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Sie wollen gerüstet sein

In Estland bereiten sich Frauen in einem Freiwilligenverband auf eine mögliche Invasion Russlands vor. Wie trainiert man für einen Krieg, der vielleicht nie kommt?

Frauen der Naiskodukaitse marschieren auf der Militärparade zum Estnischen Unabhängigkeitstag am 24. Februar 2025 Foto: Silver Jaanson

Aus Tallinn, Tartu und Pärnu Juli Schulz

Distrikt Tartu,550 Mitglieder

„Runter! Auf den Boden! Haltet die Schnauze!“: zwei dunkel gekleidete Frauen mit schwarzen Sturmhauben stürmen in den Raum. Die rechte brüllt, die linke reißt die Arme hoch. Nur Augen und Mund sind durch die Löcher im schwarzen Stoff erkennbar. In den Händen halten sie Schlagstöcke. Sieben Frauen werfen sich von ihren Stühlen unter die Tische auf den Fußboden, bedecken mit ihren Händen ihre Köpfe. Es ist jetzt ganz still im Raum, bis die Linke brüllt: „Die Handys zu mir! Sofort!“ Die Frauen legen ihre Mobiltelefone vor sich auf den Boden und die, die eben noch gebrüllt hat, sammelt sie ein. Dabei verrutscht ihre Sturmhaube. Sie rückt sie zurecht. „Bleibt unten! Alle hierüber in die Mitte!“, befiehlt die andere Frau nun den unter den Tischen Kauernden, die sofort in die Mitte kriechen. Sie sehen jetzt aus wie ein menschliches Knäuel.

„Stopp! Danke, bis hierhin!“, unterbricht die Kursleiterin die Situation. Es war nur eine Übung. Die beiden Angreiferinnen nehmen ihre Sturmhauben ab, legen die Schlagstöcke weg. Das Knäuel auf dem Boden löst sich auf, die Frauen setzen sich zurück auf ihre Plätze. „Was habt ihr erlebt?“, fragt die Kursleiterin in den Raum.

Die Anstrengung der vergangenen Minuten ist ihnen anzumerken. Erst sammeln die Frauen sich selbst und dann auf einem Flipchart ihre Empfindungen: Kontrollverlust, Aggressivität, Enge, Lärm, Angst. Reale Empfindungen in einer inszenierten Situation. Nach einer kurzen Pause sammeln sie auf einem zweiten Flipchart Strategien für eine reale Geiselnahme: „Ruhig bleiben“ – „Anweisungen befolgen“ – „Umgebungsgeräusche wahrnehmen“.

An diesem Februarwochenende haben sich 23 Frauen auf dem Übungsgelände der estnischen Militärakademie in Tartu versammelt. Sie sind zwischen 20 und 55 Jahre alt und gekommen, um an einem Basistraining der Naiskodukaitse teilzunehmen. Die Naiskodukaitse ist eine Nebenorganisation der Kaitseliit, dem Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, übersetzt bedeutet ihr Name „Frauenverteidigung“.

Als reine Fraueneinheit wird die Naiskodukaitse ursprünglich 1927 nach finnischem Vorbild gegründet. Doch unter sowjetischer Besatzung werden viele ihrer Mitglieder nach Sibirien deportiert und die Organisation wird aufgelöst. Erst als Estland 1991 unabhängig wird, erfolgt die Neugründung. Ihre Mitglieder müssen volljährig sein und die estnische Staatsbürgerschaft besitzen. 46 Stunden Training im Jahr sind Pflicht.

Die Naiskodukaitse ist mit der Kait­seliit dem estnischen Verteidigungsministerium untergeordnet und wird auch von ihm mit 600.000 Euro jährlich finanziert. Im vergangenen Jahr erhielt die Kaitseliit insgesamt 54 Millionen Euro vom Ministerium. Dieses Jahr sind es 58 Millionen und 2026 werden es 60 Millionen Euro sein.

