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Fatalismus ist keine Option

Wir klagten schon, dass alles schlimmer werde, als noch vieles besser wurde. Was machen wir jetzt, da wirklich vieles auf dem Spiel steht? Es ist Zeit für einen Aufbruch des Pragmatismus

Illustration: Katja Gendikova

Von Peter Unfried

Das Angenehme an der adornitischen Kultur von unsereins war, dass man – Moderne hin oder her – leider nichts Richtiges machen kann im grundsätzlich Falschen. Und trotzdem lustig leben kann mit dem billigen US-amerikanischen Schutz, dem billigen russischen Gas, dem Exportweltmeistertum. So heulten wir in den vergangenen Jahrzehnten munter, dass alles immer schlimmer werde, während vieles immer besser wurde. Vor allem war vielen nicht bewusst, dass die EU den Nationalismus gebändigt und die Demokratie auch in Mittel- und Osteuropa gefestigt hatte. Beispielsweise spricht niemand von der Rechtsstaatlichkeit und Stabilität der baltischen Länder, Ungarn fällt deshalb so aus dem Rahmen, weil es „normal“ geworden ist, dass demokratische Standards gelten, oder, wie in Polen, wiederhergestellt werden können.

Nun stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt, da wirklich vieles schlechter zu werden droht, die genannten Grundlagen wegfallen, die Erderhitzung auf drei Grad zusteuert und die Krisen sich kumulieren? Das Übliche: ein bisschen demonstrieren, lauter klagen, wie schlimm alles ist, lauter heulen als nach Trumps erster Wahl oder aber die Augen schließen aus Fatalismus oder Wut? Ganz verzweifeln? Die in Polen lebende Publizistin Anne Applebaum hat etwas gesagt, das ich gern ein paar Jahre früher verstanden hätte: „Sie und ich gehören zu den privilegiertesten Menschen auf dem Planeten. Wir haben nicht nur das Recht auf freie Meinungsäußerung, wir können es auch ausüben, wir können politisch engagierte Bürger sein. Es ist absurd, wenn Leute wie wir darüber nachdenken, zu verzweifeln oder aufzugeben.“

Das ist die Grundlage und letztlich der Segen und Fluch der Aufklärung. Gott ist tot, der König ohne Kopf, Adorno – no offense – hat es nicht ins 21. Jahrhundert geschafft: Freie Bürger können ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen und gestalten, aber sie müssen es jetzt auch anpacken, wenn sie frei bleiben wollen. Ob das tatsächlich noch funktioniert, weiß man nicht, aber wenn man es nicht versucht, klappt es ganz sicher nicht. Jetzt ist Crunchtime, die alles entscheidende Phase, in der sich herausstellt, ob man gewinnt oder verliert.

Schön und gut, aber wie soll das gehen, wenn man auf bestimmte Dinge selbst als Nationalstaat keinen direkten Zugriff hat, etwa die Erderhitzung und die Folgen der globalisierten Ökonomie? Der wichtigste Schritt, weil Voraussetzung für alles andere, ist, dass man „das“ „schaffen“ will. Also den berühmten Peptalk-Satz Angela Merkels „Wir schaffen das“ nicht als Zumutung verstehen, sondern als einzig erfolgversprechende Haltung. „Wir schaffen das sowieso nicht“, ein bisschen moralisch oder ironisch gewürzt, ist sicher bequemer und wäre in meinem persönlichen Fall konsequent, aber ich habe darauf überhaupt keine Lust mehr, das kann ja jeder.

Der nächste Schritt ist die Klärung der berechtigten Frage: Wer ist „wir“? Man könnte sagen: die Weltgesellschaft. Oder alle Menschen und Tiere. Naheliegend ist der Nationalstaat, aber ich würde die Europäische Union nehmen. Im engeren Sinne könnte dann „wir“ zunächst einmal die Leute meinen, die kulturell aufbruchsbereit und ökonomisch aufbruchsfähig sind, Leute, die sich selbst etwas abverlangen können, wenn sie das wollen. Gemäßigte Progressiv-Konservative, die bewahren wollen, was gut läuft, aber auch bereit sind, zu ändern, was nicht mehr funktioniert. Das ist eben nicht begrenzt auf Berlin, Bayern oder die Bundesrepublik. Unsere Demokratie ist europäisch, auch wenn es vielen schwerfällt, das zu denken. Verteidigung, Klimaschutz, Demokratie und Rechtsstaat: auf der EU-Ebene liegen größere Chancen und Risiken als im Nationalen.

Wer sich selbst realistisch sieht, weiß, dass die Erwartungen nicht zu hoch sein dürfen, deshalb nenne ich uns „bedingt aufbruchsbereit“. Jetzt kann man einwenden, dass diese Leute allenfalls 30 Prozent ausmachen und nie eine demokratische Mehrheit bilden werden. Werden sie auch nicht, aber von ihrer starken Präsenz hängen die Zukunftspolitik der Regierungen und die gesellschaftliche Dynamik ab.

Der dritte, ungleich schwerere Schritt ist die Definition des „das“. Also die Klärung der Dinge, um die es prioritär geht und die Rahmenkultur, mit der man sie anstrebt. Es ist nicht hilfreich, wenn in diesen Tagen jeweils anders tickenden Liberaldemokraten der „Anstand“, die „sittliche Reife“ und so weiter abgesprochen wird. Das ist ein hilfloser Versuch, der Komplexität der Gegenwart durch Charakterzuschreibungen auszuweichen.

