Unsicherer Aufenthaltsstatus: In Berlin nicht willkommen?
Das Landesamt für Einwanderung droht einer Holocaust-Überlebenden die Abschiebung an. Ihre Tochter ist entsetzt. Die Politik kritisiert die Behörde.

Denn das Lesen ist Goldenbergs hauptsächlicher Zeitvertreib. „Wenn es nach der Liste meiner Krankheiten geht, die die Ärzte aufgeschrieben haben, sollte ich das gar nicht mehr können“, sagt Goldenberg, freut sich über ihren Spruch und ein bisschen auch über ihren Trotz. Sie sagt es auf Russisch, Kernerman übersetzt. „Meine Mutter hat schon immer gern gelesen“, fügt sie hinzu, und jetzt lenke es sie von der Unsicherheit über ihren Aufenthaltsstatus ab. Denn Klara Goldenberg ist zwar in der Wohnung ihrer Tochter, trotzdem ist unklar, ob sie bleiben kann – zwischenzeitlich drohte sogar eine Abschiebung.
Das Lesen beschäftigt Goldenberg. Und die Katzen, die kommen, um sich von ihr streicheln lassen. Ihre Tochter hat sie extra angeschafft, seitdem sie ihre Mutter aus Israel zu sich in die Wohnung in Prenzlauer Berg geholt hat. Weil Lena Kernerman noch etwas anderes wahrnimmt, wenn sie ihre Mutter so am Fenster sitzen sieht: „Ich sehe, dass sie antriebslos und ängstlich ist, und ich sehe, dass sich das verschlimmert hat.“ Inzwischen gehe ihre Mutter alleine gar nicht mehr vor die Tür. „Ich bringe sie dazu, mit mir zu spazieren. Und ich koche. Sie sagt, das könnte sie ja auch übernehmen, aber dann macht sie es doch nicht“, sagt Kernerman. „Ich denke, wenn sie allein wäre, würde sie sich vor allem von Süßigkeiten ernähren.“
Klara Goldenberg lebte zuvor in Israel. Sie hatte ihre Mutter im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion verloren, da war sie noch ein Baby. Unzählige Male habe sie diese Geschichte gehört, sagt Kernerman. „Es war 1942, und sie waren im Zug“, erzählt sie. „Meine Mutter war gerade neun Monate alt. Sie wollten fliehen, weil sie jüdisch waren.“ Der Zug sei dann bombardiert worden, die Mutter habe sich schützend über das Baby gebeugt. „Ihre Mutter – meine Großmutter – starb bei dem Angriff. Es ist wie ein Wunder, dass sie das als Baby überlebt hat“, sagt Kernerman. „So habe ich die Geschichte auch immer wieder gehört.“ Goldenbergs Tante, gerade mal 19 Jahre alt, war auch im Zug und nahm das Baby Klara an sich. Später habe sie sie adoptiert. Goldenberg erhielt den Status als Holocaust-Überlebende. 2013 starb die Tante, 2021 auch deren Ehemann.
Die einzige Tochter
„Ab da war meine Mutter in Israel ganz allein. Und ich habe gemerkt: Es geht so nicht mehr“, sagt Kernerman. Sie ist die einzige Tochter und nun die einzige noch lebende direkte Verwandte. Sie habe ihre Mutter dann nach Berlin geholt, im Sommer 2023, noch vor dem 7. Oktober. „Nach dem Angriff und dem Massaker der Hamas, als der Krieg losging, da war schon klar, dass sie nicht mehr zurücksollte“, sagt sie.
Kernerman, 55 Jahre alt, lebt seit 17 Jahren in Berlin. Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft, arbeitet als Sozialarbeiterin und hat in Berlin ihre beiden Kinder großgezogen, die inzwischen beide studieren. Der Sohn lebt noch bei ihr in der Wohnung. Ihre Mutter bezog das alte Zimmer der Tochter, am Schrank hängt noch ein Schwarzweißfoto von Audrey Hepburn, an der Wand ein Bild von Jerusalem, das die Tochter gemalt hat.
Um den Aufenthalt ihrer Mutter dauerhaft genehmigen zu lassen, wollte Kernerman bei der Berliner Ausländerbehörde vorsprechen, dem Landesamt für Einwanderung (LEA). „Aber es war unmöglich, einen Termin zu bekommen. Über sechs Monate haben wir es jeden Tag versucht, das war großer Stress, auch für meine Mutter“, sagt sie. „Ich hatte mich informiert und war sicher, dass wir alle Voraussetzungen nach Paragraf 36 erfüllen.“
Paragraf 36 des Aufenthaltsgesetzes regelt, dass in Deutschland lebende Ausländer*innen unter bestimmten Bedingungen ein Familienmitglied zu sich holen können, wenn dieses dringende Unterstützung braucht – und wenn sie diese Unterstützung nur in Deutschland leisten können. Der Paragraf umfasst damit auch kranke und pflegebedürftige Eltern. Wer einen solchen Antrag stellt, muss finanzielle Sicherheiten nachweisen und beweisen, dass eine familiäre Beziehung besteht. „Meine Mutter bekommt eine Rente aus Israel und kann bei mir leben. Ich arbeite, und mein Ex-Mann hat auch zugesichert, dass er einen Teil der Kosten für ihren Lebensunterhalt übernehmen würde“, sagt Kernerman. „Ich möchte auch keine staatliche Unterstützung für sie hier, sie kann sich selbst finanzieren“, ergänzt sie.