Die Kaitseliit soll sicherstellen, dass große Teile der Bevölkerung im Ernstfall verteidigungsbereit sind. 2024 zählt die estnische Armee 7.100 Sol­da­t:in­nen und ist damit eher klein. Dagegen hat der Freiwilligenverband 18.000 Mitglieder. Tritt der Ernstfall ein, untersteht sie mit der Naiskodukaitse der militärischen Leitung der estnischen Streitkräfte.

Distrikt Tallinn,689 Mitglieder

Den Willen zur Verteidigung, den hätten sie hier im Blut, so nah an Russland, sagt Elisa im Tallinner Hauptquartier der Kaitseliit. Deshalb komme man eben hierher in die Naiskodukaitse. Der gehört auch Elisa an. „Wir wollten uns selbst organisieren, nicht unter der Kontrolle der Männer stehen. Für Frauen ist das hier ein geschützter Ort, an dem sie ihren Zugang zum Militär entdecken können“, sagt Elisa. Sie hat dunkelblonde Locken und ein warmes Lachen, sieht nicht wie eine Soldatin aus. Aber wie sieht die schon aus?

„Die Ausbildung hier ist sehr praktisch“, sagt Elisa. „Das ist kein Töten per Power Point.“ Die Frauen müssen bereit sein, an ihre persönlichen Grenzen zu gehen. So sind zum Beispiel Schlafentzug oder das Tragen schwerer Lasten Bestandteile des Trainings. Manche der Übungen finden in Dunkelheit statt. Immer wieder setzen die Frauen sich auch mit moralischen Fragen auseinander. Mit Frontalunterricht, sagt Elisa, habe all das wenig zu tun.

Seit sechs Jahren arbeitet die Vierzigjährige hauptberuflich für die Naiskodukaitse als Entwicklungsbeauftragte und hat die App „Ole valmis!“ mitent­wickelt: „Mach dich bereit!“. Die App gibt Anweisungen für Krisensituationen. Ein Kapitel trägt die Überschrift „Verhalten in einem besetzten Gebiet“. Denn die Vergangenheit, glaubt man hier in Estland, könne schnell zur Gegenwart werden.

Wenn Elisa in die Vergangenheit schauen will, muss sie nur aus dem Fenster gucken. Aus einem der ­hinteren sieht sie das ­Vabamu. Das estnische Wort heißt auf Deutsch ­„Freiheit“. Es ist der Name des Okkupations­museums in Tallinn, das direkt neben dem Hauptquartier liegt. Das Museum beschäftigt sich mit der sow­jetischen und nazideutschen ­Besatzung ­Estlands.

Estland ist ein junges Land, seit nicht einmal 34 Jahren ist es wieder unabhängig. Immer wieder musste Estland Fremdherrschaften über sich ergehen lassen: Dänemark, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Schweden, Russland, Nazi­deutschland und wieder Russland. Die älteren Ein­woh­ne­r:in­nen haben länger in einem abhängigen als in einem unabhängigen Staat gelebt.

Fast 300 Kilometer Grenze zu Russland, Nato-Ostflanke, EU-Außengrenze – Estland hat eine geografische Schlüsselposition inne. Im gesamten Land leben 1,3 Millionen Menschen. Fast die Hälfte von ihnen in der Hauptstadt Tallinn. Außerhalb der Städte verlieren sich die Dörfer zwischen den Wiesen und Wäldern, und die asphaltierten Straßen werden zu Schotterwegen. Staatliche Verteidigungsstrategien treffen hier auf ein großes, inneres Anliegen der estnischen Bürger:innen, sich selbst und die eigene kleine Nation zu schützen – damit sich Geschichte nicht wiederholt. Das bringt einen Patriotismus zum eigenen Land hervor, der uns in Deutschland aufgrund unserer Vergangenheit befremden mag.

