: Die Schande des Sauerlands
Merz weiß nichts über Ausgrenzung, Migration oder soziale Kämpfe, aber er hält sich für geeignet, darüber zu urteilen. Und genau dafür wollte ihn die gesellschaftliche Mitte. Doch das Risiko war ihr dabei nicht bewusst
Von Atessa Bucalovic
Der ganze Stolz des Sauerlands. Das hab ich schon vor Jahren über Friedrich Merz gesagt. Das ist offensichtlich extrem ironisch gemeint. Politisch stehe ich weit links, und die Ideale von Merz und mir könnten sich kaum extremer unterscheiden.
Mein Urgroßvater Mehmed Nuhić war Bürgermeister einer kleinen Stadt im ehemaligen Jugoslawien. Zur selben Zeit war Friedrich Merz’ Großvater Josef Paul Sauvigny Bürgermeister von Brilon – und Mitglied der NSDAP.
Ich will ja nichts sagen, aber – eigentlich schon. Unsere Lebensrealität könnte nicht unterschiedlicher sein. Friedrich Merz hat keine Ahnung, wie es ist, als Kind von Migrant:innen in einem so konservativen Umfeld aufzuwachsen.
Er weiß nicht, wie Menschen leben, die nicht so viel haben wie er. Und wenn doch, dann sind sie selbst daran schuld. Er weiß nicht, dass Macht Menschen auffressen kann, sonst würde er sie nicht um jeden Preis suchen.
Doch eines haben wir gemeinsam: Wir kommen beide aus dem Sauerland. Er ist in Brilon geboren, ich in Arnsberg, wo er heute noch lebt, wenn er nicht gerade mit seinem Privatjet die Luft verpestet und die halbe Republik mit seinem Größenwahn belästigt. Ich sage hier „die halbe“, weil sich die andere Hälfte tatsächlich damit zu identifizieren scheint.
In Arnsberg konnte man bei der Bundestagswahl Merz als Direktkandidaten wählen. Im Wahlkreis 146, Hochsauerlandkreis, gewann er die Mehrheit der Erststimmen mit 47,7 Prozent. Die zweitmeisten Erststimmen bekam Dirk Wiese (SPD) mit 21,4 Prozent, der Kandidat der AfD Bernhard Bühner kam auf 15,9 Prozent.
Das könnte die Frage aufwerfen: Was macht das mit einem? Grundsätzlich könnte es mir egal sein, ich wohne eh nicht mehr da. Arnsberg war schon, seit ich denken kann, eine CDU-Hochburg – einer der Gründe, warum ich dieser Stadt mit 19 den Rücken gekehrt habe.
Die Konservativität triefte durch meinen ganzen Alltag. Lehrer:innen, die meinen Namen lasen und dachten, ich wäre dumm, um mich die nächsten Wochen immer weiter zu testen, um irgendwann zu denken: Oh, doch nicht dumm; carry on.
Oder mit 15 von einem Lehrer gefragt zu werden, ob ich jemandem versprochen sei.
Oder als „Vorzeigeausländer“ behandelt zu werden. Damals war ich stolz darauf, „eine von den Guten“ zu sein. Heute nicht mehr. Heute widert es mich an. So, wie Friedrich Merz mich anwidert.
Deshalb war ich auch umso mehr erstaunt, als mein Vater mir vor einiger Zeit mitteilte, dass in Arnsberg seit 2018 ein SPD-Bürgermeister regiert. Für Arnsberg ist das ungefähr so, als würde die Linke regieren. Nicht umsonst taufte ein hier nicht weiter benanntes Familienmitglied es liebevoll „Das Arschloch von Europa“.
Vor einigen Jahren hatte die AfD ihr Büro mitten in der Arnsberger Innenstadt. Irgendwann musste sie umziehen, nachdem es immer und immer wieder demoliert worden war. Ich war noch nie so stolz auf Arnsberg wie in diesem Moment. Doch das ist lange her. Ich habe dieser Stadt viele Dinge niemals verziehen.
Aber dass so viele Bewohner:innen dieser Stadt diesen machtgierigen, misogynen und menschenfeindlichen Typ wählen, zeigt mir, dass ich mir ihre fremdenfeindliche Atmosphäre niemals eingebildet habe. Sie war schon immer da – nur lange besser versteckt.
Kein Wunder, wenn die halbe Stadt von Rentner:innen regiert wird. In Arnsberg gab es schon immer mehr Seniorenheime und Geschäfte für Hörgeräte als Schulen. Die Alten bestimmen, wie es weitergeht.
Dass Merz 1997 gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe stimmte – egal. Dass er arabische Jungs abwertend „Paschas“ nennt – egal. Dass er mit der AfD zusammengearbeitet hat, nur um seine Agenda durchzukriegen – egal.
Dass er Geflüchtete nicht als Menschen bezeichnet, sondern als „die“ – egal. Dass er den rechtsterroristischen Anschlag von Hanau als Motiv nimmt, um Rechtsradikalismus mit der „Clankriminalität“ und der „Thematisierung“ von Grenzkontrollen lösen zu wollen – egal.
Es ist euch egal, weil es euch nicht betrifft. Doch irgendwann wird er auch euch an den Kragen gehen. Und dann wird es zu spät sein. 1933 kamen die Nazis nicht nur mit Unterstützung von anderen Nazis an die Macht, sondern deswegen, weil die anderen nicht genug dagegen gekämpft haben. Kämpfen ist bitter nötig, damit sich das Schlimmste nicht wiederholt.
Wenn Merz nicht aus den Fehlern seines Opas gelernt hat, sollten zumindest wir unsere Lektion gelernt haben und wissen, was jetzt zu tun ist. Ich befürchte, dass ich wieder enttäuscht werde. Die Brandmauer war nie eine Mauer, nur ein Zaun aus morschem Holz.
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