Proteste in Serbien: Auf die EU kann Serbiens Opposition lange warten
Die Studierenden lassen das System Vučić zwar ins Leere laufen. Aber ob sie am Ende damit Erfolg haben, ist offen.
H underttausende demonstrieren in Serbien für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – einer der größten Proteste in der Geschichte des Landes. Mit Kreativität, Humor und unermüdlicher Ausdauer fordern die Studierenden eine autokratische Herrschaft heraus. Sie haben eine dezentrale, basisdemokratische Bewegung geschaffen, in der Entscheidungen kollektiv getroffen werden. Die Bevölkerung steht hinter ihnen: Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation CRTA unterstützen 80 Prozent der Serbinnen und Serben ihre Forderungen. Die Regierung kann die Bewegung nicht kontrollieren. Die Studierenden kümmern sich nicht um die Lügen der regierungsnahen Medien, sondern schaffen ihre eigenen Erzählungen, Memes, Symbole. Sie haben keine zentralen Anführer, die als Angriffsfläche dienen könnten – eine Taktik, die Vučićs System ins Leere laufen lässt.
Die Reaktionen der Regierung wirken immer verzweifelter. So ließ sie Hunderte Traktoren ins Regierungsviertel fahren, um Bauernproteste für Vučić vorzutäuschen. Doch während sich bei den echten Demonstrationen täglich Bauern solidarisieren, waren bei den Pro-Vučić-Traktoren keine Landwirte zu sehen. Die Studierenden fordern nicht einmal explizit Vučićs Rücktritt – sie erkennen seine Autorität gar nicht erst an. Sie wollen funktionierende Institutionen und Rechtsstaatlichkeit. Dass das mit Vučić nicht zu haben ist, versteht sich für die meisten von selbst. Die Frage, die sich jetzt stellt: was nun?
Serbien ist keine Demokratie, in der faire und freie Neuwahlen ausgerufen werden könnten. Vučić regiert am Parlament vorbei, kontrolliert Medien und Justiz, bekämpft die Opposition mit kriminellen Mitteln. Bei den letzten Wahlen gab es laut internationalen Wahlbeobachtern massive Unregelmäßigkeiten. Freie und faire Wahlen bräuchten demokratische Rahmenbedingungen. Dafür müsste eine Übergangsregierung her, doch Vučić weigert sich.
Gleichzeitig fehlt der internationale Druck. Statt Kritik zu äußern, hofierten europäische Politiker Vučić: Olaf Scholz sicherte sich Lithium für die deutsche Autoindustrie, Emmanuel Macron verkaufte Kampfjets, Ursula von der Leyen lobte Serbiens EU-Kurs, und Markus Söder nahm einen Orden aus Vučićs Hand entgegen. Auch Vučićs Serbische Fortschrittspartei (SNS) bleibt Teil der politischen Familie von CDU und CSU. Angesichts dieses Rückenwinds für das System Vučić überrascht es nicht, dass bei den Protesten keine EU-Flaggen zu sehen sind.
Vučić hat in den vergangenen Monaten viel Rückhalt verloren. Die Frage ist, ob er die Proteste aussitzen kann – oder ob am Ende doch die Studierenden den längeren Atem haben. Vučić wankt.
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