Das Hauptquartier der Kaitseliit ist zentral gelegen. Ein blassgelber Altbau, der das Emblem der Kaitseliit trägt: einen Adler, der in der rechten Kralle ein Schwert, in der linken das estnische Wappen hält. Eisiger Januarwind pfeift um das Gebäude herum, in das eine Steintreppe führt. Rechts liegen die Büros, links der Flaggensaal. In ihm reihen sich zu drei Seiten alle fünfzehn Flaggen der Distrikte auf, in denen sich die Naiskodukaitse über ganz Estland erstreckt.

Nur eine Wand hat keine Flaggen, an ihr hängt goldumrahmt ein Stück Landesgeschichte. „Need, kes vabastasid Isamaa“ ist der Titel des Bildes, zu Deutsch: „Diejenigen, die das Vaterland befreit haben.“ Marschierende Menschen in Uniform, vom Esten ­Maximilian Maksolly mit Öl auf Leinwand gemalt. Es ist eine Szene aus dem Estnischen Freiheitskrieg, in dem die Kaitseliit von 1918 bis 1920 für die Unabhängigkeit von Russland gekämpft und ihren Ursprung hat.

Die Geschichte zu dem Bild hat Elisa oft erzählt. Seit mehr als 17 Jahren ist sie bei der Naiskodukaitse: „Ich habe als Studentin angefangen. Ich wollte draußen im Wald sein. Mich um mein Land kümmern.“ Ihren Abschluss hat die dreifache Mutter in Produktentwicklung an der Taltech, der Technischen Uni­versität in Tallinn, gemacht. Hier kann sie beides verbinden. Wir nennen sie, wie die anderen Frauen in diesem Text, nur beim Vornamen, um sie vor möglichen Repressalien durch Russland zu schützen.

Bewaffnet und für Krisensituationen geschult, kann der Staat die Naiskodukaitse für paramilitärische Aufgaben einsetzen. Obwohl die Einheit nicht zum staatlichen Militär gehört, kann sich jede der Frauen in der Naiskodukaitse als Soldatin ausbilden lassen und als Mitglied der Reservearmee des Militärs dienen. Wer sich anders entscheidet, kann sich in den Bereichen Krisenmanagement, medizinische Versorgung und Katastrophenschutz schulen. Auch das Überleben in der Wildnis, Selbstverteidigung und ein Feuerschutztraining sind Bestandteile der Basisausbildung, die alle absolvieren müssen.

Im militärischen Grundkurs lernen die Frauen, mit verschiedenen Waffen umzugehen, persönliche Tarnkleidung anzulegen und über Funk zu kommunizieren. Alle von ihnen durchlaufen außerdem einen Lehrgang zur Truppenführerin. „Jede hat am Ende schon mal eine Waffe gesehen und angefasst, beherrscht die wichtigsten Schießpositionen“, sagt Elisa. Trotzdem sagt sie auch: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich schießen würde. Technisch kann ich es. Ich weiß, wie man die Waffe hält, wie man sie abfeuert. Vielleicht ist es keine Frage mehr, wenn die Situation da ist. Also, als Mutter würde ich wahrscheinlich schießen.“

Dass so eine Situation schnell zur Realität werden kann, hat Elisa gleich zu ihrer Anfangszeit in der Naiskodukaitse während der sogenannten „Bronzenacht“ erlebt. Die Nacht war für sie ein Schlüsselmoment: Am Abend des 26. April 2007 beginnen in Tallinn die schwersten Unruhen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Grund für die Eskalation ist die Versetzung des Bronzesoldaten im Stadtzentrum Tallinns auf einen Kriegsgefallenenfriedhof außerhalb der Stadt. In der Folge demonstrieren Teile der russischsprachigen Bevölkerung und randalieren in der Innenstadt. Geschäfte werden geplündert und zerstört. Ein Mensch stirbt, 70 Menschen werden verletzt.

