: Das Haus auf dem Rücken
Die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbringt Delal Atmaca als Halbnomadin in den anatolischen Bergen – bis ihre Mutter und die Kinder zum Vater nach Deutschland ziehen. Über die zwei Leben einer Frau
Von Marietta Meier (Text) und Miriam Klingl (Fotos)
Zu wissen, dass ein Lebensweg immer auch anders sein könnte, macht Menschen stark. So wie Delal Atmaca.
Draußen: Das fünfstöckige Gründerzeithaus mit grauer Fassade und roten Fensterrahmen befindet sich in einer Seitenstraße in Berlin-Kreuzberg zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Park. Um die Ecke gibt es eine große Moschee, einen Bioladen, Cafés und Kneipen. Direkt gegenüber ist die Grundschule, die Delal Atmaca und ihre Geschwister besucht haben. Zur Mittagszeit spielen Kinder auf dem Hof, man hört sie toben und kreischen.
Drinnen: Die lichtdurchflutete Altbauwohnung hat hohe Decken. Eine Schale Erdbeeren steht auf dem Esstisch neben einem Blutdruckmessgerät und mehreren Blumensträußen. Die Mutter hatte Geburtstag. Es ist immer noch dieselbe Wohnung, die die Familie bezog, als sie vor bald 50 Jahren aus der Türkei hierher kam. An den Wänden hängen Fotos. Dafür, dass die Familie bereits so lange hier wohnt, wirkt die Einrichtung minimalistisch. „Mutter sagt, das Haus einer Frau muss auf ihren Rücken passen“, sagt Delal Atmaca.
Halbnomadisch: Bis sie zehn Jahre alt war, lebte Atmaca mit ihrer Mutter Besra und ihren sechs Geschwistern halbnomadisch im Osten der Türkei. Den Sommer verbrachte die Familie in den Bergen, zog mit Schafen und Ziegen umher. Die Wintermonate über lebten sie im Tal. Wann genau Atmaca geboren wurde, kann sie nicht sagen. „Auf dem Papier war es 1967.“ In ihrem Dorf Mırseyid in Ostanatolien zählen nicht Jahreszahlen, sondern Jahreszeiten, „es war Herbst“. Ihre Eltern stammen aus demselben Dorf und mussten, so war es bestimmt, heiraten. „Sie waren nie glücklich miteinander.“ Ihrem Vater war das Dorf zu eng, er wollte raus in die Welt. Ein „Freigeist“ sei er gewesen, sagt Delal Atmaca.
Deutschland: Zusammen mit seinem Zwillingsbruder geht Atmacas Vater als Gastarbeiter nach Deutschland. Über München nach Berlin. Er arbeitet auf dem Bau und schickt Geld in die Türkei, damit die Familie Lebensmittel und Tiere kaufen kann. Alle zwei Jahre kommt er für drei Wochen zu Besuch. Ihre Mutter Besra kümmert sich um Delal und ihre sechs Geschwister. Als Bäuerin hütet sie eine Herde von 75 Tieren. „Manchmal nahm sie eine Tagesreise auf sich, um in der nächstgelegenen Stadt Erzurum Lebensmittel zu tauschen.“ Sie sei eine „starke Frau“.
Aufbruch: Als der Vater 1976 in die Türkei zurückkehrt, zieht er mit der Familie nach Ankara. Die Herde verkaufen sie. Er hält es in der Türkei aber nicht aus. Nach nur fünfeinhalb Monaten geht er zurück nach Deutschland, weil er sonst seinen Aufenthaltsstatus verloren hätte. Das wollte er nicht. „Wir waren stinksauer“, sagt Atmaca. Zwei Jahre lebt sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Ankara, die Zeit sei „furchtbar“ gewesen. Da war die ständige Angst, als alevitische Kurden der Zaza-Minderheit in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft aufzufliegen. „Ich ging einmal mit Fieber in die Schule, weil ich nicht wollte, dass Mitschülerinnen zu uns nach Hause kommen und herausfinden, dass meine Mutter kein Türkisch spricht“, sagt Delal Atmaca. Als der Vater ein Jahr später zu Besuch kommt, stellt die Familie ihm ein Ultimatum: „Entweder du bleibst, oder du nimmst uns mit.“
Enge: Im Februar 1978 zieht die Familie nach Berlin. Das paradiesische Bild, das Delal Atmaca von Deutschland hatte, zerbricht. „Alles war grau und matschig, es war einfach scheiße.“ Zu neunt wohnen sie in der Zweizimmerwohnung in Kreuzberg. Nach dem Einzug lässt Besra die Wohnungstür offen, damit die neuen Nachbarn auf einen Çay vorbeikommen können. Keiner kommt. „Nach einem halben Jahr schloss sie die Tür.“ Stattdessen rufen die Nachbarn einmal die Woche wegen Lärmbelästigung die Polizei. „Es war auch laut, wir waren eben sieben Kinder in einer Wohnung.“
Selbstständig: Als junge Frau sei die Mutter rebellisch gewesen, sei zu Hause ausgezogen und baute für sich und ihre Kinder alleine eine kleine Hütte. Dann der Umzug nach Deutschland – „auf einmal kommt sie hierher und ist nicht mehr selbstständig“. Der Vater verdient auf dem Bau das Geld und sie kümmert sich um die Kinder und den Haushalt. Die Mutter sagt etwas auf Kurdisch, Delal Atmaca übersetzt. „Sie sagt, sie bereue, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgegangen sei.“ Bis heute ist sie Analphabetin. Behördengänge, Arztbesuche – bei all dem müssen die Kinder übersetzen. Delal bringt ihr irgendwann bei, ihren Namen zu schreiben, „da war sie stolz wie Bolle“.
