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Aufarbeitung des Genozids an den JesidenIn der Erde und in den Gerichtssälen

Elf Jahre nach dem Völkermord an den Jesiden werden immer noch Massengräber gehoben. Das ist wichtig für die Verfolgung der Täter – auch in Deutschland.

Flüchtende Je­si­d:in­nen an der Irakisch-syrischen Grenze am 12. August 2014 Foto: Rodi Said/reuters

Das Gefühl, wenn ein neues Massengrab ausgehoben wird, sei kaum beschreibbar, sagt Khairy Ali. Seit Jahren setzt sich der jesidische Aktivist im Irak dafür ein, dass die verscharrten Leichen geborgen werden, auch noch elf Jahre nach dem Völkermord an der religiösen Minderheit. Immer wenn ein neues Grab ausgehoben wird, kommen die Angehörigen der Opfer, um zu schauen, ob ihre Verwandten unter den Geborgenen sind. „Die Gefühle der Opferfamilien werden taub“, sagt Ali der taz am Telefon. „Oft fragen wir uns: Was haben diese Menschen Falsches getan, dass sie getötet wurden? Sie hatten keine Schuld“.

Vor elf Jahren, am 3. August 2014, fiel der Islamische Staat in der Region Sindschar im Nordirak ein und begann, die dort lebenden Jesiden als Ungläubige und vermeintliche Teufelsanbeter zu massakrieren. Männer und Jungen mit Achselhaaren wurden oft am Dorfrand erschossen, die Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter in die Sklaverei verkauft. Wer fliehen konnte, fand Zuflucht im Sindschargebirge, wo den Jesiden in der sengenden Hitze das Nötigste fehlte – bis kurdische Kräfte der YPG einen Fluchtkorridor nach Syrien freikämpfen konnten. Etwa 5.000 Jesiden wurden getötet, mehr als 10.000 verschleppt.

Ali arbeitete damals noch als Wachmann in einem Apartmentkomplex im kurdischen Erbil. 2015 begann er, Belege für den Völkermord zusammenzutragen. Er sammelte die Videos der Mörder und Interviews der Überlebenden. Als der Islamische Staat zurückgedrängt war, kartierte er auch die Orte der Massengräber, in denen die Dschihadisten ihre Opfer verscharrt hatten, erstellte Listen der Vermissten und half bei der Identifizierung der Toten. Er erzählt das im Gespräch in seiner Muttersprache Kurmandschi, ein Übersetzer dolmetscht.

Heute setzt sich Ali dafür ein, dass der irakische Staat seiner Pflicht nachkommt und die Massengräber aushebt. Denn was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, läuft in Wirklichkeit sehr schleppend. Dabei ist die Aushebung der Gräber ist nicht nur für den Seelenfrieden der Überlebenden wichtig, sondern auch für die Strafverfolgung der Täter. Von den Überlebenden fanden einige ihren Weg nach Deutschland. Mittlerweile leben hierzulande über 200.000 Jesiden, so viele wie nirgends sonst außerhalb des Irak: Auch ihnen ist es zu verdanken, dass Deutschland bei Prozessen gegen frühere IS-Terroristen heute eine Art Speerspitze bildet.

Die Behörden ließen Leichen zurück

Alis Aktivismus begann damit, dass er zu den Massengräbern fuhr und die irakischen Behörden bei den Ausgrabungen überwachte, damit alles mit rechten Dingen zuging. Manchmal ließen die Behörden Leichen zurück, erzählt er. Ali habe dann Beschwerden an die Ämter geschickt und sich auf den sozialen Medien dafür starkgemacht, dass alle Toten geborgen werden.

2022 wurde die von ihm gegründete NGO vom irakischen Staat zugelassen. Er und seine sieben Mitstreiter dokumentieren die Verbrechen und setzen sich dafür ein, dass der Irak die Massengräber aushebt und die Opfer identifiziert. Nicht nur in Sindschar, sondern auch in den Provinzen Anbar und Mossul. Alis NGO heißt „Petrichor“ – der Begriff beschreibt den Geruch, der entsteht, wenn Regen auf trockene Erde fällt.