Estland ist ein junges Land, seit nicht einmal 34 Jahren ist es wieder unabhängig

Aus russischer Sicht symbolisiert der Bronzesoldat die Befreiung Tallinns von der NS-Herrschaft 1944, für die Es­t:in­nen steht er für den erneuten Verlust ihrer Unabhängigkeit. Zwei ganze Nächte dauern die Unruhen an. „Das war das erste Mal, dass die estnische Regierung an alle Menschen eine SMS verschickt hat: ‚Verhalten Sie sich ruhig! Gehen Sie nicht auf die Straße!‘“, erinnert sich Elisa. „Natürlich wussten sie, wenn die Naiskodukaitse jetzt rausgeht, in Uniform, dann kommt Russland vielleicht mit Panzern.“ Ein bewaffneter Konflikt mit Russland, das wird Elisa in diesem Moment klar, ist nur einen Schritt, eine Entscheidung weit weg. Sie greift sich in ihre dunkelblonden Locken, bindet sie zu einem Zopf zusammen. „Krieg ist nichts, was nur die Sol­da­t:in­nen tun. Krieg beeinflusst alle. Du kannst nicht zu Hause sitzen und deine Blumen gießen, und der Krieg passiert woanders.“

Als 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschieren, sei der Kriegsbeginn für alle ein Schock gewesen, sagt Elisa. Dennoch hätten sie hier immer gewusst, dass es passieren würde. „Wie oft haben wir gehört: Kommt endlich darüber hinweg, das ist nur eine posttraumatische Belastungsstörung. Aber die russische Invasion in die Ukraine hat allen gezeigt, dass wir nicht paranoid sind“, erzählt sie. Manche Nationen änderten sich nicht. „Das ist ein imperialistisch denkendes Land und es wird wahrscheinlich eine ganze Nation brauchen, um Estland zu schützen.“

Daher sei der Krieg in der Ukraine von Beginn an ein Krieg gewesen, der die Menschen in Estland betreffe und auch die Naiskodukaitse verändert habe: „Vor 2022 hatten wir ungefähr 150 neue Mitglieder pro Jahr. Plötzlich hatten wir in nur anderthalb Jahren 1.300 neue Mitglieder.“ Anfang 2025 sind es 4.000. Elisa gibt das Zuversicht. Vorbereitung sei das, was sie jetzt während der Friedenszeit tun könnten. „Vor den Bomben haben die meisten keine Angst. Eine neue Okkupation wäre viel schlimmer.“ Die Rus­s:in­nen, die seien in der Ukraine wie Tiere, höre Elisa die Menschen in Estland immer wieder sagen. „Wir hoffen einfach, dass Russland sieht, dass wir stark genug sind, die Nato stark genug ist und dass sie dann nicht angreifen werden.“

Über 1,3 Milliarden Euro – 3,43 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes – gibt Estland 2024 für die Verteidigung aus. Es liegt damit auf Platz zwei der Nato-Mitgliedsstaaten. Nur Polen liegt mit knapp über vier Prozent vor Estland. Hanno Pevkur, der Verteidigungsminister Estlands, sieht in den hohen Ausgaben die einzige Möglichkeit, eine starke Nato-Ostflanke aufzubauen. „Wir bauen Wege für Kriegsinfrastruktur aus, errichten Panzersperren und Bunkeranlagen an der Grenze zu Russland“, schildert er die Pläne im Herbst 2024 im Interview mit dem Deutschlandfunk.

Gemeinsam mit Lettland und Litauen realisiert Estland die Baltic Defence Line, eine Verteidigungslinie entlang der Grenzen zu Russland und Belarus; 2022 auf dem Nato-Gipfel in Madrid beschlossen, als Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine. Die Bauarbeiten haben inzwischen begonnen. „Die Hoffnung, dass Russland ein demokratisches Land wird, haben wir aufgegeben. Wir haben es 2008 in Georgien gesehen, 2014 auf der Krim und 2022 nun wieder“, sagt Pevkur.

In seiner Stimme liegt Entschlossenheit, wenn er über Estlands Verhältnis zu Russland spricht. „Der Grenzfluss Narva ist für mich immer auch eine Grenze der Zivilisation gewesen. Auf russischer Seite gibt es eine autoritäre Regierung. In Estland haben wir eine freie Gesellschaft. 1991 haben wir uns dazu entschlossen, Teil des ­Westens zu sein.“ Das Baltikum gehört seit 2004 zur Europäischen Union. Alle drei ­Länder treten im gleichen Jahr der Nato bei.

