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Mentale GesundheitChronische Ignoranz

Klaudia Lagozinski
Kommentar von Klaudia Lagozinski

Psychische Erkankungen verursachen immer mehr Fehltage. Kein Wunder, denn die Politik nimmt mentale Gesundheit schon lange nicht ernst genug.

Psychisch Erkrankte müssen meist viele Monate auf einen Thearpieplatz warten. In der Zeit können sie meist nicht arbeiten Foto: Julian Stratenschulte/dpa

K rankschreibungen wegen Depressionen haben laut der Krankenkasse DAK-Gesundheit im vergangenen Jahr rund 50 Prozent mehr Fehltage verursacht als 2023. Wieso wird zu diesem Thema in der Politik dennoch fast nur geschwiegen?

Während die CDU ein höheres Rentenalter fordert und die Wirtschaftsweisen sich für die Streichung von Feiertagen aussprechen, werden die haarsträubenden Mängel in der Versorgung einfach hingenommen. Wieso fragt sich kaum jemand, ob ein späteres Rentenalter überhaupt nötig wäre, wenn die Menschen schneller gesund würden?

Zu oft müssen psychisch Erkrankte Monate auf einen Therapieplatz warten, weil die Praxen am Limit sind. In dieser Zeit sind sie entweder krankgeschrieben oder nicht voll arbeitsfähig. Wie viele Fehltage würden sich vermeiden lassen, wenn diese Menschen schneller Hilfe erhalten würden? Wenn sie nicht bei etlichen Therapeuten durchklingeln müssten, bis endlich einer sagt: „Wir haben einen Termin für Sie.“

Forscher der Universität Maastricht bestätigten im Jahr 2023, dass es sich negativ auf den Therapieerfolg auswirkt, wenn Betroffene lange auf ihre Behandlung warten müssen. Die aktuelle Situation führt zu einem Lose-Lose: Die Kranken fallen länger aus. Die Arbeitgeber klagen über Fehlzeiten. Die Politik kontert damit, Zeit freizuschaufeln, statt dafür zu sorgen, dass es den Kranken besser geht. Und damit lastet auf den Kranken noch mehr Druck.

Corona hat die psychische Probleme vergrößert

Der Wirtschaft wäre geholfen, wenn die Politik das Thema mentale Gesundheit ernster nehmen würde. Es verschwindet nicht, wenn man es nur lange genug ignoriert. Statt die Leute zu mehr Jahren Arbeit zu drängen, sollten Probleme an den Wurzeln behandelt werden.

Eine Wurzel, die im politischen Diskurs immer wieder untergeht, ist die psychische Verfassung der Bevölkerung, die sich insbesondere nach der Coronapandemie verschlechtert hat. Wenn schon junge Menschen monatelang auf Hilfe warten müssen, braucht sich keiner zu wundern, dass immer öfter Arbeitskräfte fehlen, weil sie psychisch am Ende sind.

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Klaudia Lagozinski
Nachrichtenchefin & CvD
Immer unterwegs. Schreibt meistens über Kultur, Reisen, Wirtschaft und Skandinavien. Meistens auf Deutsch, manchmal auf Englisch und Schwedisch. Seit 2020 bei der taz. Master in Kulturjournalismus, in Berlin und Uppsala studiert. IJP (2023) bei Dagens ETC in Stockholm.
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14 Kommentare

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  • "Statt die Leute zu mehr Jahren Arbeit zu drängen, sollten Probleme an den Wurzeln behandelt werden." Die Gesellschaft befindet sich schon lange in einer Sinnkrise, deren Gründe vielschichtig sind. Die Politik hat maßgeblichen Anteil an dieser Krise, aber auch die Kirchen. Beide sollten Sinnstifter und nicht Sinn-Zerstörer sein.

  • Wenn man nicht innerhalb einer kurzen Zeit einen Therapieplatz bekommt, hat man Anspruch darauf, von einer nicht kassenzugelassenen Therapeutin oder Therapeuten behandelt zu werden. Man muss nachweisen, dass man sich bemüht hat - was leider wirklich leicht ist.



    Ich finde es schade, dass dieser Weg in diesem Kommentar nicht aufgezeigt wird. Geht es dann auch hier nicht ums Helfen, sondern um Clicks?



    Es wäre dann auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass immer mehr Therapeuten und Therapeutinnen, die eigentlich für gesetzliche Kassen zugelassen sind, nur noch privat abrechnen, also noch mehr ausfallen. Die Arbeitsbedingungen müsste man sich dann auch ansehen.