Elf Jahre nach dem Völkermord leben immer noch jesidische Vertriebene in Flüchtlingslagern, vor allem in Irakisch-Kurdistan, wo sie einst Zuflucht fanden. Immer noch sind Teile von Sindschar zerstört, die Ruinen teils vermint, und wirtschaftliche Perspektiven gibt es kaum. Entscheiden sich Menschen dennoch, aus den Lagern nach Sindschar zurückzukehren, finden sie dann manchmal neue Spuren der Verbrechen, sagt Ali. Auch in Syrien könnte es noch unentdeckte Gräber geben, in denen Jesiden liegen, die der IS einst dorthin verschleppte.

„Wenn jemand ein neues Massengrab entdeckt, dann rufen sie Petrichor an“, sagt Ali. „Ich fahre dann zu dem Ort und leite die Informationen an die irakische Regierung weiter, damit sie mit der Arbeit beginnen können.“ 68 Massengräber wurden bislang geöffnet. Ali sagt, er kennt die Orte von 25 weiteren Gräbern, die bislang noch nicht geborgen wurden – obwohl der irakische Staat von ihrer Existenz weiß. Etwa 2.500 Jesiden werden immer noch vermisst.

Eine YPG-Kämpferin kümmert sich um geflüchtete Jesidinnen am 10. August 2014 Foto: Rodi Said/reuters

Die irakische Regierung behaupte, sie habe nicht genug Personal, um die Bergungen durchzuführen, erzählt Ali. Das mag am Anfang gestimmt haben, doch dann flossen internationale Gelder, um die Bergung zu finanzieren. Geändert habe sich trotzdem wenig. „Einer der Gründe ist die Korruption in den irakischen Behörden. Sie verzögern den Prozess, damit sie weiterhin Geld bekommen“.

2017 hatte die UN auf Bitten der irakischen Regierung UNITAD gegründet, ein Team von Ermittlern, die Beweise für die IS-Verbrechen sammelten. 2024 aber musste UNITAD seine Arbeit einstellen, ebenfalls auf Geheiß der Regierung.

Erste Verurteilung wegen Völkermord

Wie wichtig es ist, dass die Beweissicherung vorangeht, betont auch Alexander Schwarz. Der Jurist arbeitet beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und engagiert sich seit längerem für die Aufarbeitung des Völkermords. 2021 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt das ehemalige IS-Mitglied Taha Al J., weil er eine Jesidin und ihre fünfjährige Tochter 2015 als Sklavinnen erwarb und misshandelte. Das Mädchen habe er in der prallen Sonne an ein Fenster gebunden, bis sie vor den Augen der Mutter starb.

Das Gericht verurteilte J. nicht nur wegen seiner individuellen Taten, sondern auch wegen Völkermordes an den Jesiden – der erste solche Fall weltweit. Schwarz, damals Junior-Professor für Völkerrecht in Leipzig, unterstützte die Überlebenden in der Nebenklage.

Die Bundesanwaltschaft verfolgt eigentlich fast alles, was ihr vor die Linse kommt

Alexander Schwarz, Völkerrechtler

Mit über 60 Verfahren tut sich Deutschland bei der Strafverfolgung der Täter international hervor. Nirgendwo sonst werden so viele Fälle verhandelt. „Das ist wirklich eine große Leistung“, sagt der 43-jährige Schwarz. „Es hat den Anschein, als verfolge die Bundesanwaltschaft eigentlich fast alles, was ihr vor die Linse kommt“. Ein wichtiger Grund dafür ist die jesidische Diaspora in Deutschland, die sich für die Strafverfolgung einsetzt.

Zum anderen hätten die Verfahren für die deutsche Bundesanwaltschaft keine politische Brisanz. Will heißen: Es gibt auf der anderen Seite keinen verbündeten Staat, mit dem man es sich verscherzen könnte. „Ein anderer Themenkomplex ist Gaza und Israel, wo wir das Gegenteil beobachten, nämlich eine maximale Untätigkeit der Bundesanwaltschaft, obwohl die Beweislage ähnlich gut ist“, sagt Schwarz.

IS-Täter vor deutschen Gerichten

Angestrengt werden die Verfahren auf Grundlage des Weltrechtsprinzips. Es besagt, dass schwere Straftaten auch vor deutschen Gerichten verhandelt werden können, selbst wenn die Tat nicht in Deutschland begangen wurde und weder Täter noch Opfer deutsche Staatsbürger sind.