Anwalt reicht Klage ein
Kernerman suchte sich Hilfe, ihr Anwalt stellte zuerst im August 2023 einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis. Er hakte mehrmals nach. „Frau Kernerman hat auch gesehen, dass es Zeit braucht. Sie war sehr geduldig“, sagt er im Rückblick.
Nach dem 7. Oktober, als Lena Kernerman klar wurde, dass ihre Mutter auf keinen Fall in ein Land im Krieg zurückkehren konnte, hätten sie und der Anwalt ihre Bemühungen intensiviert. Der Anwalt reichte nach etwa einem Jahr, im September 2024, eine Untätigkeitsklage ein, eine Klage also, die die Behörde dazu auffordert, über einen bereits gestellten Antrag zu entscheiden.
Am 20. Dezember 2024 schickte das LEA dann einen Bescheid. Darin teilte die Behörde der 83-Jährigen mit, dass man ihren Antrag abgelehnt habe, forderte sie dazu auf auszureisen und drohte die Abschiebung an. „Sofern Sie nicht bis zum 16. Januar 2025 freiwillig ausgereist sind, werde ich Ihre Ausreise in Ihren Herkunftsstaat Israel oder in einen anderen Staat, in den Sie einreisen dürfen oder der zu Ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, zwangsweise durchsetzen“, heißt es in dem Bescheid. Falls sie abgeschoben werde, werde außerdem ein einjähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet.
Die Behörde begründete ihre Ablehnung damit, dass Klara Goldenberg nicht ausreichend habe nachweisen können, über welche Quellen sie ihren Lebensunterhalt sichern werde. „Besondere Härten seien nicht ersichtlich“, heißt es in der Ablehnung. Wenn sie nicht freiwillig ausreise, müsse eine Abschiebung in die Wege geleitet werden.
Bis heute nicht übersetzt
Der Text dieser Ablehnung traf Lena Kernerman mit Wucht, wie sie berichtet. „Nach dem Bescheid war ich so schockiert“, sagt sie. „Sie haben ja sogar entschieden, dass sie Deutschland verlassen soll.“ Das habe sie ihrer Mutter bis heute nicht übersetzt. „Es würde ihre Ängste nur verstärken“, sagt Kernerman. „Sie spürt sowieso schon, dass es nicht so gut läuft.“
Stattdessen habe sie ihr gesagt, dass der Aufenthalt noch nicht geklärt sei. „Ich habe versucht, zu verstehen, woran die Ablehnung liegen könnte“, sagt Kernerman. „Meine Mutter sagt mir, ich müsse etwas falsch gemacht haben, Deutschland würde niemals eine Holocaust-Überlebende ausweisen. Sie hat großes Vertrauen in die Behörden hier.“
Goldenberg nickt und guckt leicht missbilligend, als Kernerman es ihr übersetzt. „Es ist ihr sehr wichtig, nichts falsch zu machen und alles gut zu regeln“, sagt Kernerman. „Es wird wohl keine Polizei kommen – aber es ist einfach wichtig, dass alles geklärt ist“, sagt Kernerman.
„Das Gericht und das LEA wussten, dass Frau Goldenberg Holocaust-Überlebende ist“, bestätigt auch Muhammad-Imtyaz Nawaz, der Anwalt, auf Nachfrage der taz. Es sei aus seiner Sicht nicht entscheidend für das Verfahren. Der Tochter sei es aber sehr wichtig gewesen, daher habe er diesen Nachweis vorgelegt.
Altenheim für die Tochter undenkbar
Wie es Klara Goldenberg in Berlin geht? „Das Wichtigste ist, dass sie bei der Familie ist“, übersetzt Kernerman. „Auch für mich wäre es undenkbar, sie in ein Altenheim zu geben, sie hat viele soziale Ängste, das wäre nicht gut für sie.“ Sie möchte ihre Mutter in so einem Zustand auch auf keinen Fall allein in Israel wissen. „Wenn sie hier nicht bleiben darf, wäre die einzige andere Möglichkeit, dass ich mit ihr nach Israel gehe. Aber das will ich nicht: Ich habe mein Leben, meine Kinder und meine Arbeit hier“, sagt sie. Außerdem fürchtet sie, dass die Ängste ihrer Mutter in der Kriegssituation in Israel noch weiter zunehmen könnten.
