Wasser trinken: Die Religion der Hydration
„Trink Wasser“ war früher ein guter Rat – heute tragen Menschen ihre Trinkflaschen wie Heiligtümer. Wann ist aus einem Bedürfnis ein Fetisch geworden?

Z um Glück ist die Hitzewelle erst mal vorbei. Das folgende gesellschaftlich heikle Thema kann nur bei gemäßigten Temperaturen angegangen werden. Um einem Sturm der Entrüstung vorzubeugen, stelle ich vorauseilend klar:
Es ist wichtig, während der Hitzetage genug zu trinken. Und wahrscheinlich ist es auch angebracht, dass wir alle täglich in allen Medien darauf hingewiesen werden. Es kann ja durchaus sein, dass es Leute gibt, ältere Menschen, die davon noch nichts gehört haben, oder eben daran erinnert werden müssen. Ich gebe zu: Wasser trinken ist bei großer Hitze wichtig.
Trotzdem bestehe ich darauf, dass „Wasser trinken“ in den letzten Jahren zu einer Art Religion für die jüngeren Generationen geworden ist. Sie haben auch bei kühlem Wetter ständig Angst zu verdursten. Man sieht sie in den Fernzügen, wie sie zerkratzte 3-Liter-Plastik-Wasserflaschen wie einen Schatz auf ihren Schößen hüten. Einmal habe ich einen jungen Mann gesehen, dessen im Rucksack integrierte Wasserflasche die Flüssigkeit mit einer Schlauchvorrichtung direkt in seinen Mund führte.
In einem klimatisierten Bekleidungsgeschäft sah ich letztens einen jungen Mitarbeiter – an seinem breiten Gürtel ein Karabinerhaken und daran eine 5-Liter-Wasserflasche. Bei Autofahrten mit 40-Jährigen muss man ständig anhalten, weil das überflüssige Wasser, das sie zu sich nehmen, ständig wieder ausgeschieden werden muss.
Das Wassertrinken – ist es nur ein Ausdruck des Selbstoptimierungswahns, ist es eine Mode oder schon eine Sucht? Vielleicht hilft ein Blick zurück in die70er Jahre.
Allgegenwärtige Dehydrophobie
Wir haben früher nie Wasser getrunken, noch nicht mal beim Sport, und wir hatten auch keinen Durst. Bei uns auf dem Dorf trank kein Mensch Wasser, nie. Die Männer tranken bei der Feldarbeit, zum Beispiel beim Heuaufladen in der Augusthitze, vielleicht mal ein Bier oder zwei. Wobei Extremhitze damals 30 Grad bedeutete.
Aber der Klimawandel ist nicht schuld an der Wassersucht. Der ganze Wasser-Unsinn begann in den 90er Jahren, als die Supermodels statt Handtaschen ständig ein neues stranges Accessoire mit sich führten: die Wasserflasche einer französischen Marke. Cindy Crawford, Claudia Schiffer, Linda Evangelista flöteten in die Kamera: Mein Geheimnis? Ich trinke viel Wasser!
Damals wurde das Narrativ in die Welt gesetzt, für gutes Aussehen müsse man nur genügend Wasser trinken. Dieser Unsinn hat zur heute weit verbreiteten Dehydrophobie, der Angst auszutrocknen, geführt.
Inzwischen lassen sich die Wasser-Junkies schon mit Apps ans Wassertrinken erinnern – denn wenn man Durst hat, ist es oft schon zu spät! Was kommt als Nächstes? Lassen sie sich nachts einen Tropf legen – denn wer schläft, kann nicht trinken?
Immer mehr Ärzte geben zu, dass kaum ein Mensch zwei Liter Wasser am Tag braucht. Vergebens. Gegen den Wasser-Lifestyle kommen sie nicht an, es steckt zu tief drin. Die Boomerin aber weiß, dass jede Mode mal vorbeigeht. Eines Tages werden auch die fanatischsten Wassertrinkerinnen über sich selbst lachen.
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