    Was Jan Brüning schreibt, finde ich ziemlich zynisch und trifft die Situation nach meinen Erfahrungen ganz und gar nicht.

    • @Dreja:

      Liebe Dreja, danke für die Rückmeldung. Ja, nach vielen Jahren im Beruf stellt sich eine gewisse Ernüchterung aber auch ein gewisser Pragmatismus ein. Worauf bezieht sich denn Ihre Erfahrung? Arbeiten Sie auch mit psychisch Kranken? Meine Erfahrung bezieht sich auf ein Angebot für Menschen, die in schwerer Not sind oder manchmal auch nur eine Empfehlung oder einen Rat brauchen. Und bei den Psychotherapeuten ist es wie in den Notaufnahme, Es kommen zu einem erheblichen Anteil Anfragen, die woanders hin gehören. Z.B. in die Familie, zur Beratungsstelle oder auch tatsächlich einfach in ein normales Leben. Viele machen sich Gedanken, warum auf allen Ebenen Mangel in der Versorgung herrscht. Auch Aufmerksamkeit ist eine kostbare Ressource. Sorgen und Probleme sollte man doch als erstes den Menschen mitteilen, die einen kennen. Warum muss man dafür zum Therapeuten? Warum wollen und brauchen andere Kulturen solche Angebote fast gar nicht? Der Podcast klärt über die Nöte und Irrwege eines überlasteten Systems auf, non-profit. Ich empfehle alternativ das Buch "Die Depressions-Falle" von Thorsten Padberg. Ihnen alles Gute.

    • @Dreja:

      Das ist Unsinn. Meine Frau ist Psychotherapeutin mit Kassensitz. Sie behandelt gar keine Privatpatienten mehr, weil der Aufwand viel höher ist als bei der Abrechnung über die gesetzlichen Kassen. Das ist ein Unterschied zu den Ärzten.

  • Ich bin niedergelassener Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ich gebe schwer Betroffenen meist sofort einen Therapieplatz und . Ich sehe in der aktuellen Situation kein Problem im Mangel an Therapieplätzen, sondern von falschem therapeutischen Vorgehen und einer sehr verschobenen Grenze, wann jemand als psychisch krank gilt. In den letzten Jahren erlebe ich ärgerliche Patient:innen, wenn ich gute psychische Gesundheit bescheinigen und das Erklärungsmodell "psychische Krankheit" als etwas was Menschen anstreben, statt Eigenverantwortung. Wir brauchen eine andere Kultur in der Gesellschaft, mit Emotionen umzugehen und ein anderes Bewusstsein des Miteinanders, auch auf Seiten der Behandelnden. Mehr dazu gibt es im Podcast "Patientin Psychiatrie" open.spotify.com/s...5yyWR6K5Svn0VIyE4Q (auch bei Amazon music oder Audible).



    Jan Brüning gen. Brinkmann, Bielefeld

    • @Jan Brüning - Brinkmann:

      Ich hoffe inständig, dass dieser Kommentar nicht dazu führt, dass Personen, die dringend psychotherapeutische Unterstützung brauchen, diese nicht suchen, aus Angst nicht ernst genommen zu werden.

  • Die Politik ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aus eigener Erfahrung habe ich gelernt, dass Mitmenschen bei Autismus, Depressionen, Suizidgefährdung oder PTBS bestenfalls dumme Sprüche auf Lager haben (lach doch mal wieder) oder dich gleich komplett in die Schublade mit dem Label "abnormal" stopfen. Nicht von ungefähr bauen Menschen wie ich nach außen eine Fassade auf. Es ist ja schon schwer genug, bei physischen Problemen Termine bei Fachärzten zu kriegen, außer man ist gut betucht oder privat versichert, aber bei psychischen und mentalen Problemen klafft die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage noch weiter auf. Man wird schlicht alleingelassen. Und nein, da wird sich nichts ändern. Die einen sehen nur ihren Profit und die anderen klammern sich an ihre Normalität und wollen nicht belästigt werden.

    • @Minelle:

      "Soll sich halt nicht so anstellen." Bis zur Diagnose ist man eine faule Sau, danach pathologisiert als nicht tauglich für den ersten Arbeitsmarkt. So oder so ist die Fassade die beste Wahl, nur glücklich/stressfrei wird man so nie. Mit etwas Empathie wäre klar, dass alle diese Störungen kein permanenter Zustand sein müssen, nur mit ein bisschen Verhaltenstherapie nach einem Jahr Wartezeit, droht das Fassade spielen bis ans Lebensende - oder bis zur Eskalation.