Mit ihrem Anwalt haben sie nun gegen den Bescheid geklagt, das Verfahren läuft noch. Goldenberg hat für die Dauer des Verfahrens zunächst eine Duldung bis Ende Oktober bekommen. Sie und ihre Tochter sind nun aufgefordert, nachzuweisen, dass Goldenberg ihren Lebensunterhalt und die Krankenversicherung aus eigenen Mitteln bestreiten kann. Lena Kernerman hat bisher keine Krankenkasse gefunden, die ihre Mutter aufnehmen würde, die privaten hätten nicht mal geantwortet. „Dabei braucht es eine Ablehnung, damit das Sozialamt vielleicht doch der Aufnahme in eine gesetzliche Kasse zustimmt“, sagt sie. Anwalt Nawaz ist zuversichtlich, dass dies durch ihre Rente aus Israel und die finanziellen Zusagen von Kernerman und ihrem Ex-Partner möglich sein wird – und dass das Gericht damit auch dem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zustimmt.
Doch er kennt und versteht auch die Sorgen seiner Mandantin und ihrer Tochter. „Dass ihre kranke Mutter das Land verlassen soll, obwohl sie ja gar nicht vom Staat leben will, das hat ihr sehr zugesetzt“, sagt er. „Solche Schreiben, wenn die in der Welt sind, die stressen“, sagt Nawaz. „Und die Ausländerbehörden nehmen diesen Stress nicht weg.“
Er habe zahllose Fälle, in denen er Menschen vertrete, die für ihre Arbeit oder ihre Wohnung eine Bescheinigung von einer Ausländerbehörde bräuchten – und ewig darauf warten müssten, erzählt er. „In meiner Arbeit sehe ich, dass es bundesweit in nahezu jeder Ausländerbehörde diese Probleme gibt.“ Nawaz findet: „Sie spielen mit der Zukunft der Menschen. Und sie spielen mit der Zukunft des Landes.“
Kritik aus der Politik
Auch aus der Politik gibt es Kritik an der Behörde. „Das LEA ist seit mehr als zwei Jahren nicht mehr funktionsfähig“, sagt Jian Omar, Sprecher für Migration, Partizipation und Flucht der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. „Der Leiter der Ausländerbehörde hat uns immer wieder im Innenausschuss berichtet, dass es keine Termine gibt und das LEA faktisch nicht erreichbar ist“, sagt er. „Erst in diesem Jahr hieß es, dass es im Vergleich besser geworden sei und der Terminstau abgenommen habe.“
Trotz dieser Rahmenbedingungen findet es Omar „absurd und skandalös“, dass die Behörde einer 83-jährigen israelischen Staatsbürgerin und Holocaust-Überlebenden einen Bescheid mit Abschiebeandrohung schicke. Die Länder hätten schließlich große Spielräume darin, wie sie Aufenthaltsrecht auslegten.
„Gerade in solchen Fällen, wo wir in Deutschland eine besondere Verantwortung haben, erwarte ich mehr Sensibilität“, sagt der Grünenpolitiker. Wenn die Behörde sich ausführlich mit dem Fall befasst hätte, hätte sie aus seiner Sicht zu einem anderen Ergebnis kommen müssen. „Erst vor ein paar Tagen sind sogar Bomben auf den zentralen Flughafen von Israel gefallen“, sagt er. „Es muss klar sein, dass das ein Land im Krieg ist, in das eine 83-Jährige nicht abgeschoben werden darf.“
Das LEA sei damit von seinem eigenen Anspruch, eine Willkommensbehörde zu sein, weit entfernt. „Eine Einwanderungsbehörde sehe ich in der Verantwortung, auch zu beraten. Und wenn ein Paragraf nicht passt, dann wäre es folgerichtig, darauf hinzuweisen, welche anderen Möglichkeiten der Antragstellerin offenstehen oder welche Unterlagen sie nachreichen muss, bevor sie so eine Ablehnung aussprechen“, so Omar.
Behörde reagiert
Auch beim Landesamt für Einwanderung hakt die taz nach. Zu Einzelfallentscheidungen könne man sich „aus grundsätzlichen Erwägungen heraus“ nicht äußern, teilt ein Sprecher auf Nachfrage mit. Bearbeitungszeiten würden statistisch nicht erfasst, schreibt er auf die Frage nach der durchschnittlichen Dauer, die das LEA braucht, um Anträge zu bearbeiten. Nachfragen könnten über das Kontaktformular auf der Webseite gestellt werden. Der Sprecher teilt allgemein mit, dass für Antragssteller*innen aus dem besagten Personenkreis „in begründeten Fällen“ auch eine Aufenthaltsbewilligung nach einem anderen Paragraf oder über die Härtefallkommission in Betracht komme.
Und am selben Tag, an dem das LEA der taz antwortet, bekommt auch Lena Kernerman eine Mail. Man habe sich ihren Fall noch mal angesehen. Die Mutter – oder sie in Vertretung – solle am 15. Mai zu einem Termin kommen, die Behörde stellt einen Aufenthalt für fünf Jahre in Aussicht.
Der Anwalt sagt, dies sei „rechtlich ungewöhnlich“. „Ich hoffe, dass wir dann alles klären können“, sagt Kernerman. „Meine Mutter hat drei Tage später Geburtstag – das wäre ein schönes Geschenk.“
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