Genauso wenig hilfreich ist die fiktive Wiederherstellung klassischer Lager. Hier „bürgerlich“, da „links“, hier schwarz-gelb, da grün-rot. Die entscheidende Differenz liegt zwischen dem Lager innerhalb der liberalen Demokratie und dem außerhalb. Es sind die Rechtsradikalen und Rechtspopulisten, die in Lagern denken und Feindschaft in die Politik tragen. Das ist Orbán in Ungarn gelungen, hat die PiS in Polen praktiziert, und nach diesem Muster verfahren Wilders in den Niederlanden und Meloni in Italien.

Klar, das klingt angenehm simpel: hier mehr Staat, da mehr Markt, hier mehr Moral, da weniger Moral, hier mehr Gängelung, da mehr Freiheit, hier unmenschlicher Sozialismus, da unmenschlicher Neoliberalismus. Aber dieser innerdemokratische Entweder-oder-Dualismus bringt keine Lösung offener Probleme. Schon gar nicht taugt der Versuch, ein Lager der Guten auf moralischer Überlegenheit und einer als progressiv etikettierten Flüchtlingspolitik zu gründen, dem ein empathieloses konservatives gegenübersteht. In den Niederlanden führte das zu einer unheilvollen Allianz von Mitte-rechts und radikal rechts.

Wenn die liberale Demokratie sich weiter gegen die Fantasie einer Befreiung durch Aufgehen in der gehorchenden Masse durchsetzen will, kann die nächste Bundesregierung eben nicht ein Entweder-oder sein, sondern muss politische Innovation und gute Kompromisse deutlich besser entwickeln, als es Scholz, Habeck und Lindner hinbekommen haben.

Die Frage, ob die nächste Regierung Markt oder Staat geil findet, ist nicht hilfreich. Wichtig ist, wie sie beides politisch zusammenbringt. Eine erfolgreiche Wirtschaft braucht nicht nur – aus Kosten- und Wettbewerbsgründen – eine postfossile Grundlage, sondern auch eine intelligente Politik, die beides balanciert und den Markt durch staatlichen Eingriff dynamisiert.

Foto: Anja Weber

Peter Unfried

ist Chefreporter der taz sowie Chefredakteur der taz FUTURZWEI.

Entscheidende Dinge sind weder in Union noch in SPD ansatzweise vertreten. Die postfossile Wirtschafts- und Klimapolitik wird mit beiden schwer und bei einer Koalition vermutlich unmöglich. In der Ukraine-Russland-Frage geht es eben nicht um „Pazifismus“, „Besonnenheit“ oder „Kriegstreiberei“. Es geht um die Entwicklung europäischer Geopolitik, um Europas Zukunft, um Investitionen in die europäische Verteidigungsfähigkeit sowie um die heikle damit verbundene Frage, was eine Prioritätenänderung jenseits von „Sondervermögen“ speziell für den Sozialstaat bedeutet. Wenn die SPD etwa mitregiert, rückt Putin näher, als wenn die Grünen mitregieren, sagt der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter. Das sind die Dinge, die man bedenken muss, auch in anderen Bereichen, und die sich jenseits von links-rechts abspielen.

Die Bundesrepublik und die Europäische Union mit all ihren Annehmlichkeiten wird als „normal“, ja sogar als Menschenminimalrecht verstanden und nicht als positivste Ausnahme der Weltgeschichte. Doch wie ein älter werdender Mensch sind EU und Bundesrepublik nun in einer Phase, in der sie sich eingestehen müssen, dass sich nicht mehr alles von selbst schön weiter entwickeln wird. Es ist Zeit, harte Bilanz zu ziehen und sich dabei auch von manch großem moralischen Anspruch zu verabschieden, für den es keine reale Welt und konkrete Methode gibt („globale Gerechtigkeit“, „1,5-Grad-Ziel“, „Antikapitalismus“).

Es ist Zeit, harte Bilanz zu ziehen und sich von manch großem moralischen Anspruch zu verabschieden, für den es keine reale Welt und konkrete Methode gibt

Das ist keine Resignation, sondern das Gegenteil: Eine Aktivierung der Kräfte und der Kultur auf sehr ambitionierte, aber im Rahmen unserer politischen Institutionen, des gesellschaftlichen Engagements und des individuellen Arsch-hoch-Kriegens erreichbare Ziele: ein gemeinsames Europa mit starker, postfossiler Wirtschaft bei Bewahrung der liberal-emanzipatorischen Errungenschaften. Aber eben auch Stadtteilengagement, Jugendtrainer-Job, Wärmepumpe und Balkonkraftwerk. Ich verstehe, wenn man immer noch versucht ist, zu stöhnen, dass das doch alles nichts bringt, wenn die Chinesen und so weiter nicht mitmachen. Aber es stimmt eben nicht. Mit einem Balkonkraftwerk produziert man Strom selbst und emissionsfrei, und das bringt was. Und als Jugendtrainer kann man jungen Leuten im Idealfall viel mehr als Laufwege zeigen.

Aber bevor ich jetzt ins Rührselige kippe, will ich zu meinem Punkt zurückkommen: Mit Apokalypsen und Fatalismus kann man die großen Probleme nicht bewältigen, mit messerscharfer Kritik allein auch nicht. Mit paternalistischer Politik, wie sie SPD und CDU traditionell anbieten, auch nicht mehr. Mit autoritärer Politik sowieso nicht. Mit Entweder-oder nicht, mit „Machtworten“ nicht, mit Gut-böse- und Links-rechts-Denken nicht. Es geht nur, indem man sich mit einer positiven Grundhaltung neu auf die Komplexität und die Widersprüchlichkeit der Realität einlässt und einen produktiven Umgang damit findet.

Wir brauchen liberaldemokratische Mehrheiten für eine neue Prioritätenpolitik, und die gibt es nur durch Kompromisse. National, europäisch, global, meinetwegen auch (Hey, Elon!) interplanetar. Das ist nicht a priori schlecht, sondern nur, wenn wir es nicht gut machen.

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