Videothekar über die Gegenwart: „Unser größter Feind ist die Trägheit“
Videotheken im ganzen Land sind gestorben. Im ganzen Land? Mitten in Kreuzberg trotzt Graf Haufens „Videodrom“ dem Zeitgeist. Ein Interview.

40 Jahre, 40.000 Filme. Die Videothek „Videodrom“ ist eine Berliner Institution, die Razzien, Streaming und Pandemie bis heute übersteht. Wo es früher ein zehnköpfiges Team gab, stehen Graf Haufen und seine Partnerin Christine heute allein im Laden. Ein Gespräch über Vorurteile, moderne Vermarktung und Netflix.
taz: Graf Haufen, wie oft ist das Videodrom in über 40 Jahren schon totgesagt worden?
Graf Haufen: Ach, das ist ein tägliches Ding. Leute gehen vorbei und fragen: „So was gibt es noch?“ Dass es viel mehr ist als eine Sammlung von Filmen, sehen viele nicht, und das zu kommunizieren, ist wahnsinnig schwierig. Zumal es auch abprallt, weil die Bequemlichkeit siegt. Man sitzt auf dem Sofa, drückt einen Knopf und dann läuft irgendein Film.
taz: Kommen überhaupt neue Kund:innen nach?
Haufen: Wir merken, dass verstärkt auch jüngere Leute kommen. Die sagen etwa „Netflix, Amazon Prime, alles ganz schön. Aber man findet die Sachen nicht, die man sucht, oder sie sind nicht mehr verfügbar.“ Was sich in den letzten 40 Jahren grundlegend verändert hat, ist die Bereitschaft, selbstständig tiefer zu buddeln. Angenommen, jemand hat einen Film von Howard Hawks geguckt, fand den super, fragt sich, was hat der noch gemacht? Dann einfach mal 20 Filme aus seinem Oeuvre zu gucken, das passiert nur noch ganz selten.
besser bekannt unter seinem Künstlernamen Graf Haufen (*1965 in West-Berlin), leitet seit vielen Jahren das Videodrom in Kreuzberg – eine der wenigen verbliebenen Videotheken, die abseits des Mainstreams ein sorgfältig kuratiertes Programm bieten. Bereits Anfang der 1980er Jahre war er eine prägende Figur der West-Berliner Post-Punk- und Off-Art-Szene. In dieser Zeit rief er das Kassettenlabel Graf Haufen Tapes ins Leben, auf dem unter anderem Aufnahmen von Die Tödliche Doris und Soilent Grün (der späteren Vorläuferband von Die Ärzte) erschienen. Schon als Jugendlicher experimentierte Rodemann mit minimalistischer Elektronik, Punk-Elementen und performativen Ausdrucksformen. Diese Leidenschaft für das Ungewöhnliche und Raritäten im Film- und Musikbereich prägt bis heute das Profil des Videodroms, das sich zu einem einzigartigen Treffpunkt für Liebhaber unabhängiger Filmkultur entwickelt hat.
taz: Was denken Sie, warum hat sich das verändert?
Haufen: Ich glaube, der Informationsdruck durch Smartphones und Co hat massiv zugenommen und das ist ein Grund, aus dem Leute nach irgendwas suchen, das sie ein bisschen ablenkt. Deshalb funktioniert ein Format wie Netflix. Denn wenn man sich die Qualität des Contents anguckt, ist die relativ gering. Gerade die Eigenproduktionen, gerade auch die Serien. Es gab immer mal welche, die wirklich toll waren. Aber mittlerweile wird das Produkt nur noch danach geformt, wo man das Publikum vermutet.
taz: Trotzdem sind Serien weiterhin sehr beliebt. Liegt es daran, dass der Content sozusagen snackable ist?
Haufen: Definitiv. Und es sind Ersatzfamilien. Man taucht in ein kleines Universum ein, in dem man die Sicherheit hat, nur zuzugucken. Schaut man eine Serie, die man mag, weiß man außerdem: Die nächsten acht Stunden werden wahrscheinlich auch ziemlich gut.
taz: Heißt das, Film bedeutet mehr Risiko?