Doch die deutschen Ermittler können für die Verfahren nicht im Irak ermitteln, weil die dortigen Behörden es nicht erlauben. Trotzdem gelten dieselben juristischen Anforderungen für die Verurteilung der Täter. In den Fällen, in denen der Irak selbst frühere IS-Terroristen verurteilt hat, gleichen die Verfahren eher Schauprozessen, sagt Schwarz. Die Verurteilungen der Täter würden in der Regel innerhalb eines Tages gefällt und mündeten nicht selten in der Todesstrafe.

Schwarz setzt sich besonders dafür ein, dass die Gerichte „geschlechtsbezogene Gewalt“ in den Verfahren berücksichtigen. Jesidische Frauen wurden nämlich nicht nur als Ungläubige verfolgt, sondern auch direkt als Frauen versklavt und vergewaltigt. In einer Fatwa hatte der IS die sexuelle Gewalt eigens legitimiert.

2021 verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf die damals 23-jährige Sara O., weil sie sich dem IS in Syrien angeschlossen hatte und ihrem Partner half, jesidische Frauen zu versklaven und zu töten. Das Urteil machte auch geschlechtsspezifische Gewalt als Begründung für die Taten geltend – ebenfalls zum ersten Mal weltweit. „Der Internationale Strafgerichtshof hat es bis heute nicht geschafft, eine vollgültige Verurteilung aufgrund dieses Tatbestandes zu erreichen. Geschafft hat es aber das OLG Düsseldorf – und damit Rechtsgeschichte geschrieben“, sagt Schwarz.

Mangelnde Dokumentation der Prozesse

An anderen Stellen aber werden die deutschen Gerichte den Anforderungen von Völkerstrafprozessen nicht gerecht. So gab es beim Verfahren gegen Taha Al J. in Frankfurt ein Verbot, mitzuschreiben, sagt Schwarz. Ferner wurde keine Übersetzung ins Arabische oder Kurdische angeboten, sodass einige Überlebende dem Prozess im Gerichtssaal nicht folgen konnten.

Für Schwarz ist das ein Manko. „Einerseits wendet man internationales Recht an, beruft sich auf die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs, verhandelt transnationale Prozesse und Taten, ist aber nicht willens und nicht dafür ausgestattet, die Gerichtssprache zu übersetzen“. Auch wurden Völkerstrafprozesse in Deutschland bis 2024 nicht aufgezeichnet, sagt Schwarz. Dabei sind solche Prozesse wichtig, um die Taten für die Nachwelt festzuhalten.

Niemand kann garantieren, dass sich der Völkermord nicht wiederholt

Khairy Ali, jesidischer Aktivist

Und: Obwohl die Sicherheitslage im Irak nach wie vor volatil ist, schiebt Deutschland immer öfter Jesiden dorthin ab. Die Strafverfolgung geht derweil weiter. Erst im Mai berichtete die taz über einen Prozess vor dem OLG München gegen ein Paar, das sich dem IS angeschlossen haben soll und zwei jesidische Mädchen versklavte. „Man muss, wenn man mit dem Völkerstrafrecht arbeitet, nicht nur einen langen Arm haben, sondern eben auch immer einen langen Atem“, sagt Alexander Schwarz. „Wir müssen davon ausgehen, dass in den nächsten 10 bis 20 Jahren es noch immer zu weiteren Prozessen kommen wird.“

Dafür ist die Spurensicherung in den Massengräbern unerlässlich. Der jesidische Aktivist Khairy Ali bezeichnet sie als „Eckpfeiler“ der Gerechtigkeit. „Wenn ein Grab geöffnet wird, sollten alle Fundstücke sichergestellt, alle Details festgehalten werden. Diese Dinge sollten benutzt werden, um herauszufinden, wer diese Menschen getötet hat und wie wir die Täter zur Rechenschaft ziehen können“, sagt er. Ali beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, aber ahnt auch, dass die Bedrohung durch den Islamismus für die Jesiden in der Region nicht beseitigt ist: „Niemand kann garantieren, dass sich der Völkermord nicht wiederholt“.

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