Zurück in den Distrikt Tartu

Die Militärakademie von Tartu, in der die Frauen an diesem Februar das Basistraining absolvieren, liegt am östlichen Ende der Stadt; gegenüber Plattenbauten aus Sowjetzeiten, davor eine Wiese, Birken und Nadelbäume. Ein Kind übt im kalten Wind das Fahrradfahren mit Stützrädern, begleitet von seiner Mutter. Sein Lachen wird vom Wind in die Umgebung getragen. Alltag, der bis an die hohen Zäune der Akademie heranreicht. Auf dem Gelände stehen verschiedene Militärfahrzeuge neben breiten asphaltierten Wegen für Panzerfahrten, große Hallen reihen sich links und rechts entlang der Wege auf.

Eine der Hallen ist eine Sporthalle, sie liegt im hinteren Teil des Geländes. Innen grenzen schwarze und weiße Linien auf dem Hallenboden das Spielfeld ein. Eine weitere Linie trennt das Feld in zwei gleichgroße Hälften. Hier, keine Autostunde von Russland entfernt, wo fast auf den Tag genau vor 105 Jahren der Friedensvertrag von Tartu unterzeichnet und die Ländergrenzen zwischen Estland und Russland festgelegt wurden, wirken sie wie eine politische Allegorie.

Epp steht mit den anderen 23 Frauen im Kreis. Gleich trainieren sie den Nahkampf, eine weitere Station im heutigen Basistraining. Die beiden Kursleiterinnen machen die erste Übung vor. Dann sollen es alle versuchen. Zweier- und Dreiergruppen verteilen sich in der Halle. Epp und ihre Kampfpartnerin Kristiina nehmen Position ein: eine Schulterbreite Abstand zwischen den Füßen, das Körpergewicht auf beide Beine verlagert, die Füße bilden eine Diagonale.

„Krieg ist nichts, was nur die ­Solda­t:innen tun. Er beeinflusst alle“

Elisa, Entwicklungsbeauftragte

Sie bewegen sich in schnellen Vor- und Rückwärtsschritten über die Linien des Hallenbodens hinweg. Mit der geraden Führhand versuchen sie, ihr Gegenüber auf Distanz zu halten. Mit der anderen Hand, der Schlaghand, versuchen sie, die Faust ihres Gegenübers zu treffen. Die meisten hier tragen Leggings und T-Shirt, sind müde von der Woche und kämpfen heute zum ersten Mal. Epp hat triftige Gründe, weshalb sie ihr Wochenende hier verbringt: „Der Ukrainekrieg hat alles wieder konkreter gemacht. Meine Großeltern wurden während der Sowjetzeit nach Sibirien deportiert. Ich will mich nicht von meiner Angst überwältigen lassen, aber dass die Bedrohung da ist, ist klar.“

Die Atmosphäre in der Halle ist konzentriert. Epp und Kristiina sollen jetzt Kraft aus kleinen Bewegungen entwickeln, dabei nah genug an ihr Gegenüber gelangen und gleichzeitig wenig Angriffsfläche bieten, eine Technik für Stresssituationen. „2022 war ich in Deutschland, kurz nach Kriegsbeginn“, sagt Epp. „Da ist mir klar geworden, dass nicht alle dieses Bewusstsein haben. Für viele Deutsche war das viel weiter weg, dass wirklich was passieren kann.“ Sie zielt mit der Schlaghand in Kristiinas Richtung.

Wann fängt ein Krieg an? In gewisser Weise ist er in Estland schon da. Leise, subtil, beinahe unbemerkt ist er zurückgekommen. Nicht im völkerrechtlichen Sinne, es gibt keinen bewaffneten Konflikt. Aber wenn Grenzbojen im Grenzfluss Narva von russischen Grenzschutzbeamten entfernt, immer wieder GPS-Signale im estnischen Luftraum von Russland gestört, Unterseekabel beschädigt und russische Cyberangriffe auf Ministerien in Estland verübt werden – dann sind das Akte einer hybriden Kriegsführung. Dann verwischen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.