  • "Kein Wunder, denn die Politik nimmt mentale Gesundheit schon lange nicht ernst genug." Das hat umgekehrt auch seine Berechtigung. Oder anders gefragt, sollten wir Politik ernst nehmen bei dem derzeitigen mentalen Zustand?

  • Bei rbb24.de



    "Das junge Erwachsenenalter um die 30 Jahre ist ein großer Risikobereich für Einsamkeit"



    Einsamkeit ist nicht nur ein weitverbreitetes Phänomen, das krank macht. Es trifft häufig auch schon 30-Jährige. Weitere Risikofaktoren: Alleinleben in Städten und sprachliche und kulturelle Hürden, sagt der Berliner Psychiater Mazda Adli."



    Die gesamtgesellschaftlichen Dimensionen sind vielleicht in den großen Zusammenhängen doch eher besorgniserregend.



    Eine chronisch durch Stressfaktoren überforderte Gesellschaft ohne Resilienz-Reserve ist wahrscheinlich ziemlich unattraktiv und fortlaufend krisenanfällig.



    Bei spiegel.de 2023



    "Bin ich borniert, wenn ich keine Nachrichten mehr lesen, hören oder sehen will?



    Die Weltlage ist purer Horror – zumindest oft, wenn es nach der SPIEGEL-Website geht. Irgendwann reicht’s mit Krieg, Dürren und Missbrauch. Sich einfach nicht mehr informieren, das würde entlasten und keinem groß schaden. Oder?"



    Ich habe differenzierte Menschen gesprochen, die sich selbst eine "Entziehungskur" bei Medienkonsum wegen d. negativen Wirkung von Nachrichten verordnet haben.



    Sie konnten das nicht nur gut begründen, sondern waren offensichtlich m. d. Ergebnis zufrieden.

  • In dem Zuge wäre es auch essentiell, die Weiterbildung zu:r Psychotherapeut:in endlich auf eine vernünftige Finanzierungsgrundlage zu stellen. Aktuell gibt es KEINE Weiterbildungsplätze für klinische Psycholog:innen, die ihr Studium abgeschlossen haben.

    Weil der Bundestag seine Hausaufgaben seit 2019 nicht macht, um das Gesetz für die neue Psychotherapeutenausbildung nachzubessern. Da steht drin, die Psychologen müssen während der Weiterbildung vernünftig bezahlt werden. Aber nicht drin, wer das bezahlen soll.

    Bei Medizinern zahlen die Krankenkassen die Facharztweiterbildung - warum nicht bei Psychotherapeut:innen? Sie werden doch dringend benötigt!

  • Nicht zu vergessen, dass auch der Ableismus in unserer Gesellschaft diesen Betroffenen noch weiter mehr belastet, sei es auf der sozialökonomischen oder gesundheitlichen Ebene. Daraus ergeben sich unter anderem dann noch mehr Krankheitstage.

  • Und welche Lösungen schlagen Sie vor? Mehr Praxen eröffnen, die dann unter Fachkräftemangel klagen oder etwas zynisch gesagt: am hohen Krankenstand?

    • @Jutta57:

      Ja, mehr Praxen eröffnen. Und in der Ausbildung von Therapeuten gibt es so einige unnötige, deren Abschaffung sicher auch etwas gegen den Fachkräftemangel hilft (siehe etwa der Kommentar von la suegra).

      Und außerdem: Vorsorge (zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen durch die Hausärzte). Stigmatisierung bekämpfen. Den Weg zum Psychotherapeuten einfacher gestalten (glauben Sie mir, mit Depressionen und sozialen Ängsten ist es nicht leicht dutzende Therpeuten durchzutelefonieren bis man mal bei einem überhaupt ein Erstgespräch bekommt -und von Behandlung ist man dann oft noch Monate entfernt).

      Wir haben eine Situation, in der viele psychisch kranke Menschen ihre Erkrankung jahrelang mit sich herumtragen, bis es zum völligen Zusammenbruch kommt. Und auf die Art kommt man dann zu einem Punkt, wo an einer mehrmonatigen Krankschreibung, stationärem Klinikaufenthalt, oder ähnlichen intensiven und teuren Maßnahmen, nicht mehr vorbei kommt.

      Bei körperlichen Erkrankungen hat sich doch nun schon lange etabliert, dass Vorsorge und frühzeitige Behandlung besser und billiger sind. Bei psychischen Erkrankungen ist das offenbar noch nicht so ganz angekommen.