Haufen: Film ist Risiko. Darauf muss ich mich einlassen. Früher haben sich Leute aufgrund der Cover entschieden, etwas auszuleihen. Wir empfehlen ja Filme, die wir gut finden, und merken: Viele gehen nur noch danach.
taz: Was können Filme, das Serien nicht können?
Haufen: Theoretisch können Serien einiges besser, weil sie mehr Zeit haben, Dinge entwickeln können. Was bei Serien reinspielt, ist, dass sie in der Produktion deutlich teurer sind, Superheldenfilme oder Mega-Blockbuster mal ausgenommen. Der Druck, finanziell erfolgreich zu sein, ist also noch größer, was wiederum dazu führen kann, dass bestimmte kreative Entscheidungen gefällt werden. Da kann ein Film eben wagemutiger sein in gewissen Grenzen.
taz: Anders als früher sind Sie heute bei Instagram. Haben Sie mal über neue Vermarktungsstrategien für das Videodrom nachgedacht?
Haufen: Ich stehe dem sehr skeptisch gegenüber, allem, was mit sozialen Netzwerken zu tun hat. Gerade bei unseren Spendenaktionen hat es sehr geholfen. Aber richtig Content zu produzieren, um damit lokal was zu erreichen, ist sinnlos. Wenn wir über einen Film bei Facebook oder Insta schreiben, liken das ein paar Leute und sagen, finde ich super. Aber im Laden merken wir davon nichts.
taz: Sagt Ihnen der Name Klaus Willbrand etwas? Das ist ein Kölner Antiquar, der kürzlich verstorben ist.
Haufen: Nein.
taz: Weil die Kundschaft irgendwann fast ausblieb, ließ er sich darauf ein, es mit Social Media zu versuchen. Bei Instagram hatte man bald 150.000 Follower:innen, so kamen auch neue Kund:innen. Der Laden konnte weitergeführt werden. Für Willbrand war es auch ein Gewinn, zu sehen, wie viele junge Leute sich für sein Fach interessieren.
Haufen: Es gibt da einen fulminanten Unterschied: Bestimmte Literatur ist nicht unbedingt verfügbar online. Bei Filmen ist das schon so. Wer die Quellen kennt, kann sich quasi alles besorgen. Das Antiquariat kann nach außerhalb liefern. Wir machen auch Fernverleih, aber nur im Rahmen einer Mitgliedschaft damit man Regelmäßigkeit hat. Das heißt, über soziale Netzwerke Leute in den Laden zu bringen, die möglichst noch in der Nähe wohnen, ist kompliziert. Und willst du einen Film auf DVD gucken, brauchst du mindestens einen DVD-Player und einen Fernseher oder Computer.
taz: Sie verleihen auch Abspielgeräte, oder?
Haufen: Ja, aber da heißt es oft: Ach, das muss ich auch noch leihen.
taz: Nun liegt das Videodrom mitten in Berlin, ist das nicht ein Standortvorteil?
Haufen: Ja, aber selbst Leute aus Schöneberg sagen, der Weg sei zu weit. Ich sag ja, unser größter Feind ist die Trägheit.
taz: Während Netflix hierzulande rund 5.000 Filme und 2.000 Serien anbietet, haben Sie über 40.000 Filme und auch Serien im Bestand. Was spricht noch für Sie?
Haufen: Alles, was wir jemals anschaffen, bleibt. Man kann bei uns von Hitchcock nicht nur Psycho und Fenster zum Hof sehen, sondern in der Stummfilmzeit anfangen, bei seinen allerersten Versuchen und selbst die eher obskuren Propagandafilme finden, die er im Krieg gemacht hat für die Briten. Online ist das für die meisten extrem schwierig. Und wir kennen uns sehr gut mit Filmen aus, können mit unserer Erfahrung persönliche Empfehlungen geben oder bei der Auswahl helfen.
taz: Was ist eigentlich das größte Vorurteil über Sie als Videothekar?
Haufen: Dass ich nur Hawaii-Hemden trage.
taz: Ich dachte, das wollten Sie lieber nicht mehr über sich lesen?
Haufen: Stimmt, verdammt. Nun gut. Dann vielleicht, dass ich ein Nerd bin, der zu viel redet. Wir reden einfach gern über Filme, Christine und ich. Gerade wenn es Sachen sind, für die wir brennen.
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