Der hybride Krieg ist nicht im internationalen Recht definiert. Die Zustände von Krieg und Frieden aber in ihrer Divergenz aufzulösen, ist ein politisches Machtinstrument, das eine staatliche Ordnung in einen Zustand der Undefiniertheit überführt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterwandert. Fängt man so Krieg an?

Auf einem Schotterplatz neben der Sporthalle findet nun das Brandschutztraining statt. Für Kristiina ist es das erste innerhalb des Basistrainings. Sie spricht Deutsch mit bayerischem Dialekt, war lange in München für das Studium und die Arbeit. Erst vor Kurzem kam sie zurück: „Heimat ist Heimat“, sagt sie. Und weil Heimat Heimat ist, ist sie jetzt in der Naiskodukaitse. „Als ich hier ankam, dachte ich, es sind unruhige Zeiten, also wird es Zeit. Wir kennen die Russen.“ Viele kämen zum Freiwilligenverband, um sich die Angst zu nehmen, sagt Kristiina – sie selbst auch: „Dann weiß ich, was zu tun ist, wenn es so weit ist.“

Ein Brandmeister der örtlichen Feuerwehr zeigt, wie der Feuerlöscher bedient werden muss, auf was es beim Löschen ankommt. Danach sollen es die Frauen selbst versuchen. Kristiina ist die Erste. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand entfernt sie den Sicherheitsstift des Feuerlöschers, platziert sich in Windrichtung, sodass die Flammen nicht in ihre Richtung schlagen. Sie löst die Löschpistole aus der Halterung, zielt in die Glut und verteilt den Löschschaum von unten nach oben stoßweise über das Feuer. Unter zischenden Geräuschen legt sich der Schaum über die Flammen. Innerhalb weniger Sekunden ist nur noch Rauch zu sehen, der mit dem Wind über das Gelände zieht. Kristiina hat das Feuer gelöscht. Die Nächste macht sich bereit.

Es sind unspektakuläre Szenen. Vielleicht, weil das Feuer so klein ist. Vielleicht, weil die Frauen es selbst anzünden. Vielleicht, weil es in Friedenszeiten brennt. Und vielleicht ist die Übung damit Sinnbild für politische Beziehungen zwischen Ländern. Dafür, dass man einen Brand löschen muss, solange er noch kontrollierbar ist.

Elisa und Irina vor einem Stück Landes­geschichte. Das Bild des Malers Maximilian Maksolly zeigt „Diejenigen, die das Vaterland befreit haben“ Foto: Foto:Juli Schulz

Ortswechsel, Distrikt Tallinn

„Auch das wird vorübergehen“, steht da, auf Hebräisch unter den Kirschblüten auf Irinas Unterarm. Sie sagt, das Leben sei sinusförmig. Weil sich alles im Leben schnell ändere, soll man die guten Dinge genießen. Manchmal vergesse sie das, deshalb die Tattoos. Irina ist in Moskau aufgewachsen, hat dort gelebt und als Intensivpflegekraft gearbeitet, bis sie vor 13 Jahren nach Estland kam.

Nachdem sie einen Master in Psycho­logie abgeschlossen hat und Putin 2012 wieder Präsident wird, fasst Irina einen Entschluss: „Ich wollte gehen, um in Estland noch mal Design zu studieren. Aber ich wollte auch weg aus Russland, das war eine Entscheidung für mich. Als ich an der Kunstakademie angenommen wurde, war klar, ich konnte hier leben und arbeiten.“

Seitdem wohnt die 43-Jährige in Tallinn. Sie trägt ihre dunkelblonden Haare kurz, hat einen Sohn und eine jüngere Tochter, die sie allein großzieht. Die Tochter ist in Estland geboren – in eine Realität, die Irina sich erst erschließen musste: „Erst als ich hier ankam, verstand ich so richtig, dass die Sowjetzeit für Estland eine Geschichte der Okkupation war. Ich hatte einen estnischen Freund zu der Zeit, mit dem ich viel geredet habe, und ich habe angefangen, mich genauer mit der estnischen Geschichte zu beschäftigen.“

Für Irina hat das den Blick auf ihre Heimat verändert. Es sei schwer für sie, Kontakt zu ihrer Familie und zu den Verwandten zu halten, weil Putins Propaganda sie abschotte. Mit der russischen Invasion in die Ukraine sei es noch schwieriger geworden. Irina vertritt eine klare Position: „Ich hoffe immer noch, dass der Krieg in der Ukraine bald endet, auch wenn ich nicht weiß wie. Ich hoffe, dass Amerika die Ukraine nicht in eine Verliererposition drängen wird.“

2024 entschied sie sich, zur Naiskodukaitse zu gehen. Die Grundausbildung hat sie schon abgeschlossen. „Die meisten brauchen zwei Jahre“, berichtet sie. Irina hat es in weniger als der Hälfte der Zeit geschafft. Die russische Invasion in die Ukraine habe ihr Angst gemacht: „Ich habe eine elfjährige Tochter. Für sie wollte ich die Grundausbildung schnell zu Ende bringen. Ich will vorbereitet sein.“ Irinas Blick ist ernst und konzentriert. Sie spricht bedacht, wählt ihre Worte behutsam.

Wenn sie kommen, sagt sie, dann gebe es ohnehin keinen Ort, an den du gehen kannst, dann musst du bleiben und wissen, was zu tun ist. „Ich habe zuerst das Soldatinnen-Modul absolviert. Das war eine Herausforderung für mich“, sagt sie. „Einmal haben wir drei Tage im Wald verbracht. Das waren körperlich anstrengende Tage und ich musste mich zusammenreißen, alle Aufgaben in der vorgegebenen Zeit richtig auszuführen. Ich habe in diesen Tagen verstanden, wie hart das Soldatinnendasein ist.“

„Ich bin nicht so weit, an die Front zu gehen, aber es wird konkreter“

Ave, zuständig für militärische Ausrüstung

Eines von Irinias Vorbildern sei immer Sarah Connor gewesen, die Prota­gonistin aus den Terminator-Filmen. In ihnen kämpft Sarah Connor gegen das Superintelligenzsystem „Skynet“, das 2029 die Welt durch einen Atomkrieg zerstört, indem es das Verteidigungssystem der USA kontrolliert und einen militärischen Angriff auf Russland initiiert.

Vor einiger Zeit hat Irina die estnische Staatsbürgerschaft angenommen und noch einen Master in Gesundheitswissenschaften draufgesattelt. Ihr Vater hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Irina will weitermachen, arbeitet freiberuflich als Designerin und leitet eine Intensivstation in einem Tallinner Krankenhaus. Bald wird sie auch die Kurse für die medizinische Ausbildung in der Naiskodukaitse leiten.

Distrikt Pärnu, 230 ­Mitglieder

Ein Februartag im Seebad Pärnu, der Sommerhauptstadt Estlands. Es sind fünf Grad, ein paar Menschen baden trotzdem im Meer. Über dem Strand kreisen die Möwen, ihre Rufe hallen bis in die Stadtmitte. Hinter Hotelanlagen und dem Rannapark bricht der Strand ab. Der Himmel ist grau und Pärnu bunt. Zwischen den roten, grünen und gelben Holzhäusern stadteinwärts kann man immer noch den Ostseewind spüren.

Schräg gegenüber vom Busbahnhof wird Estland am 23. Februar 1918 um acht Uhr abends unabhängig. Dort, vom Balkon des Theaters Endla wird das „Manifest kõigile Eestimaa rahvastele“, das „Manifest an alle Völker Estlands“, verlesen, die Unabhängigkeitserklärung vom Russischen Reich, die Gründungsurkunde der Republik Estland. Erst einen Tag später findet die Verkündung in Tallinn statt.

Das Holzhaus der Kaitseliit steht keine 300 Meter von hier. Es ist beige wie der Strand, bis auf die dunkelbraunen Verzierungen an Fassade und Fenstern. Innen knarzt der Holzboden. Ave und Pille haben gerade einen Kurs über Funkkommunikation für die Naiskodukaitse vorbereitet.

Frau der Naiskodukaitse bei einem Schießtraining Foto: Naiskodukaitse

Ave ist schon länger dabei, die Vierzigjährige hat als Studentin der Aquakultur in Tartu angefangen. Sie sagt, es sei ein paradoxer Zustand, sich auf eine mögliche Realität vorzubereiten, die vielleicht nie eintrete: „Neulich haben wir trainiert, starke Blutungen zu stillen. Blutungen, für die ein Pflaster nicht reicht. Da waren auch zwei Frauen aus der Ukraine dabei. Für die war das viel realer. Und hier wirst du erschossen, fällst zu Boden und stehst wieder auf. Aber so funktioniert das im echten Leben nicht.“ Inzwischen ist Ave bei der Kaitseliit angestellt und dafür zuständig, die militärische Ausrüstung zu organisieren und zu verwalten. In der Naiskodukaitse ist sie im Evakuierungsteam. Ave hat zwei Söhne, dreizehn und sechzehn Jahre alt.

2022 war die Realität fast in Pärnu und ist dann doch weiter nach Tallinn gefahren. Damals sollten die ersten ukrainischen Geflüchteten nach Pärnu kommen. Vor Ort haben alle mit angepackt: Zelte und Betten aufgestellt, psychologische Unterstützung organisiert, Medikamente besorgt und Essen für Hunderte gekocht. Innerhalb weniger Stunden haben sie ein ganzes Evakuierungslager aufgebaut. „Alles stand bereit, und dann gab es die Anweisung, dass die Busse direkt nach Tallinn weiterfahren sollten“, erzählt Pille.

Die zweifache Mutter ist Kindergärtnerin, hat einen Abschluss in Pädagogik. Seit gut zwei Jahren ist Pille bei der Naiskodukaitse, die jüngere ist gerade drei geworden. „Wenn du hier viel machen willst, brauchst du jemanden, der sich zu Hause um alles kümmert“, sagt sie. „Manche von uns würden gerne öfter kommen, aber schaffen es nicht.“ Pille glaubt man sofort, dass sie die Kinder und die Naiskodukaitse unter einen Hut bekommt. Nur, wenn der Ernstfall mit Russland einträte, wüsste sie auch nicht genau, wie sie handeln würde: „Wir haben hier eine Mission, aber ich fühle mich meiner Familie verpflichtet. Ich will gehen, aber gleichzeitig bleiben. Vielleicht ist das etwas Weibliches, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, es wäre für die Männer leichter, an die Front zu gehen.“

Die Unabhängigkeit hielt in Estland immer nur übergangsweise. Nach dem Krieg war vor dem Krieg. Das Theater Endla, in dem Estland 1918 seine Unabhängigkeit verkündet, brennt 1944 im Zweiten Weltkrieg ab; vier Jahre, nachdem Estland erneut seine Unabhängigkeit an Russland verlor. Jetzt steht hier ein Hotel.

„Ich bin nicht so weit, an die Front zu gehen“, sagt Ave, „aber es wird konkreter. Du musst es nehmen, wie es kommt.“

Den Krieg nehmen, wie er kommt – vielleicht ist das etwas Estnisches.

Juli Schulz ist freie Journalistin und berichtet seit 2022 immer wieder über Estland. Zuletzt war sie Stipendiatin der Internationalen Journalisten­programme (IJP) in Tallinn.

Quelle: Kaitseliit

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Quelle: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung

Quelle: ­Bundeszentrale für politische Bildung

Quelle: Estnisches Verteidigungsministerium, 2024

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