiz in den Einkommen gab es schon immer, so Löbbert: „Und trotzdem ist die Schere mittlerweile so groß, dass es schon ein Problem ist.“ Ankündigungen, dass sich hierbei etwas ändern wird, gibt es bislang nicht.
Auch Janne Wollnik, Mitglied des Fachschaftsrats der Universität Hamburg, findet, dass das Anheben der Gehälter der wichtigste Schritt wäre, da der Staatsdienst „auch finanziell unter einem massiven Wertschätzungsproblem leidet“. Zusätzlich spiele die sehr hohe Notenanforderung für Staatsbedienstete – im Gegensatz zu privaten Kanzleien – eine Rolle, denn „die Examensnoten sind nur begrenzt aussagekräftig, wenn es um die tatsächliche Qualifikation von Jurist*innen geht.“ Viele Bundesländer haben ihre Anforderungen deshalb schon gesenkt.
Angstzustände vorm Staatsexamen
Für die Studierenden, mit denen die taz gesprochen hat, entsteht der Druck aber nicht unbedingt durch die Noten, sondern eher dadurch, wie das Jurastudium meist noch aufgebaut ist. Wer das Staatsexamen auch beim zweiten Versuch nicht besteht, steht ohne Abschluss da.
Ein Student aus Passau, der gerade sein erstes Staatsexamen bestanden hat, erzählt von Angstzuständen, Zukunftsängsten und Panikattacken auf dem Weg zum Examen, weil „du nicht weißt, was du dann machst, wenn dieses Staatsexamen jetzt nicht so läuft oder wenn du das Staatsexamen endgültig nicht bestehst“. Er glaubt, auch deshalb seien die Zahlen der Jurastudierenden rückläufig. Er kenne viele, die das Studium auch kurz vor oder mitten in der Examensphase abgebrochen haben, und noch mehr, die psychologische Hilfe gebraucht haben.
Die neuesten Zahlen zu den Studienabbrüchen stammen aus den Studienanfängerjahrgängen 2007 bis 2009 und zeigen eine sogar unterdurchschnittliche Abbruchquote von 24 Prozent. Lediglich im Vergleich zu anderen Fächern mit Staatsexamen ist diese Zahl hoch: Bei Medizin und Lehramt sind die Abbruchquoten nur jeweils 13 Prozent. Was bei Jura jedoch auffällig ist und die Aussagen der Studierenden bekräftigt, ist die durchschnittliche Zeit, nach der Jura-Studierende ihr Studium abgebrochen haben.
Während im Schnitt bei anderen Fächern schon nach fünf Semestern abgebrochen wird, beenden Jura-Studierende ihr Studium im Schnitt nach sieben Semestern und ein Viertel der Abbrecher sogar erst nach dem zehnten Semester. Die Gründe für den späten Abbruch? Laut einer Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung ist der schwerwiegendste Grund der enorme Leistungsdruck, insbesondere im Zusammenhang mit den Examen.
Eine mögliche Verbesserung wäre das flächendeckende Angebot eines integrierten Bachelor of Law, mit dem man auch ohne Staatsexamen einen universitären Abschluss erlangen könnte. Bisher gibt es dieses Angebot nur vereinzelt, Nordrhein-Westfalen war dabei Vorreiter. In Bayern und Baden-Württemberg gibt es den Studiengang noch gar nicht, obwohl auch dort inzwischen einige Universitäten aktive Forderungen an die jeweilige Landesregierung stellen.
Dem Mangel an Richter*innen und Staatsanwält*innen wäre damit zwar nicht unmittelbar geholfen: Wer kein Staatsexamen hat, kann und soll auch nicht in den Staatsdienst gehen können. Der Bachelor könnte jedoch helfen, mehr Menschen bis zum Staatsexamen zu bringen, weil der Druck insgesamt geringer wäre und weniger deshalb vorher abbrechen. Letztendlich könnte somit auch die potenzielle Zahl an Staatsbediensteten steigen. Ein kleiner Schritt, der aber aus Sicht der Studierenden hilfreich wäre.
Hohe Unzufriedenheit
Was aus Sicht von Studierenden auch noch abschreckend wirkt, ist die Mentalität, die implizit an den Jura-Fakultäten weitergegeben wird. Fast jeder hat eine Geschichte, die mit „Ellenbogengesellschaft“ untertrieben beschrieben ist: von Kommiliton*innen geklaute Ordner, versteckte Bücher kurz vor der Klausur, damit andere nicht lernen können, und gelöschte Notizen auf unbeaufsichtigten Laptops.
Auch das mache vielen zu schaffen, erzählen die von der taz befragten Studierenden. Insgesamt, sagt der Student aus Passau, sei das „halt ein Ausbildungssystem, das seit Jahrzehnten nahezu gar nicht reformiert wurde.“ Laut einer Studie der Plattform iur.reform aus dem Jahr 2023 teilen 53 Prozent der Jura-Studierenden diese Unzufriedenheit mit dem Studium. Nur ein Drittel würde das Studium weiterempfehlen.
So düster die momentane Lage auch aussieht, fast alle Studierenden, die mit der taz geredet haben, könnten sich unter besseren Umständen vorstellen, in den Staatsdienst zu gehen. Ein Student findet, Richter*innen und Staatsanwält*innen sollten öfter direkt in die Uni gehen, Veranstaltungen machen und für den Beruf werben.
Blickt man auf eine Befragung des Allensbach-Instituts unter Richter*innen und Staatsanwält*innen in Deutschland, sollten sich da auch Freiwillige finden lassen. 84 Prozent würden sich wieder für ihren Beruf entscheiden. Jetzt müssen sie nur noch dem Nachwuchs erzählen, warum.
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