Sehnsucht: Viele Jahre wünscht sich Delal Atmaca zurück an die Orte ihrer Kindheit. „Ich war dort so frei.“ Im Haus sei man nur zum Schlafen gewesen. „Wir sind die Berge heruntergerannt, haben Grünzeug gesammelt und im Winter sind wir Schlitten gefahren.“ Atmaca hat ein Leuchten in den Augen, wenn sie davon spricht. „Wir haben den Himmel bestaunt und wie viele Sterne da sind – diese Unendlichkeit ist für mich das Sinnbild von Freiheit.“
Getrennt: In der Grundschule in Berlin kommt Delal Atmaca in die „Vorbereitungsklasse für Hilfsarbeiterkinder“. Der Unterricht ist auf Türkisch. Danach wird die ganze Klasse auf die Hauptschule gesteckt – auch sie, trotz exzellenter Noten. Nach dem Schulabschluss will ihre Familie, dass sie heiratet. „Aber das wollte ich nicht.“ Ihr Schulrektor erkennt ihr Potenzial und schreibt eine Gymnasialempfehlung für sie. Auf der Oberschule muss sie büffeln, um die Defizite aus der Zeit in den „Vorbereitungsklassen“ aufzuholen. Und noch etwas ist anders: „Ab der Oberschule war ich zum ersten Mal mit Deutschen in einer Klasse.“
Widerstand: In ihrer Familie hat Atmaca nicht die gleichen Rechte wie ihre Brüder, und in der Schule wird sie von Lehrern rassistisch schikaniert. Einmal wirft ein Mitschüler eine Milchpackung auf den Boden. „Ein Lehrer kam zu mir und hat mich gezwungen, vor allen auf die Knie zu gehen und das aufzuwischen. Da war diese ständige Ungerechtigkeit.“ Als sie 14 ist, wird eine Freundin von deren Bruder ermordet – für Atmaca ein Schock und ein weiterer früher Moment der Politisierung. Als Schülersprecherin setzt sie sich deshalb für die Rechte von Mädchen ein, später verteilt sie Flugblätter für die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“.
Gerechtigkeit: Nach dem Abitur will Delal Atmaca für Gerechtigkeit kämpfen und entscheidet sich für ein Jurastudium. „Ich wollte die Menschenrechtsaktivistin überhaupt werden.“ Doch sie wird enttäuscht. In einem Praktikum beim Gericht geht es ihr zu wenig um Menschenrechte und zu viel um Nachbarschaftsstreitereien. Sie wechselt zum Fach Kooperationsökonomik, geht ins hessische Marburg und beschäftigt sich mit solidarischer Ökonomie jenseits von Konkurrenz und Planwirtschaft. An der Universität erlebt sie Zusammenhalt und Gemeinschaft, auch der Studiengang ist international. Später promoviert Delal Atmaca über handwerkliche Genossenschaften aus DDR-Zeiten, die die Wende überlebt haben.
Zuhause: Seit zehn Jahren lebt Atmaca in Halle an der Saale, wo sie für ihren damaligen Partner und einen Lehrauftrag an der Uni hinzog. Jede Woche ist sie für ein paar Nächte in der Kreuzberger Wohnung, um ihre fast 90-jährige Mutter zu pflegen. Die lebt seit dem Tod ihres Mannes vor sechs Jahren allein. „Niemand hätte gedacht, dass sie so lange in Deutschland bleiben würde“, sagt Delal Atmaca. Für eine Rückkehr ins Dorf sei es jetzt zu spät. Vor 13 Jahren besuchte Atmaca mit ihrer Tochter und ihrem damaligen Ehemann ihr Heimatdorf. „Auf einmal war es mir dort viel zu eng.“ Ihr Zuhause sei Kreuzberg. „Wenn ich hierherkomme und ins Bett gehe, schlafe ich sofort ein.“
Gemeinschaft: Eine Viertelstunde zu Fuß entfernt liegt die alevitische Gemeinde Kreuzberg „Cemevi“. Atmaca bezeichnet sich als Atheistin, das Alevitentum ist für sie „Naturreligion und Lebensphilosophie“. In der Gemeinde genießt sie das Beisammensein, das ohne starre Regeln und Gebote auskommt. Nach dem Tod ihres Vaters haben sie und ihre 16-jährige Tochter dort rituell „Wasser über seinen Kopf gegossen“, um Abschied zu nehmen.
Unsicherheit: Für Delal Atmaca war der Kampf um Selbstbestimmung prägend – doch in den vergangenen Jahren hat sie Übergriffe erlebt und fühlt sich häufig nicht mehr sicher. „Die Stimmung hat sich gewandelt.“ Sie habe keine Angst vor Deutschen, aber „vor Rassisten und Menschen, die in Schubladen denken“. 2014 hat sie den Dachverband der Migrantinnenorganisationen mitbegründet, „ohne den wir als Migrant*innen heute nicht da wären, wo wir sind“. Sie ist die Geschäftsführerin. In einer Welt voller Widerstände schöpft sie ihre Kraft aus Bewegung.
Utopien: Ihre Pläne für die kommenden Jahre sind politisch. Sie wünscht sich eine emanzipatorische Akademie, in der über demokratische Werte und eine feministische Gesellschaft nachgedacht wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen